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"Die Mauer fiel uns auf den Kopf." Arbeitswelten von Türkeistämmigen und die Berliner Wiedervereinigung
Stefan Zeppenfeld
/ 8 Minuten zu lesen
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Die Geschichte der Berliner Mauer und des türkischen Berlins sind eng miteinander verbunden. Der Mauerbau trug zur Arbeitsmigration aus der Türkei bei, ihr Fall brachte auch die über nahezu 30 Jahre gewachsenen Strukturen West-Berlins ins Wanken. Der Text spürt der Geschichte türkisch geprägter Arbeitswelten im geteilten Berlin nach.
Als die DDR-Regierung am 13. August 1961 die Berliner Mauer errichten ließ, lebten in West-Berlin kaum mehr als 200 türkische Staatsangehörige. Von Berlin als einer "türkischen Metropole" kann zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede sein. Zehn Jahre später allerdings, 1971, lebten bereits 50.000 Türkeistämmige in West-Berlin, und noch einmal zehn Jahre später, 1981, fast 120.000.
Wie war es zu dieser Entwicklung gekommen? Die plötzlich errichtete Mauer versperrte tausenden Ost-Berliner Berufspendler*innen (den sogenannten "Grenzgängern") den Arbeitsweg in West-Berliner Betriebe. Das stellte die Wirtschaft der Halbstadt vor enorme personelle Probleme, denn das viel zitierte "Wirtschaftswunder" hatte auch hier zur faktischen Vollbeschäftigung geführt.
Arbeitsmigration keine unmittelbare Reaktion auf Mauerbau
Die zeitliche Nähe des Mauerbaus zum Tag des Interner Link: deutsch-türkischen Anwerbeabkommens, das am 30. Oktober 1961 in Kraft trat, bedingt den sich hartnäckig haltenden Trugschluss, die türkische "Gastarbeit" sei eine unmittelbare Reaktion auf die Teilung gewesen. Tatsächlich aber hatte das Abkommen eine lange diplomatische Vorgeschichte.
Ohnehin sollte die Arbeitsmigration in West-Berlin erst später zum Tragen kommen: Formell galten die Anwerbeabkommen für West-Berlin erst ab 1963/64, die West-Berliner Unternehmen nutzten die Möglichkeit der Anwerbungen sogar erst ab 1968 massiv. Zuvor hatten große West-Berliner Betriebe andere Strategien verfolgt. Siemens, der wichtigste Arbeitgeber West-Berlins, griff erst auf "Gastarbeiter" zurück, als klargeworden war, dass etwa West-Berliner Frauen und Westdeutsche den Arbeitskräftebedarf nicht würden decken können. Der Mauerbau war also nicht unmittelbarer Auslöser der türkischen Migration nach West-Berlin. Dennoch trug die Mauer selbst dazu bei, dass sich West-Berlin zu einer "türkischen Metropole" entwickeln würde.
Arbeitswelten Türkeistämmiger in West-Berlin
In den rund zwei Jahrzehnten zwischen dem "Anwerbeboom" 1968 und dem Fall der Berliner Mauer 1989 gestalteten und etablierten die "Gastarbeiter" aus der Türkei neue Arbeitswelten. Ihre Tätigkeiten beschränkten sich schon bald nicht mehr auf die industrielle Fertigung (Sekundärsektor), sondern verschoben sich vor allem in den Dienstleistungsbereich (Tertiärsektor).
Die großen Firmen wie Siemens oder AEG-Telefunken beschäftigten zwar weiterhin zahlreiche Arbeitsmigrant*innen, vor allem in der Fertigung, doch die Entwicklungen in anderen Branchen waren vielfältig. So konnten sich Türkeistämmige nach einigen Jahren des Aufenthalts selbstständig machen und Geschäfte eröffnen, was das Waren- und vor allem das Lebensmittel- und gastronomische Angebot in der Stadt stark veränderte.
