In Berlin helfen längst auch Flüchtlinge aus Syrien geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern. Und fühlen sich sehr daran erinnert, was ihnen zum Beispiel in Aleppo geschah. Eine Reportage von Cedric Rehman.
Ibrahim Youssef trägt den gelben Overall der freiwilligen Helfer. Er ist auf dem Weg zu einem weißen Zelt auf dem Gelände des Ankunftszentrums für Asylsuchende an der Oranienburger Straße in Berlin-Reinickendorf. Bündel von Kleidung sind dort gestapelt. Ukrainer warten schon in einer Schlange vor dem Zelteingang, um frische T-Shirts oder Hosen entgegenzunehmen. Wer weiß, wie viel in ihre Koffer und Rucksäcke passte, als sie Kiew, Charkiw und andere bombardierte Städte in der Ukraine verließen.
Ibrahim Youssef, 30 Jahre alt, beginnt seine Morgenschicht in Reinickendorf bei der Kleidungsausgabe für die Ukrainer. Er raucht noch eine Zigarette, bevor er das Zelt betritt. Und erzählt zwischen den Lungenzügen, warum er Helfer für die Geflüchteten aus der Ukraine wurde und wie es ihm damit geht.
Der Syrer studiert Molekularbiologie in Potsdam und arbeitet in einem Krankenhaus. Er verbringe seit Beginn des Krieges in der Ukraine jede freie Minute im gelben Helferoverall, sagt Youssef. Er müsse sich während der Schichten immer wieder bemühen, herauszufinden, wie er den Ukrainern im Ankunftszentrum helfen kann. Einige Helfer sprächen Russisch oder Ukrainisch, er selbst Deutsch und Englisch und natürlich Arabisch. „Junge Ukrainer sprechen oft Englisch, aber manchmal geht es auch nur mit Google-Translator“, sagt er.
Verständnis gibt es trotz Sprachbarriere
Die Anwendung auf dem Smartphone reicht offenbar aus, um das Wichtige in Worte zu fassen. Youssef erzählt, wie er eine ältere Ukrainerin und ihre Tochter nach der Ankunft getröstet hat. „Ich habe ihnen gesagt, dass ich aus Syrien nach Deutschland geflohen bin, dass ich jetzt arbeite und studiere, dass ich in Deutschland sicher bin. Und sie werden es auch sein.“ Die Tochter habe er aufmuntern können, bei der Mutter sei er sich nicht sicher. „Ich verstehe das. Wir wissen, was es heißt, von lieben Menschen getrennt zu sein, die man vielleicht nie wiedersieht. Oder was es bedeutet, wenn das eigene Haus kaputt ist, das ganze Land zerstört.“
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Wir wissen, was es heißt, von lieben Menschen getrennt zu sein.
Seine Gedanken kreisten abends nach den Schichten, sagt Youssef. Er hat die Schlacht von Aleppo 2016 überlebt, bevor ihm die Flucht aus dem Kriegsland gelang. Er teilte sich als Student in Aleppo eine Wohnung mit Kommilitonen. Die russischen Verbündeten Bashar al-Assads griffen 2015 in den Syrienkrieg ein. Die russische Luftwaffe bombardierte Aleppo. Die von den Russen aus der Luft unterstützen Regierungstruppen zogen einen Belagerungsring um den von Assad-Gegnern kontrollierten Osten der Stadt.
Die Versorgung sei im Westen der Stadt nie so katastrophal gewesen wie im eingeschlossen Osten, erinnert sich der Syrer. „Es war trotzdem dramatisch. Einmal konnten wir uns 20 Tage nicht waschen, weil es kein Wasser gab. Als es dann endlich wieder floss, war es kalt und mitten im Winter.“
Der Syrer schmiert Stullen für die Hilfesuchenden aus der Ukraine
Youssef wird nun durch Bilder von die verschneiten und von Ruinen gesäumten Straßen in der Ukraine an die Kälte in Aleppo im Kriegswinter 2016 erinnert. Vielleicht könnte er ruhiger schlafen, würde er den Krieg in Osteuropa ignorieren. Stattdessen schmiert er wenig später in einem anderen Zelt Stullen für Ukrainer und schaut jenen ins Gesicht, denen die Spuren von Krieg und Flucht in der Mimik so eingegraben sind wie ihm vor einigen Jahren. Warum tut er sich das an?
