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Kaiserreich (1871-1918) | Jüdisches Leben in Deutschland vor 1945 | bpb.de

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Kaiserreich (1871-1918)

Miriam Rürup

/ 4 Minuten zu lesen

Mit der Reichsgründung 1871 ist die jüdische Minderheit gesetzlich gleichgestellt. Parallel verschärft sich der Antisemitismus, dem die Betroffenen ein vielfältiges Vereinsleben entgegensetzen.

Aufgrund der Industrialisierung setzte im 19. Jahrhundert ein fundamentaler gesellschaftlicher Wandel ein. Dieser verstärkte sich im Gefolge der Reichsgründung. Die bereits zuvor begonnene Landflucht verstärkt1e sich, da sich in den Städten neue wirtschaftliche und berufliche Perspektiven boten. Die jüdische Minderheit war mobiler im Vergleich zur Gesamtbevölkerung und konzentrierte sich fortan verstärkt in einigen regionalen Zentren.

Die Hälfte aller in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden siedelten in Preußen, nach den Gebietsvergrößerungen aus dem Jahr 1866 waren es sogar 62 Prozent. Ein Fünftel lebte in Bayern. Um 1870 lebten die deutschen Jüdinnen und Juden in etwa 2000, vor allem kleineren Gemeinden sowie in vier Großgemeinden mit über 2000 Mitgliedern. Etwa zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung gehörten ab dem Kaiserreich zum vor allem städtischen Bürgertum.

Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in den deutschen Staaten 1852-1871. (© Uriel O. Schmelz)

Antijüdische Einstellungen blieben im Kaiserreich nicht nur bestehen, sondern erfuhren eine dramatische politische Verschärfung: Zum christlichen Antijudaismus kamen nun der politische und der rassistisch geprägte Antisemitismus hinzu. Ausgerechnet im Jahrzehnt nach der reichsweiten gesetzlichen Gleichstellung der deutschen Juden, die ab der Reichseinigung 1871 galt, brachte der Journalist und Mitbegründer der "Antisemiten-Liga" Wilhelm Marr (1819–1904) im Jahr 1879 den Begriff des Antisemitismus in Umlauf. In diesem neuen Verständnis nicht-religiöser Judenfeindschaft konnten Jüdinnen und Juden ihr Judentum nunmehr nicht mehr durch den Übertritt zum Christentum hinter sich lassen. Der Antisemitismus kann somit auch als Antwort auf die jüdische Emanzipation gelesen werden: Je mehr Juden sich in die "allgemeine" Gesellschaft integrierten, desto bedrohlicher schien der "jüdische Geist" einigen Judenhassern zu werden.

Zwei Personen trugen maßgeblich zur Radikalisierung und Verbreitung des Antisemitismus bei: der preußische Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909) und der Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896). Stöcker gründete 1878 die erste antisemitische Partei unter dem Namen Christlich-Soziale Arbeiterpartei. Treitschke beklagte in den preußischen Jahrbüchern die zunehmende Macht der Juden und äußerte den berüchtigten und von den Nationalsozialisten später vielfach aufgegriffenen Satz: "Die Juden sind unser Unglück".

Dies hatte die Gründung etlicher antisemitischer Gruppen und Initiativen auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen zur Folge. Der Antisemitismus war nicht nur salonfähig, sondern wurde ein Massenphänomen. Hinzu kamen ab den 1890er-Jahren rassistische und völkische Vorstellungen vom Judentum. Der Antisemitismus als modernes Phänomen wurde somit zu einer Geisteshaltung der Anti-Moderne. Diese gesellschaftliche Verbreitung der antisemitischen Grundhaltung im Alltag und jenseits politischer Organisierung wird auch als "kultureller Code" (so die israelische Historikerin Shulamit Volkov) bezeichnet.

Turner des jüdischen Turn- und Sportvereins Bar Kochba 1902. Dieser wurde 1898 als erster jüdischer Sportverein im deutschen Kaiserreich gegründet. (© bpk)

Und doch war das Kaiserreich für die deutsch-jüdische Minderheit eine Epoche des sozialen Aufstiegs und der weiteren Ausdifferenzierung jüdischer Lebenswelten. Es gründeten sich jüdische Organisationen und Vereine in allen Lebensbereichen – so etwa 1904 der Jüdische Frauenbund, der sich für bessere Bildungschancen und berufliche Möglichkeiten für Frauen einsetzte, oder der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), der 1893 entstand und sich aktiv gegen antisemitische Anwürfe engagierte. Dazu kamen Bibliotheken und Lesehallen, Turnvereine und sogar Studentenverbindungen. Ihnen allen war in unterschiedlichem Maße gemein, dass sie das Selbstbewusstsein der jüdischen Mitglieder stärken wollten.