Deutlich werden die Karrierewege im Dienstleistungssektor auch bei näherer Betrachtung des öffentlichen Dienstes: Die Berliner Stadtreinigung (BSR) und die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) beschäftigten bereits Ende der 1960er Jahre "Gastarbeiter" aus der Türkei, obwohl die Unternehmen nie selbst aktiv Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben hatten. Im Laufe der 1970er Jahre suchten Berliner Behörden unter den Arbeitsmigrant*innen in der Industrie gezielt nach Erzieher*innen, Lehrer*innen oder Pflegekräften. Da die Behörden im Zuge der Anwerbung die gelernten Berufe der "Gastarbeiter" nicht erfasst hatten, gestaltete sich dieses Projekt äußerst schwierig. An den Schulen machte sich der Wandel der Arbeitswelten deutlich bemerkbar. 1974 schätzte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) die Zahl der türkeistämmigen ausgebildeten Lehrkräfte unter den "Gastarbeitern" in der West-Berliner Industrie auf etwa 300. Nicht einmal zehn Jahre später Jahre unterrichteten 180 nicht-deutsche Lehrkräfte in Berliner Klassenräumen, um die Sprachbarriere zwischen eingewanderten Kindern und deutschem Lehrpersonal zu überbrücken. Vo den etwa 16.500 West-Berliner Lehrkräften machten sie nur einen kleinen Teil aus. Dennoch hatte sich das Klassenzimmer auch zu einer Arbeitswelt für West-Berlinerinnen und -Berliner türkischer Herkunft entwickelt.
Türkeistämmige erschlossen spätestens in den 1980er Jahren weitere Berufsfelder mit hohem sozialem Renommee. Die Berliner Polizei öffnete sich für eingebürgerte Zugewanderte und bildete ab 1979 einen Schutzpolizisten und ab 1981 eine Kriminalkommissarin mit Einwanderungsgeschichte aus der Türkei aus. Ab Mitte der 1980er Jahre schlossen zudem viele Kinder der "Gastarbeiter" erfolgreich ihr Studium ab. So etablierte sich um 1990 beispielsweise eine Branche von türkeistämmigen Rechtsanwält*innen.
Die Arbeitswelten und Berufsbilder der türkeistämmigen Berliner*innen hatten sich seit ihren Anfängen damit Schritt für Schritt denen der deutschen Mehrheitsgesellschaft angenähert.
Arbeitsalltag verschlechterte sich mit Wiedervereinigung
Der Mauerfall im November 1989 änderte das Leben in Berlin schlagartig – und brachte auch die Arbeitswelten von Türkeistämmigen in Bewegung. Für viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte aus der Türkei bedeutete die Wiedervereinigung eine Verschlechterung ihrer Lebensrealität und ihres Arbeitsalltags.
Ost-Berliner*innen stand der Arbeitsmarkt im Westen nun wieder offen. In der Transformationsphase, den Jahren der Wiedervereinigung, verpuffte jedoch ein kurzfristiger "Wende-Aufschwung" in West-Berlin schnell. Dann schrumpfte beispielsweise auch bei Siemens die Gesamtbelegschaft gemessen am Jahr 1989 deutlich (minus 6 Prozent); allerdings nicht annähernd so stark wie der Anteil der ausländischen Belegschaft (minus 38 Prozent). Vor allem Frauen mit Einwanderungsgeschichte aus der Türkei waren von Entlassungen betroffen: Zwischen Herbst 1990 und Winter 1993 halbierte sich ihre Zahl im Betrieb. Hinsichtlich ihrer Perspektive im Großbetrieb gehören sie in West-Berlin zu den größten "Wendeverlierern".
Die großen Firmen setzten neue Prioritäten. In den Siemens-Sozialberichten hatte die "Ausländerbeschäftigung" über Jahrzehnte hinweg ihren festen Platz gehabt. 1993 entfiel diese Rubrik, stattdessen informierten fortan Statistiken über Werke in den neuen Bundesländern. Einige türkeistämmige Berliner*innen bemühten sich um Arbeit im einstigen Ostteil der Stadt. Nach den Anschlägen von Hoyerswerda 1991 sowie Rostock-Lichtenhagen und Mölln 1992 war ihr Arbeitsweg jedoch häufig von Angst geprägt.
Selbstständigkeit als Ausweg
Die Zahl der Selbstständigen unter den Türkeistämmigen nahm durch die schwindende Beschäftigungsperspektive in der Produktion in den 1990er Jahren weiter zu. Hatte der Bezirk Kreuzberg durch die Berliner Teilung noch am äußersten Rand West-Berlins gelegen, mit verheerenden Auswirkungen für den lokalen Einzelhandel, beseitigte der Mauerfall diesen strategischen Nachteil. Vielmehr bestand mit der Oberbaumbrücke fortan ein direkter Zugang für entdeckungsfreudige Ost-Berliner Tagestourist*innen. Vor allem der Obst- und Gemüsehandel – eine klassische "türkische" Branche – erlebte Hochkonjunktur.
