Russlands Krieg gegen die Ukraine offenbart, wie groß auch heute noch die Macht von Ideologie und Propaganda ist, und welches Verhängnis sich mit der bis heute unaufgearbeiteten stalinistischen Vergangenheit Russlands verbindet. Auch immer mehr Russen fliehen deshalb aus ihrem Heimatland. Eine Betrachtung von Anna Schor-Tschudnowskaja.
Wir haben die Ukraine nicht angegriffen, sagte Sergej Lawrow, der Außenminister Russlands, auf einer Pressekonferenz in der Türkei am 10. März 2022, gleich nach seinem Treffen mit dem ukrainischen Außenminister Dmitro Kuleba. Von dieser Begegnung hatten sich viele einen Waffenstillstand und den Beginn von Friedensverhandlungen versprochen. Doch mit Lawrows dreister Lüge wurde am Tag 14 des Krieges in der Ukraine wohl klarer denn je zum Ausdruck gebracht, dass es noch immer keine solide Verhandlungsbasis für die Beendigung des Krieges von Russland gegen die Ukraine gibt.
Seit Jahren diskutieren wir über die verheerende Wirkung von „fake news“ in der Politik und in der Öffentlichkeit. Aber was machen wir mit „fakes“ in einem echten zerstörerischen Krieg, in dem der Angreifer, während Menschen unter Beschuss mit seinen Raketen in einem Versteck oder auf der Flucht sterben, bestreitet, angegriffen zu haben? Selbst eine Waffenpause für humanitäre Korridore erscheint dann als unrealistisch.
I. Russlands verharmloste Kriege vor 2022
So sehr viele Menschen seit dem 24. Februar, dem Beginn des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine, immer noch unter Schock stehen, so sehr muss man leider festhalten, dass derzeit kaum etwas wirklich Neues geschieht. Erstens wird in Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 in unterschiedlichen Kreisen und auf unterschiedlichen Ebenen der Staatsbürokratie behauptet, dass die Ukraine kein souveräner Staat sei (sein dürfte), dass Menschen in der Ukraine „Russen wie wir“ seien (sein sollten) und dass das ukrainische Territorium „unseres“ sei (sein sollte) – mit der drastisch steigenden Intensivierung dieser Tendenz in den letzten Jahren, insbesondere seit 2014, dem Sieg der Revolution auf dem Kiewer Maida, dem Platz der Unabhängigkeit. Augenscheinlich gewachsen ist im Kreml die Angst vor der Demokratie.
Zweitens führt das postsowjetische Russland beständig Kriege: von 1994 bis 1996 den ersten und von 1999 bis etwa 2004 den zweiten Tschetschenienkrieg, 2008 den Krieg in Georgien, seit 2014 den Krieg im Osten der Ukraine (von den Auslandseinsätzen dersrussländischen Militärs zum Beispiel in der Zentralafrikanischen Republik oder Syrien ganz abgesehen). Parallel dazu findet neben der stetigen Militarisierung der russländischen Gesellschaft und der offiziellen Heroisierung des Krieges auch eine Art Veralltäglichung davon statt: Kriege gelten als durchaus tolerables Mittel zur Durchsetzung staatlicher Interessen. Kriegsopfer werden in Kauf genommen, aber auch verschwiegen oder geleugnet, was ebenfalls von der Bevölkerung toleriert wird. Die Heroisierung des Krieges zieht zwangsläufig nach sich, dass es keine Trauerkultur in Hinblick auf die eigenen Opfer gibt. Und so sind viele Zehntausend in den postsowjetischen Kriegen umgekommener Menschen überhaupt kein Thema in Russland, sieht man vom immer mehr marginalisierten Protest der Soldatenmütter ab.
Und zum Dritten stellt der Machtapparat Wladimir Putins schon seit vielen Jahren ein Regime dar, in dem Begriffe nur ausgehöhlt oder verdreht werden, die Sprache als Gewaltmittel missbraucht und die eigene Bevölkerung vorwiegend durch Lügen, Imitation und ‚fakes‘ manipuliert wird. womit mit den Jahren eine entsprechende spezifische politische und öffentliche Atmosphäre entstanden ist. Bereits 2011 fasste der noch aus den Jahren der Perestrojka bekannte Oppositionspolitiker Grigorij Jawlinskij zusammen:
„Das größte Problem unseres Landes ist nicht das Niveau und die Qualität der Demokratie oder inwieweit die Freiheiten und Rechte der Bürger gewährleistet sind, so die verbreitete Meinung, nein, das größte Problem ist die uneingeschränkte, totale Lüge als Fundament der Staates und seiner Politik“.