Ende des 19. Jahrhunderts betrat eine neue Bewegung die politische Bühne: der politische Zionismus. Aus der älteren, religiösen Vorstellung der Rückkehr nach Zion (Jerusalem) entwickelten sich vor allem im Osten Europas verschiedene kulturelle, religiöse und sozialistische zionistische Strömungen, die davon träumten, eine jüdische "Heimstatt" in Palästina zu gründen. Mit dem Ersten Zionistenkongress in Basel 1897, der auf Anregung des Publizisten Theodor Herzl (1860–1904) zustande kam, nahm das Vorhaben konkrete Formen an. Der politische Zionismus etablierte sich zunehmend als Institution. In Deutschland wurde er zwar nie zu einer Massenbewegung, doch zahlreiche der zionistischen Vordenker und Akteure stammten aus dem deutsch-jüdischen Milieu, wie etwa Kurt Blumenfeld, Martin Buber oder Otto Warburg.

Jüdische Männer zogen überproportional zu ihrem Bevölkerungsanteil auf Seiten Deutschlands in den Ersten Weltkrieg – auch um ihr Zugehörigkeitsgefühl und ihre Loyalität zu dokumentieren. Militärgottesdienst an Jom Kippur 1915 in der Brüsseler Synagoge (© bpk /Samson Cie)

Im Kaiserreich wuchs die Bevölkerung an und mit ihr natürlich auch die zu ihr gehörende jüdische Minderheit. Allerdings war deren Zuwachs auch auf Einwanderung aus dem Osten Europas zurückzuführen. Von dort und den preußischen Ostprovinzen wanderte die jüdische Bevölkerung nicht nur infolge starker Armut und der schlechten Wirtschaftslage ab, sondern auch in Reaktion auf antijüdische Ausschreitungen seit den 1880er-Jahren. Bis 1910 wanderten in das gesamte Deutsche Kaiserreich rund 70.000 Juden aus Osteuropa ein. Die meisten von ihnen ließen sich in den großen Städten Preußens, Sachsens und Bayerns nieder.

Die allgemein herrschende gesellschaftliche Ungleichheit motiviert auch viele jüdische Intellektuelle, sich für die Revolution zu engagieren. Sitzung des Spartakusbundes im Herbst 1918 mit Rosa Luxemburg (3.v.r.), Karl Liebknecht (4.v.r.), Leo Jogiches (1.v.l.), Eugen Leviné (2.v.l.) (© ullstein bild - ullstein bild)

Viele dieser ostjüdischen Einwanderer stammten aus dem zaristischen Russland, das wegen seiner antisemitischen Gesetzgebung als einer der Hauptfeinde der Juden galt. Dies trug vermutlich dazu bei, dass ein Großteil der jüdischen Minderheit den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in dem das Deutsche Kaiserreich auch gegen Russland kämpfte, erwartungsvoll begrüßte. Nicht zuletzt erhofften sie sich, dass auf den vom Kaiser verkündeten "Burgfrieden", durch den innenpolitische Konflikte zurückgestellt werden sollten, verbunden mit der im Krieg bewiesenen Loyalität endlich auch die lang ersehnte gesellschaftliche Anerkennung folgen würde. Und so meldeten sich junge Juden vergleichsweise häufig freiwillig zur Kriegsteilnahme. Doch nur zwei Jahre nach Kriegsbeginn sollte diese anfängliche Begeisterung für den gemeinsamen Feldzug aller Deutschen einen herben Schlag erfahren: Im Herbst 1916 erwirkten konservative Kreise eine sogenannte Judenzählung. Mit dieser sollte der Anteil der kämpfenden Juden statistisch ermittelt werden. Tatsächlich förderte sie zutage, dass Juden überproportional zu ihrem Bevölkerungsanteil als Soldaten in der deutschen Armee kämpften. Gesellschaftlich wahrgenommen wurde dieses Ergebnis jedoch nicht. Die Tatsache, dass die jüdische militärische Beteiligung überhaupt auf den Prüfstand gestellt worden war, war ein schwerer Rückschlag für jegliche Hoffnung auf gesellschaftliche Akzeptanz.

Doch mit Kriegsende und Novemberrevolution gab es neue Hoffnung für die jüdische Minderheit. Als Mitglieder der sozialdemokratischen, liberalen und kommunistischen Parteien beteiligten sich auch Jüdinnen und Juden an den Auseinandersetzungen der Revolutionszeit in der Erwartung, die gesellschaftliche Ungleichheit überwinden zu können. Und doch gingen die frühen Nachkriegsjahre auch mit einer neuen Welle des Antisemitismus einher.

Prof. Dr. Miriam Rürup ist Historikerin und seit Dezember 2020 Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien und Professorin an der Universität Potsdam.

Im Rahmen ihrer außeruniversitären Tätigkeiten ist sie Mitherausgeberin der Fachzeitschriften WerkstattGeschichte (seit 2002), Aschkenas (seit 2013) und des Leo Baeck Year Book (seit 2014) sowie der Online-Quellenedition "Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte". Außerdem ist sie als Fachredakteurin für Jüdische Geschichte beim Internetforum H-Soz-Kult tätig. Seit Januar 2020 ist sie Vorsitzende der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo-Baeck-Instituts in Deutschland.

Zu ihren Forschungsinteressen zählen die deutsch-jüdische Geschichte, Zeitgeschichte (insbesondere die Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus) sowie Migrations- und Geschlechtergeschichte. Fussnoten