Die Gewerbeambitionen weiteten sich auch auf den Ostteil der Stadt aus, dort stießen türkische kulinarische Angebote auf reges Interesse. Im Frühjahr 1990 bildeten sich vor improvisierten Gemüseständen in Kantinen von Ost-Berliner Betrieben und vor Döner-Imbissen an der Humboldt-Universität zu Berlin lange Schlangen, wie Fotografien von Ergun Çağatay zeigen.
Beschäftigte im öffentlichen Dienst weniger vom Mauerfall betroffen
Die Arbeit im öffentlichen Dienst berührte der Mauerfall weniger. 1993 waren Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Berlin zum einen weiterhin mit Reinigungstätigkeiten, bei Gartenbauämtern oder in Großküchen beschäftigt. Zum anderen waren Angestellte meist im Bildungsbereich als Lehr- und Erziehungskräfte tätig. Wie auch in der Industrie rückten die Kinder der Einwanderergeneration mit Ausbildungs- und Studienabschlüssen in voraussetzungsvolle Berufe nach. Es waren also nicht mehr primär die (vor-)qualifizierten Quereinsteiger*innen aus den industriellen "Gastarbeiter"-Berufen, die entsprechende Beschäftigung erreichten.
Die genauen Entwicklungen im öffentlichen Sektor bleiben durch den Schutz von Personendaten in den späten 1990er Jahren unklar. Die Staatsangehörigkeit wurde bei Bewerbungen für den Lehrberuf nicht mehr erhoben, ebenso wenig bei Studienanfänger*innen an den Universitäten. Sicher ist, dass die Quote der Menschen mit Einwanderungsgeschichte im öffentlichen Dienst auch im Jahr 2021 nicht ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht.
Konkurrenz bekamen Türkeistämmige auch in der ihnen zugeschriebenen Rolle als "führende Kleinkriminelle". Zu Zeiten der Berliner Teilung hatten sie als maßgeblich verantwortlich für den lokalen Drogenmarkt gegolten. Der Straßenverkauf soll bis zum Beginn der 2000er Jahre vor allem in türkischer Hand gelegen haben. Die Handelsrouten – aus asiatischen Anbaugebieten über die Türkei und die "Balkanroute" bis in die Bundesrepublik und nach Berlin – standen unter internationaler Beobachtung. Doch auch auf Geschäftstätigkeiten, die zwischen Einfallsreichtum und Kleinkriminalität zu verorten sind, hatte der Mauerfall unmittelbaren Einfluss. Interner Link: Türkeistämmige "Mauerspechte" verkauften im Nachwende-Berlin Bruchstücke des Eisernen Vorhangs an Tourist*innen. Als nach 1989 der Taschendiebstahl in der Stadt explosionsartig anstieg, galten den Boulevardzeitungen plötzlich die "neuen" Zugezogenen als verantwortlich: nun vor allem Migrant*innen aus den Ostblockstaaten.
"Die Mauer fiel uns auf den Kopf"
Eine türkische Redensart besagt, dass die Mauer den Berliner*innen mit Einwanderungsgeschichte aus der Türkei "auf den Kopf" fiel ("duvar bizim üstüme düştü"). Die Geschichte ihrer Berufe und Arbeitswelten zeigt, dass das vor allem für diejenigen galt, die auch 1989 den typischen "Gastarbeit"-Tätigkeiten nachgingen. Wer prekär beschäftigt seinen Lebensunterhalt verdiente, lief Gefahr, der nationalen Euphorie und der plötzlichen Konkurrenz aus Ost-Berlin, dem Gebiet der ehemaligen DDR und der zerfallenden Sowjetunion zum Opfer zu fallen. Wer jedoch durch Berufsausbildung und Sprachkenntnisse schon in West-Berlin beruflich hatte aufsteigen können, vermochte auch im wiedervereinigten Berlin eher Position und Beruf zu behaupten.
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Dr. Stefan Zeppenfeld studierte Geschichte und Politikwissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Public History an der Freien Universität Berlin. Bis 2020 arbeitete er am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) an seiner Dissertationsschrift zur Geschichte der türkischen Arbeitswelten in West-Berlin. Er arbeitet momentan als Wissenschaftlicher Referent im Referat Public History des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn.
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