Genau diese Schlussfolgerung haben drei Jahre später viele russische und ukrainische Intellektuelle (wie auch die im Vergleich zum US-Wahlkampf relativ wenigen westeuropäischen Beobachter) ziehen müssen, als infolge des gesellschaftlichen und politischen Umbruchs in der ukrainischen Hauptstadt, der den Namen ‚Euromaidan‘ bekam, Russland zunächst die ukrainische Halbinsel Krim annektierte und später ein zunächst getarnten Krieg im Osten der Ukraine begann.
Die Ereignisse von 2014 stellen ein anderes und womöglich prägnanteres Beispiel für eine strategische Überflutung der Medien beziehungsweise des (politischen) Gegenübers mit „fake news“ dar, als es der US-Wahlkampf 2016 gewesen ist. Der bekannte deutsche Osteuropahistoriker Karl Schlögel erinnert sich:
„Seit der Okkupation der Krim ist nicht nur die wie selbstverständlich daherkommende dreiste Lüge in die russischen Fernsehkanäle eingewandert, sondern überhaupt soll uns klargemacht werden, dass es einen Unterschied zwischen facts und fiction, zwischen Wahrheit und Lüge nicht mehr gibt“.
Eskalation seit 2014
Die Revolution in der Ukraine 2014, die für die regierende politische Klasse in Russland einen schmerzlichen Verlust der Fähigkeit zur Einflussnahme auf dem ehemaligen sowjetischen Territorium bedeutete, war ein Anlass, Täuschungsmanöver und imitierte, ausgehöhlte Begriffe nun auch international einzusetzen. Damals schon begann der Überfall auf die Ukraine mit einer Lüge: In der Nacht auf den 27. Februar 2014 besetzten russische Soldaten ohne Erkennungszeichen Gebäude der Regierung und des Parlaments der ukrainischen Halbinsel Krim.
Unabhängigen Medien zufolge spielten eigens aus Russland auf die Krim gebrachte Zivilpersonen die Rolle der Krimer Zivilbevölkerung, die die russländische Armee bei der Besetzung strategischer Objekte entschieden unterstützten. Dieses Spektakel stellte sich bald als Auftakt des Krieges in der Ostukraine heraus.
Die internationale Gemeinschaft begegnete der Annexion der Krim und den Krieg in der Ostukraine mit großer Verwirrung und Hilflosigkeit, auch und gerade, weil Russland beides bestritt: Nach offizieller russischer Lesart gab es keine Annexion, nur ein Referendum, und es gab keinen Überfall, nur den ukrainischen Separatismus. Die internationale Politik stand 2014 ratlos vor dem Problem, dass der eigentliche Aggressor bestritt, dass er angreife. Als ob ein Mann mit einer Pistole auf uns zielt, und während wir uns panisch fragen, ob er abdrücken wird, sagt: „Pistole? Welche Pistole denn? Ich habe doch keine!“. Was tun angesichts eines Angreifers, der bestreitet, bewaffnet zu sein und zu bedrohen?
Ein solcher Aggressor ist entweder nicht zurechnungsfähig oder will bewusst und gezielt mehr als „nur“ schießen: Er will verwirren und erniedrigen. Sein Opfer soll nicht verstehen, was vorgeht. Es gibt ja „keine Pistole“, wozu also die ganze Aufregung! Das funktioniert auch auf weltpolitischer Ebene: Zahlreiche Beobachter der Annexion der Krim, die in ihrer Kindheit das Märchen vom nackten König nicht gelesen haben dürften, flüsterten 2014 einander ratlos zu: „Vielleicht gibt es ja wirklich keine Pistole, was meinen Sie?“
Intensive hybride Kriegsführung
Experten sprechen mittlerweile von hybrider Kriegführung, intensiv vom Kreml aus geführt. Zu seinen wichtigen Bestandteilen gehören die Informationspolitik und die damit angestrebte Deutungshoheit über den Konflikt. Damit feierte die russische Seite 2014 große Erfolge. Etymologisch betrachtet bezeichnete „Hybris“ ursprünglich eine extreme Form des Hochmuts, die bis zur Realitätsleugnung reicht. Diese Hybris ist somit eine besonders niederträchtige Form des Umgangs mit einem wehrlosen Gegner. „Pistole? Welche Pistole?“ – fragt der Angreifer und drückt ab.