Wenn der Syrer über Ukrainer spricht, dann klingt es nach einer Schicksalsgemeinschaft. Zwei Völker auf der Flucht vor russischen Bomben, das verbinde, meint er. Youssef ist davon überzeugt, dass die Ukrainer nun von den Erfahrungen der Syrer bei der Integration in Deutschland profitierten könnten. Die Syrer seien verpflichtet, diese weiterzugeben. „Ich verstehe die Ukrainer“, wiederholt er immer wieder wie ein Mantra. Und er erinnert sich auch daran, dass die Deutschen 2015 Syrern geholfen haben. „Ich bin jetzt Teil dieser Gesellschaft und in einer solchen Lage muss ich was tun. Wir bräuchten eigentlich noch viel mehr Freiwillige.“
Geholfen werde allen Geflüchteten
In den sozialen Netzwerken und in Debattenbeiträgen in Zeitungen kursiert die Kritik, Deutsche und Europäer reagierten mit größerer Empathie auf die Geflüchteten aus der Ukraine als auf jene aus Syrien oder Afghanistan. Hautfarbe und Religion spielten dabei eine Rolle, heißt es. Ibrahim Youssef teilt die Meinung nicht, dass im Umgang mit Kriegsvertriebenen jetzt mit zweierlei Maß gemessen werde. „Wir haben Medizinstudenten aus arabischen und afrikanischen Ländern hier, die aus der Ukraine geflohen sind, nicht nur Ukrainer. Und für uns spielt die Herkunft überhaupt keine Rolle“, sagt er. Er habe außerdem die Aufnahme der Syrer 2015 in Deutschland als herzlich in Erinnerung.
Anas Modamani geht es nicht gut. Er erzählt, dass er wenig schlafe und bestellt in einem Café am Michaelkirchplatz erst einmal einen Cappuccino. Modamanis Gesicht wurde 2015 in ganz Deutschland bekannt, nachdem es auf seinem Selfie neben Angela Merkel verewigt und von Nachrichtenagenturen verbreitet worden war. Die Bundeskanzlerin besuchte im September 2015 die Geflüchteten-Unterkunft in Berlin-Spandau. Modamani wohnte dort nach seiner Ankunft in Berlin. Das Bild von dem jungen Syrer und der deutschen Kanzlerin ging um die Welt.
Zu Hause wartet die Freundin aus Kiew
Anas Modamani, 24 Jahre alt, studiert Wirtschaftskommunikation an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Berlin und macht gerade ein Praktikum. Wenn er nach Hause kommt, wartet dort seine ukrainische Freundin Anna auf ihn. „Ich versuche sie abzulenken, schlage vor, dass wir einen Film anschauen. Alles, was sie davon abhält, ständig Nachrichten zu schauen“, sagt der Syrer.
Eine syrisch-ukrainische Liebe, ist da doch etwas dran an einer besonderen Verbindung der beiden von den Russen bombardierten Völker? Modamani lächelt. „Anna kommt aus Kiew. Vom Krieg im Osten der Ukraine war sie persönlich nicht betroffen“, sagt Modamani. Der Syrer und die Ukrainerin lernten sich zufällig in Berlin kennen. Modamani schwärmt von seinen Besuchen in Kiew bei der Familie seiner Freundin. „Man sagt ja, Berlin sei eine Stadt, die niemals schläft. Aber in Kiew stimmt das wirklich.“
Die Heimatstadt ist ein Trümmerhaufen
Modamani kostet es Kraft, seine Freundin aufzumuntern. „Ich bin selbst so traurig“, sagt er. Es falle ihm schwer, ihr Hoffnung zu machen. Er zückt sein Smartphone und klickt einige Bilder an. Sie zeigen einen Trümmerhaufen, der wie von einer Walze planiert wirkt. Das sei einmal seine Heimatstadt Darayya, ein Vorort von Damaskus, gewesen. Dann kamen 2015 die russischen Bomber. „Es ist so schwer, Krieg gegen Russland zu führen“, sagt der Syrer.
