Was verbindet das Verbot von Memorial, die Inhaftierung des russischen Oppositionellen Nawalny und Putins Krieg gegen die Ukraine? Offenbar eine lange übersehene Strategie. Von Ekkehard Maaß, dem Vorsitzenden der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft in Berlin. Er appelliert, wahrnehmbar solidarisch mit den Verfolgten in Russland und den Kriegsopfern in der Ukraine zu bleiben: "Wir dürfen nicht müde werden".
Warum wundert sich die Welt über Wladimir Putin? Seine Politik weist eine klare Linie auf vom Krieg in Tschetschenien 1999 über den Einmarsch in Georgien 2008, die Besetzung der Krim 2014, die Anerkennung von Luhansk und Donezk zum Krieg in der Ukraine. Es ist dieselbe Politik wie in Abchasien und Südossetien. Zuerst werden russische Pässe ausgegeben, dann müssen die russischen Bürger vor einem „Genozid“ gerettet werden, den es aber nur in Putins Zweckpropaganda gibt. Ich verstehe nicht, warum die westliche Welt so viele Jahre Putin geglaubt und hofiert und über Unrecht hinweggesehen hat und offenbar erst jetzt begreift, welche gefährliche Machtinteressen er strategisch verfolgt, sei es auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion oder im Zusammenspiel mit befreundeten Diktaturen wie Externer Link: Syrien.
Bereits im zweiten Tschetschenienkrieg war Wladimir Putin verantwortlich für schlimmste Kriegsverbrechen, für Massaker an der Zivilbevölkerung und das Ausradieren ganzer Ortschaften. Zu vermuten ist, dass sich Putins Krieg in der Ukraine ähnlich abspielen soll wie Tschetschenien das erlitten hat: militärische Eroberung und Besetzung, Morden, Plündern, Vergewaltigen, Ausschalten aller dort lebender "Patrioten", von Putin als "Ungeziefer" diffamiert. Deren Verschleppen, Foltern und Töten war in Tschetschenien an der Tagesordnung. Dazu kam das Einsetzen einer Marionettenregierung, die mit drakonischen Mitteln Putins Macht sichert.
Die Arbeit der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft
Seit gut zwanzig Jahren warnt die 1996 gegründete DExterner Link: eutsch-Kaukasische Gesellschaft vor Wladimir Putin. Viele Indizien sprechen dafür, das der russische Geheimdienst hinter den Sprengstoffanschlägen auf Wohnblöcke in Moskau und Wolgadonsk 1999 steht, mit denen die russische Bevölkerung auf den zweiten Tschetschenienkrieg eingestimmt und der KGB-Offizier Putin russischer Präsident wurde. Selbst die Hintergründe der Terroranschläge auf das Musical-Theater Nordost in Moskau 2002 und auf die Schule in Beslan 2004 sind bis heute nicht aufgeklärt und einer der Gründe für die Ermordung Anna Politkowskajas, die zu viel darüber in Erfahrung brachte.
Der Krieg in der Ukraine war offenkundig lange geplant, Strategische Vorbereitungstreffen mit Belarus' Diktator Lukaschenko häuften sich und kritische Stimmen wie der populäre Oppositionspolitiker Alexej Nawalny und die Menschenrechtsorganisationen Memorial wurden ausgeschaltet, ebenso die meisten unabhängigen Medien.
Auf dem Weg zum Krieg - nicht nur das Verbot von "Memorial"
Am 28. und 29. Dezember 2021 wurden die wesentlichen Teile der Menschenrechtsorganisation „Memorial international“ und das Menschenrechtszentrum „Memorial“ gerichtlich verboten, Einspruch blieb zwecklos, am 28. Februar 2022 wurde die bisherigen Urteile bestätigt und am 22. März ein Aufschub der Urteils-Umsetzung abgelehnt, ein Zeichen dafür, wie ungehemmt Putin auch Russlands Justiz für sich arbeiten lässt. Der Rückfall Russland in finsterste Zeiten wird nun nach Außen wie Innen immer deutlicher.