Eine solche Situation ist freilich nur solange möglich, wie es dem Bedrohten um jeden Preis wichtig ist, mit dem Angreifer eine gemeinsame Beurteilung der Situation herzustellen: nämlich, dass er nicht angreife und die Pistole keine ist. Würde der Bedrohte aber entscheiden, dass er einer solchen Gemeinsamkeit nicht bedarf, wäre er in der Lage sofort aktive Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Dann würde Putins Strategie versagen. Genau dazu war jedoch 2014 niemand bereit – nur die Menschen in der Ukraine! Im Februar 2014 wurden auf dem Maidan in der ukrainischen Hauptstadt über 100 oppositionelle Demonstrantinnen getötet, viele von unbekannten Scharfschützen.
Bisher ließ sich keine Systematik in deren Vorgehen erkennen; die Opfer waren zu verschieden und, so schien es, ganz zufällig aus der Menge ausgewählt. Das Ziel der Scharfschützen war offenkundig, Verwirrung zu stiften. Die Menschen auf dem Maidan sollten angesichts des unsichtbar über sie kommenden Todes vor Angst gelähmt werden. Die Rechnung ging aber nicht auf. Die Demonstrierenden verteidigten den Platz auch angesichts dieser grausamen Herausforderung – und siegten schließlich.
Acht Jahre später befinden wir uns in einer ähnlichen Situation, mit dem wesentlichen Unterschied, dass immer mehr Menschen auch jenseits der Ukraine begreifen, dass man einem Angreifer, der bestreitet, angegriffen zu haben, nicht den Gefallen tun sollte, verwirrt zu sein und gegen ihn jeden denkbaren Widerstand leisten sollte.
II. Längst auch eine Fluchtwelle aus Russland
Unter meinen Verwandten und Freunden in der Ukraine und in Russland gibt es niemanden mehr, der sich in Sicherheit wähnt. Während sie in der Ukraine direkt dem Krieg ausgesetzt sind, fliehen auch in Russland viele vor einem „Spezialeinsatz“ im eigenen Land, das im Namen eines immer totalitärer regierenden Putin-Regimes vom Rest der noch wachen Zivilgesellschaft, unabhängigen Medien, zeitkritischen Künstlern und Wissenschaftlern, aber auch IT-Spezialisten und Studierenden bereinigt werden soll. Die Verbannung des populären Oppositionellen Nawalny, das Verbot der wichtigsten Teile der Menschenrechtsorganisation Memorial und das neue strenge Pressegesetz aus dem März 2022 waren nur Etappen davon.
