Als die DDR-Regierung am 13. August 1961 die Berliner Mauer errichten ließ, lebten in West-Berlin kaum mehr als 200 türkische Staatsangehörige. Von Berlin als einer "türkischen Metropole" kann zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede sein. Zehn Jahre später allerdings, 1971, lebten bereits 50.000 Türkeistämmige in West-Berlin, und noch einmal zehn Jahre später, 1981, fast 120.000.
Wie war es zu dieser Entwicklung gekommen?
Arbeitsmigration keine unmittelbare Reaktion auf Mauerbau
Die zeitliche Nähe des Mauerbaus zum Tag des Interner Link: deutsch-türkischen Anwerbeabkommens, das am 30. Oktober 1961 in Kraft trat, bedingt den sich hartnäckig haltenden Trugschluss, die türkische "Gastarbeit" sei eine unmittelbare Reaktion auf die Teilung gewesen. Tatsächlich aber hatte das Abkommen eine lange diplomatische Vorgeschichte.
Ohnehin sollte die Arbeitsmigration in West-Berlin erst später zum Tragen kommen: Formell galten die Anwerbeabkommen für West-Berlin erst ab 1963/64, die West-Berliner Unternehmen nutzten die Möglichkeit der Anwerbungen sogar erst ab 1968 massiv.
Arbeitswelten Türkeistämmiger in West-Berlin
In den rund zwei Jahrzehnten zwischen dem "Anwerbeboom" 1968 und dem Fall der Berliner Mauer 1989 gestalteten und etablierten die "Gastarbeiter" aus der Türkei neue Arbeitswelten. Ihre Tätigkeiten beschränkten sich schon bald nicht mehr auf die industrielle Fertigung (Sekundärsektor), sondern verschoben sich vor allem in den Dienstleistungsbereich (Tertiärsektor).
Die großen Firmen wie Siemens oder AEG-Telefunken beschäftigten zwar weiterhin zahlreiche Arbeitsmigrant*innen, vor allem in der Fertigung, doch die Entwicklungen in anderen Branchen waren vielfältig. So konnten sich Türkeistämmige nach einigen Jahren des Aufenthalts selbstständig machen und Geschäfte eröffnen, was das Waren- und vor allem das Lebensmittel- und gastronomische Angebot in der Stadt stark veränderte.
Der Inhaber und ein Angestellter der Tempelhofer "Fruta" bei der Anlieferung von Obst und Gemüse in Ost-Berlin, April 1990 (© Ergun Çağatay/Fotoarchiv Ruhr Museum/Stadtmuseum Berlin/Stiftung Historische Museen Hamburg)
Der Inhaber und ein Angestellter der Tempelhofer "Fruta" bei der Anlieferung von Obst und Gemüse in Ost-Berlin, April 1990 (© Ergun Çağatay/Fotoarchiv Ruhr Museum/Stadtmuseum Berlin/Stiftung Historische Museen Hamburg)
Deutlich werden die Karrierewege im Dienstleistungssektor auch bei näherer Betrachtung des öffentlichen Dienstes: Die Berliner Stadtreinigung (BSR) und die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) beschäftigten bereits Ende der 1960er Jahre "Gastarbeiter" aus der Türkei, obwohl die Unternehmen nie selbst aktiv Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben hatten. Im Laufe der 1970er Jahre suchten Berliner Behörden unter den Arbeitsmigrant*innen in der Industrie gezielt nach Erzieher*innen, Lehrer*innen oder Pflegekräften. Da die Behörden im Zuge der Anwerbung die gelernten Berufe der "Gastarbeiter" nicht erfasst hatten, gestaltete sich dieses Projekt äußerst schwierig. An den Schulen machte sich der Wandel der Arbeitswelten deutlich bemerkbar. 1974 schätzte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) die Zahl der türkeistämmigen ausgebildeten Lehrkräfte unter den "Gastarbeitern" in der West-Berliner Industrie auf etwa 300. Nicht einmal zehn Jahre später Jahre unterrichteten 180 nicht-deutsche Lehrkräfte in Berliner Klassenräumen, um die Sprachbarriere zwischen eingewanderten Kindern und deutschem Lehrpersonal zu überbrücken. Vo den etwa 16.500 West-Berliner Lehrkräften machten sie nur einen kleinen Teil aus. Dennoch hatte sich das Klassenzimmer auch zu einer Arbeitswelt für West-Berlinerinnen und -Berliner türkischer Herkunft entwickelt.
Türkeistämmige erschlossen spätestens in den 1980er Jahren weitere Berufsfelder mit hohem sozialem Renommee. Die Berliner Polizei öffnete sich für eingebürgerte Zugewanderte und bildete ab 1979 einen Schutzpolizisten und ab 1981 eine Kriminalkommissarin mit Einwanderungsgeschichte aus der Türkei aus. Ab Mitte der 1980er Jahre schlossen zudem viele Kinder der "Gastarbeiter" erfolgreich ihr Studium ab. So etablierte sich um 1990 beispielsweise eine Branche von türkeistämmigen Rechtsanwält*innen.
Die Arbeitswelten und Berufsbilder der türkeistämmigen Berliner*innen hatten sich seit ihren Anfängen damit Schritt für Schritt denen der deutschen Mehrheitsgesellschaft angenähert.
Arbeitsalltag verschlechterte sich mit Wiedervereinigung
Der Mauerfall im November 1989 änderte das Leben in Berlin schlagartig – und brachte auch die Arbeitswelten von Türkeistämmigen in Bewegung. Für viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte aus der Türkei bedeutete die Wiedervereinigung eine Verschlechterung ihrer Lebensrealität und ihres Arbeitsalltags.
Ost-Berliner*innen stand der Arbeitsmarkt im Westen nun wieder offen. In der Transformationsphase, den Jahren der Wiedervereinigung, verpuffte jedoch ein kurzfristiger "Wende-Aufschwung" in West-Berlin schnell. Dann schrumpfte beispielsweise auch bei Siemens die Gesamtbelegschaft gemessen am Jahr 1989 deutlich (minus 6 Prozent); allerdings nicht annähernd so stark wie der Anteil der ausländischen Belegschaft (minus 38 Prozent). Vor allem Frauen mit Einwanderungsgeschichte aus der Türkei waren von Entlassungen betroffen: Zwischen Herbst 1990 und Winter 1993 halbierte sich ihre Zahl im Betrieb. Hinsichtlich ihrer Perspektive im Großbetrieb gehören sie in West-Berlin zu den größten "Wendeverlierern".