Nicht nur das Memorial-Verbot gehört zu Putins Ziel, die russische Gesellschaft für seine persönliche Machtsicherung und Machtausdehnung endgültig von Europa abzuspalten. Keine andere Wahrheit soll ans Licht, als seine Feindbild-Sicht der Dinge. Am 21. März 2022 wurden in Russland sogar Facebook und Instagram als "extremistisch" verboten und bis zu 15 Jahre Haft sollen demnächst demjenigen drohen, der "Falschinformationen" über Maßnahmen russischer Regierungsbehörden „außerhalb des russischen Territoriums“ verbreitet, beschloss am 22. März 2020 Russlands Unterhaus. Nahezu zeitgleich wurde der in ein Straflager verbannte Oppositionelle Alexander Nawalny erneut verurteilt, nun drohen ihm 13 weitere Jahre Haft. Ein funktionierendes Räderwerk der Diktatur, in dem der Rechtsstaat nahezu gänzlich unter die Räder kommt.
Aber Menschenrechte lassen sich auf Dauer nicht unterdrücken. Memorial wird vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagen und wiedererstehen. Dann wird neben der kommunistischen die - so muss man sie aus meiner Sicht inzwischen bezeichnen - Putinsche Diktatur aufzuarbeiten sein mit ihren Kriegsverbrechen in Tschetschenien, den politischen Morden an JournalistInnen und Oppositionellen, der Eroberungspolitik auf der Krim und nun in der Ukraine, der kontinuierlichen hybriden Kriegsführung und der Unterdrückung demokratischer Grundrechte.
Memorial wurde 1988 als erste gesellschaftliche, das heißt regierungsunabhängige Organisation in der Sowjetunion gegründet. Gründungsvorsitzender war der Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow. Ziel der Organisation war die Aufarbeitung der Verbrechen der Stalinzeit und die Errichtung eines Denkmals für die Opfer der sowjetischen Diktatur. Inzwischen besteht Memorial aus 80 Organisationen in Russland und osteuropäischen Ländern, die ein umfangreiches Archiv von Opferkarteien, Häftlings-Erinnerungen und Samisdat -Publikationen verwalten.
An den Orten der Lager wurden Gedenksteine und, wenn möglich, Gedenkstätten errichtet. Memorial verfasst Berichte zur aktuellen Menschenrechtssituation in Russland, unter anderem zu Tschetschenien, und setzt sich für Konfliktlösungen ein. Bildungsprogramme richten sich gegen Diskriminierung und Rechtsextremismus. Mit Memorial verbindet sich die Hoffnung auf ein rechtsstaatliches und demokratisches Russland.
Reaktion auf Russlands Tschetschenienkrieg
Als Reaktion auf den ersten Interner Link: Tschetschenienkrieg gründete ich 1996 in Berlin die Deutsch-Kaukasische Gesellschaft, Memorial ist seit 26 Jahren ihr wichtigster Partner in Russland.
Sergej Kowaljow, Dissident und Mitgründer von Memorial, hatte im April 1997 die Schirmherrschaft über die Gesellschaft übernommen und war an zahlreichen politischen Gesprächen mit demokratischen tschetschenischen Politikern beteiligt, um nach einer Friedenslösung für Tschetschenien zu suchen.
Swetlana Gannuschkina, Leiterin der NGO „Zivile Unterstützung“ und der Beratungsstelle „Migration und Recht“ beim Rechtszentrum von Memorial, unterstützt unsere Flüchtlingsarbeit mit ihren Dossiers zur Situation in Russland und zu einzelnen Flüchtlingsschicksalen. Nicht wenige Familien erhielten mit ihrer Hilfe Schutz und Bleiberecht in Europa. Weiteren Mitgründern von Memorial wie Alexander (Sanja) Daniel, Oleg Orlow, Arseni Roginski, Irina Scherbakowa und Alexander Tscherkassow begegnete ich auf vielen Konferenzen zur Menschenrechtssituation in Russland. Sie hielten Vorträge in unserem Deutsch-Tschetschenischen Kulturzentrum und waren Gäste in meinem literarischen Salon in Berlin-Pankow, der seit 1996 Sitz der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft ist.