In den ersten drei Wochen des Krieges gegen die Ukraine haben unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 30 und 200.000 Menschen Russland panikartig verlassen. Sie fliehen in unterschiedliche Richtungen, wobei es angesichts des geschlossenen Luftraums über Europa und des Umstandes, dass nur eine kleine Minderheit in Russland einen Auslandspass besitzt, mittlerweile wirklich viel Mühe und Glück bedarf, das Land verlassen zu können. Selbst in Kirgisistan sind Hotels mit aus Russland geflüchteten Menschen überfüllt,, ebenfalls in Georgien und Armenien. Niemand von ihnen weiß, für wie lange sie wegbleiben werden. Ihre Zukunftsaussichten sind mehr als ungewiss. Allerdings hoffen die meisten von ihnen auf einen Regimewechsel in Moskau, denn sie verstehen, dass nicht die Ukraine, sondern das Putin-Regime aktuell die größte Gefahr darstellt. Der russische Wirtschaftexperte Oleg Buklemischew hält angesichts der gegenwärtigen Situation fest: „Ohne einen kompletten Umbau und eine Transformation von allem, was heute in Russland passiert, wird es keinen wirtschaftlichen Aufbau geben.“ Und weiter:
„Die schlimmste Variante wird sein: ohne jede Entwicklung, ein langsamer Untergang. Es wäre wünschenswert, diese Variante irgendwie zu umgehen, und umgehen kann man sie wahrscheinlich nur, wenn wir begreifen, wie wir an diesem Punkt angekommen sind und wie wir hier wieder raus kommen. Noch sehe ich solche Reflexionen in der russländischen Gesellschaft nicht.“
Die Stimmungen in Russland reichen von der patriotischen Euphorie über die gelassene Gleichgültigkeit bis zur bitteren Enttäuschung und Verzweiflung. Allerdings muss man sich soziologisch der gegenwärtigen Lage mit größter Vorsicht annähern. In den autoritären und insbesondere in den totalitären Ordnungen kann es keine valide Soziologie geben. Alle vorhandenen Umfragewerte und Statistiken sagen nicht viel darüber aus, was die Bevölkerung Russlands tatsächlich von dem Krieg gegen die Ukraine hält. Und zwar vor allem deswegen nicht, weil die Mehrheit über diesen Krieg nicht wahrheitsgemäß informiert ist: Allen offiziellen Quellen zufolge (und von den anderen Quellen ist kaum noch etwas geblieben) gibt es nach wie vor keinen Krieg, keine hungernden Menschen im belagerten Mariupol‘, keine Zerstörung von ukrainischen Städten, keine Tausenden von gefallenen russischen Soldaten.
Berichtet wird auch nach 14 Tagen Krieg vom sogenannten „Spezialeinsatz“ zwecks „Denazifizierung“ und „Demilitarisierung“ der Ukraine. Für Menschen, die mit diesen beiden Begriffen nicht viel anfangen können, heißt es einfach: Russland setze sich militärisch für das Wohlergehen der ukrainischen Bevölkerung ein, indem es sie von bösen und russlandfeindlichen Einflüssen befreie und wieder in die „russische Welt“ aufnehme.
Russland als vermeintliches Opfer
In dieser Darstellung lässt sich eine für totalitäre Ordnungen sehr charakteristische Deutung erkennen: Russland sei das eigentliche Opfer, es sei von Feinden umgeben und bedroht. Dazu mischt sich seit einigen Jahren auch ein rassistisches Motiv: Man strebe eine „russische Welt“ an, die ein Reich darstellen soll, in welchem das Russische, ohne dass es klar definiert wäre, als etwas Besseres und Wertvolleres dominiert. Aber besser und wertvoller – als was oder wer? Glücklicherweise hat diese Ideologie noch keine klaren Züge angenommen, aber sie wabert durch Politik, Medien und Gesellschaft. Fest steht soweit, dass das Russische eine zivilisatorische Alternative für das „Westliche“ (worunter aber auch viele Länder fallen, die gemeinhin nicht mit Westeuropa oder den USA assoziiert werden) darstellen und eine Mission erfüllen soll, den moralisch und politisch degradierten „Westen“ zu besiegen.
Doch sind vor allem die beiden oben genannten Begriffe in diesem gefährlichen ideologischen Nebel wirksam: Man möchte besser und wertvoller als die Anderen erscheinen. Klar herauskristallisiert aus der Ideologie der „russischen Welt“ sind nur die Vorstellungen der Machtprinzipien: Es gilt das Recht des vermeintlich „Besseren“ und Stärkeren, ja die Willkür des Stärkeren, der mit sich selbst legitimierender Gewalt die Loyalität durchsetzt, denn nur so kann angeblich gesellschaftlicher Frieden erreicht werden.
Es lässt sich nicht sagen, wie viele Menschen in Russland dieser Ideologie bereits verfallen sind, die auch mit den Lehren des russischen Philosophen Alexander Dugin verbunden werden, der für Beobachter als faschistischer Lehrmeister Wladimir Putins gilt.