Als Modamani die Nachrichten von dem Beschuss einer Geburtsklinik in der ostukrainischen Hafenstadt Mariupol gehört hat, sah er sich selbst wieder in Darayya. „Ich war mit meinem Vater unterwegs in der Stadt. Und dann erinnere mich an das Geräusch der Explosion. Es wurde alles schwarz. Sie haben ein Krankenhaus direkt getroffen. Wir sind hingegangen, um zu helfen.“ Modamani verzichtet darauf, zu schildern, was er dabei erlebt hat.
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Und jetzt sieht es in der Ukraine schon aus wie in Aleppo
Russland trat im September 2015 mit Luftangriffen an der Seite Assads in den Krieg ein, als Modamani bereits in Deutschland war. Moskau lieferte allerdings schon zuvor Waffen an die syrische Regierung, die Darayya bombardiert hat. Ihn beunruhige jetzt, wie schnell die Zerstörung in der Ukraine voranschreite, sagt er. Die syrische Luftwaffe habe nie die Kapazität gehabt, ganze Städte in Trümmerwüsten zu verwandeln. Das sei dann erst den Russen in Darayya und anderswo in Syrien gelungen. „Und jetzt sieht es in der Ukraine schon aus wie in Aleppo.“
"Der Typ hat den Verstand verloren"
Modamani fürchtet, dass das Schlimmste in diesem Krieg noch bevorstehen könnte. Der Gedanke an die Drohungen des russischen Präsidenten mit dem Einsatz von Atomwaffen gegen den Westen wecke schlimme Ängste bei ihm. „Der Typ hat den Verstand verloren. Er hat meine Landsleute umgebracht und jetzt macht er das in der Ukraine. Ich habe mich integriert und werde bald Deutscher. Ich will nicht noch mal in Deutschland einen Krieg erleben“, sagt er.
Die Syrer in Deutschland empfänden den Krieg in der Ukraine aus vielen Gründen als existenzielle Bedrohung, erklärt Modamani. Viele von ihnen lebten immer noch in Unterkünften, weil sie es ohnehin schwer hätten auf dem angespannten Wohnungsmarkt. Mit der Flucht vieler Ukrainer werde es für Syrer gerade in Berlin nicht einfacher werden, eine Wohnung zu finden. Modamani äußert auch die Befürchtung, die Krise werde immer schwerer zu bewältigen sein wird, je zerstörerischer der Krieg in der Ukraine tobt. „Wie wird es nächste Woche in Berlin aussehen? Und sind die Helfer auch in zwei Monaten noch da?“, fragt er.
Vertreibung ist auch eine Waffe
Der Syrer ist überzeugt, dass Russland von der Vertreibung möglichst vieler Ukrainer profitiere. Auch die Flucht von Millionen Syrern sollte seiner Meinung nach Europa 2015 destabilisieren. „Putins Ziel ist, Europa Angst zu machen“, sagt er.
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Putins Ziel ist, Europa Angst zu machen
Modamani dreht eine Runde in der Märzsonne um das Engelbecken, nachdem er seinen Cappuccino ausgetrunken hat. Es ist Nachmittag, und bald wird er nach Hause gehen, um seine Freundin Anna irgendwie auf andere Gedanken zu bringen. Er könne sie nicht anlügen. „Ich muss ja in der Realität bleiben, wenn ich mit ihr spreche.“
Er hat zumindest die Hoffnung, dass die Deutschen durch die Ankommenden aus einem Land in ihrer Nachbarschaft sensibler werden für den Schmerz aller Geflüchteten. „Egal, ob Syrer, Ukrainer oder Afghanen, sie kommen alle hierher, weil sie vor einer gefährlichen Situation fliehen. Sonst verlassen Menschen ihre Heimat nicht“, sagt er. Und ja, vielleicht werde auch Wladimir Putin eines Tages Geschichte sein. Aber Russland habe in Syrien sein Waffenarsenal und seine Strategie der verbrannten Erde erproben können, die Welt habe das damals nicht begriffen. „Bis Putin nicht mehr an der Macht ist, werden noch viele Zivilisten sterben.“
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