Sergej Kowaljow lernte ich im Juli 1994 kennen, als ich eine Delegation der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen als Berater und Dolmetscher nach Moskau begleitete. Neben den offiziellen Gesprächen konnte ich mich ausführlich mit ihm über seine Lagerhaft und die Lieder Bulat Okudschawas und Wolf Biermanns unterhalten.
Bei einem Abendessen mit russischen und DDR-Bürgerrechtlern im Mai 1996 in meinem Salon äußerte sich Sergej Kowaljow kategorisch gegen die Wiederwahl Boris Jelzins zum Präsidenten, die von Deutschland und den USA massiv unterstützt wurde. Es sei falsch, dafür, dass Jelzin vielleicht das geringere Übel sei, seine moralische Integrität zu opfern und einem korrupten Nichtdemokraten und Kriegsverbrecher seine Stimme zu geben, so Kowaljow damals. Er behielt recht.
Die Wiederwahl Jelzins bedeute das Ende der Demokratieentwicklung in Russland. Sein Nachfolger Wladimir Putin aus dem KGB setzte diesen Kurs konsequent fort. 2002 fragte ich Kowaljow in einem Interview: „Sergej Adamowitsch, steht Russland wieder am Rande eines autoritären Regimes?“ – „Am Rande? Mittendrin!“. Sergej Kowaljow, der im August 2021 starb, war absolut kompromisslos: „Wenn man in Menschenrechtsfragen nur einen Fingerbreit nachgibt, folgt eine Lawine nach.“ So ist es gekommen. Die Folgen sehen wir heute in der Ukraine.
Für die ehemaligen sowjetischen Dissidenten ist es bitter, dass sie nach ihrem aufopferungsvollen Kampf für eine freie Gesellschaft erneut mit einer Diktatur konfrontiert sind. Sie müssen weiterhin auf Rückhalt aus dem In- und Ausland hoffen und durchhalten. Letztlich müssen neue Generationen über die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Zukunft Russlands entscheiden.
Die Externer Link: Deutsch-Kaukasische Gesellschaft ruft die russische Gesellschaft und die internationale Öffentlichkeit auf, sich weiter für Frieden und Demokratie in der Ukraine und für Memorial einzusetzen und sein umfangreiches Archiv zu retten. Wir dürfen - trotz der Rückschläge vom 28. und 29. Dezember - und dem scheinbar übermächtigen Angriffskrieg auf die Ukraine nicht müde werden mit Ermutigung und Engagement.
Ende Februar 2022 wurde auf einer Podiumsdiskussion in Berlin über die Zukunft der Ukraine vorgeschlagen, doch des lieben Frieden willens Putin die Krim, Luhansk und Donezk zu überlassen "wie eine Eidechse bei Gefahr ihren Schwanz abstößt". Längst wissen wir, dass Putin damit nicht zufrieden wäre. Die von ihm beschworene „Russische Welt – russkij mir“ reicht weit in viele andere Länder hinein, zum Beispiel in die baltischen. Sein Feind ist nicht die Nato, sondern die Demokratie.
Er muss mit allen Mitteln gestoppt werden, bevor es zu spät ist.
Zitierweise: Ekkehard Maaß, „Russlands Rückfall in finsterste Zeiten“, in: Deutschland Archiv, 05.01.2022, aktualisiert 02.03.2022, Link: Externer Link: www.bpb.de/345509. Alle Texte im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Der Autor ist Liedermacher, Publizist und Übersetzter in Berlin und leitet seit 1996 die von ihm gegründete Deutsch-Kaukasische Gesellschaft e.V. (Externer Link: www.d-k-g.de). Schon in den 1970er und 1980er-Jahren fanden in seiner Wohnung zahlreiche literarische Salons und Diskussionen mit Autorinnen und Autoren aus der Sowjetunion und der DDR statt. Der KGB nahm die Wohnung daher gemeinsam mit der DDR-Geheimpolizei Stasi in Fünfjahrespläne kooperierender Abteilungen auf, mit dem Ziel, die aufsässige Kulturszene dort zu zersetzen und Maaß durch IMs kontrollieren und "positiv beeinflussen" zu lassen - was jedoch misslang (vgl. beigefügtes MfS-Dokument von 1986 im bpb-Text Interner Link: https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/stasi/218423/kgb-verzahnung).