Die Rhetorik der Staatsführung wie auch der anderen Etagen der Staatsbürokratie zeigen seit Jahren große Bemühungen, diese ideologischen Setzungen gesellschaftlich dominant werden zu lassen. Seit dem 24. Februar 2022 befinden wir uns in der Situation, in der innerhalb Russlands kaum mehr ein nennenswerter Widerstand gegen diese Ideologie geleistet werden kann.
III. Folgenreiche Nichtabkehr vom Stalinismus
Es ist schrecklich bitter, sich selbst eingestehen zu müssen, dass die letzten 30 Jahre der postsowjetischen Evolution in Russland außer der starken Konsumorientierung und Digitalisierung in der russländischen Gesellschaft nicht viel an ihrer politischen Kultur verändert haben. Ich möchte hier vorrangig auf einen Faktor hinweisen, der für diese misslungene politische Transformation verantwortlich ist: die unaufgearbeitete Diktatur-Vergangenheit, die Verklärung der sowjetischen Geschichte, die Verherrlichung von Stalin und seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg und die einseitige Glorifizierung des Sieges der Sowjetunion gegen Hitler-Deutschland, ohne auf den totalitären Charakter der Sowjetführung vor, in und nach diesem Sieg eingehen zu wollen. Die aktuelle dreiste Lüge von der „Denazifizierung der Ukraine“ wäre ohne diese langjährige verlogene Geschichtspolitik nicht möglich gewesen.
Die weißrussische Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, deren Bücher überwiegend auf zahlreichen Interviews und Gesprächen in der späten UdSSR und den postsowjetischen Jahren basieren und durchaus soziologische Relevanz haben, machte 2013 eine bemerkenswerte Beobachtung:
„Ich habe in der letzten Zeit etwa zehn russische Städte besucht, Hunderte Menschen befragt. Sie negieren nicht die Grausamkeit Stalins, die Grausamkeit der Repressalien unter ihm, aber sie sagen, dass die Sowjetmacht gerechter zu den einfachen Menschen war und dass Leute mit Geld damals nicht so frech waren wie heute, dass die Korruption nicht so wucherte.“
Viele weitere Autorinnen und Autoren haben immer wieder darauf hingewiesen, dass der Rückblick auf die eigene Familiengeschichte im 20. Jahrhundert mit dramatischen Ambivalenzen und Widersprüchen behaftet ist und dass das Wissen um Opfer in der eigenen Familie mit bemerkenswerten Rechtfertigungen einhergehen kann, die immer mit aber beginnen. So sehr die sowjetische Vergangenheit an sich eine ambivalente Erfahrung darstellt, so sehr bedurfte es klarer Worte: Worin genau bestanden die Verbrechen des Staates? Und: So wenig die ganze sowjetische Vergangenheit als eindeutig negativ zu etikettieren ist, so sehr hätten die Staatsverbrechen historisch (wissenschaftlich), rechtlich, politisch und kulturell als eindeutig negativ markiert werden müssen.
Bis heute ist die dafür notwendige historische, kulturelle und politische Arbeit nur in Ansätzen geleistet worden (ohne die Arbeit von solchen großartigen zivilgesellschaftlichen Organisationen wie „Memorial“, „Die letzte Adresse“ und einigen anderen minimieren zu wollen!). Somit bleibt die Einstellung zum stalinistischen Staatsterror gefährlich ambivalent. Eine bekannte russische Journalistin, Anna Narinskaya, hielt daher treffend fest:
„Wir [d.h. die Bevölkerung Russlands] sind nicht nur nicht so weit, dass wir die Repressalien [Staatsterror] für etwas Böses halten, wir sind sogar noch nicht soweit, dass wir uns darin einig wären, dass es sie überhaupt gab!“
Der Bezug auf Stalin oder den Staatsterror unter seiner Herrschaft ist im heutigen Russland kein sehr seltenes Phänomen. In Debatten tauchen diese Bezüge immer wieder auf, um die gegenwärtige politische Situation zu charakterisieren: Ist es heute „wie unter Stalin“? Soll es oder soll es nicht „wie unter Stalin“ werden? Diese Bezüge können sowohl von denjenigen hergestellt werden, die die Herrschaft von Stalin verurteilen, als auch von jenen, die sie eher positiv bewerten. Dabei wird allerdings die Figur „Stalin“ schon längst symbolisch und eher metaphorisch gebraucht. Bezieht man sich auf seinen Namen, werden nicht die konkreten historischen Ereignisse und Fakten erinnert, sondern es geht um ein bestimmtes Prinzip, welches lautet: Politische Größe, die aber auch mit der Willkür der Staatsgewalt einhergeht.
Bei den Befürwortern vom „Stalinismus“ geht es also vorranging um die politische Größe des eigenen Landes und die richtige politische Ordnung, – und damit auch um die Gewaltwillkür der Machhaber.
Oder noch präziser: Unter „Stalinismus“ kann man heute eine politische und gesellschaftliche Situation verstehen, in der die Staatsführung die staatliche Macht missbraucht und in Gewalt gegen die eigene Bevölkerung transportiert, die Bevölkerung dem aber nicht unbedingt kritisch gegenübersteht, sondern durchaus die Gewaltanwendung seitens der staatlichen Führung legitimiert und billigt, weil sie in der Gewaltherrschaft ein für sie wichtiges Zeichen der Größe des eigenen Landes und einer richtigen beziehungsweise gerechten sozialen Ordnung erkennt.
Eine verhängnisvolle Loyalität
Man kann mit Gewissheit behaupten, dass der wesentliche Unterschied zwischen dem heutigen Russland und der heutigen Ukraine weder ethnischer noch sprachlicher, sondern politischer Natur ist: Die Menschen in der Ukraine, selbst wenn sie im Alltag Russisch sprechen, wollten diesem Machtprinzip nicht mehr folgen. Und der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist vor allem deshalb passiert, weil dieses Nachbarland eine Art politische Opposition statt politische Loyalität zeigte.
In diesem Krieg geht es, wie auch innerhalb Russlands, vor allem um Loyalität, und zwar einzig und allein um die Loyalität gegenüber dem von Putin errichteten politischen System. Die Vision einer „russischen Welt“ hat in Wirklichkeit weder mit der russischen Kultur noch mit der russischen Sprache etwas zu tun. Sie ist eine politische Vision von der Gewaltwillkür des Stärkeren. Und daher wird aus meiner Sicht heute in Kiew nicht nur über die Zukunft der unabhängigen Ukraine, sondern auch über die Zukunft Russlands und damit des europäischen Kontinents entschieden.
Die Autorin ist Psychologin und Soziologin, geboren in Kiew (damals UdSSR), aufgewachsen in Sankt Petersburg, studierte und promovierte in Deutschland. Zurzeit ist sie Assistenzprofessorin an der psychologischen Fakultät der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen vor allem politische Kultur und gesellschaftliches Selbstbewusstsein in der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland. Ihr aktuelles Forschungsprojekt (FWF) widmet sich den Deutungsmustern im Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit. In der bpb ist 2016 bereits von ihr erschienen: Externer Link: www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/stasi/234596/kgb-wurzeln und kürzlich ein Hintergrundbeitrag zum Externer Link: Verbot von Memorial.
Zitierweise: Anna Schor-Tschudnowskaja, "Krieg der Lügner", in: Deutschland Archiv, 12.3.2022, www.bpb.de/506112.
Weitere Betrachtungen aus unterschiedlichsten Perspektiven werden folgen.
Dr. Anna Schor-Tschudnowskaja, Diplom-Psychologin und Soziologin, geboren in Kyiv (damals UdSSR), aufgewachsen in Sankt Petersburg, studierte und promovierte in Deutschland. Zurzeit ist sie Assistenzprofessorin an der psychologischen Fakultät der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen vor allem politische Kultur und gesellschaftliches Selbstbewusstsein in der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland. Ihr jüngstes Forschungsprojekt (FWF) widmete sich den Deutungsmustern im Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit. Gegenwärtig ist sie Leiterin eines Robert-Bosch-geförderten Forschungsprojektes zum Geschichtsverständnis bei jungen Menschen in Russland. In der bpb ist 2016 bereits von ihr erschienen: Interner Link: www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/stasi/234596/kgb-wurzeln und 2022 Externer Link: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/345507/der-friedensnobelpreis-2022-fuer-memorial/.
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