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Analyse: Wirtschaftliche Entwicklung durch Rückschritt – zu den Perspektiven der russischen Volkswirtschaft | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Wirtschaftliche Entwicklung durch Rückschritt – zu den Perspektiven der russischen Volkswirtschaft Russland-Analysen Nr. 426

Michael Hüther Simon Gerards Iglesias

/ 11 Minuten zu lesen

Russlands Wirtschaft unterlag in den letzten Jahren einer gesteuerten Modernisierung von oben, die nun durch den Krieg alle Mängel offenlegen wird.

Nächtlicher Blick auf die sibirische Stadt Omsk. Im Hintergrund: Die Ölrafinerie von Gazprom Neft. (© picture-alliance/dpa, TASS | Gavriil Grigorov)

Zusammenfassung

Der Krieg gegen die Ukraine wird in der mittel- bis langfristigen Perspektive für Russland tiefgreifende wirtschaftliche Konsequenzen haben. Die Struktur der russischen Ökonomie zeigt, dass eine innovative Erneuerung aufgrund historisch gewachsener institutioneller Barrieren nicht möglich erscheint. Die Abhängigkeit vom Rohstoffsektor könnte zu weiterer Deindustrialisierung oder zu einer importsubstituierenden Industrialisierung auf niedrigem Niveau führen. Gemeinsam mit dem Importschock, den Russland wegen der Sanktionen erleidet, werden diese Entwicklungen den Wohlstandsverlust verstärken.

Strukturelle Schwächen einer Rohstoffökonomie: historische und theoretische Gründe

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Weltlage politisch und ökonomisch verändert. Für die künftige politische Kooperation mit Russland unter dem gegenwärtigen Regime gibt es derzeit keine konstruktive Perspektive. Das gilt ebenso für die ökonomische Entwicklung. Die russische Führung selbst hat ihre politischen und wirtschaftlichen Optionen faktisch auf China, die Türkei, Indien und einige Randstaaten verlagert. Zusätzlich sind die gegenwärtigen und zu erwartenden Probleme der russischen Volkswirtschaft geprägt von historisch gewachsenen Strukturen des Wirtschaftssystems, das rückwärtsgewandt ist. Die Aussichten für die russische Volkswirtschaft sind alles andere als rosig.

Strukturelle Defizite der russischen Volkswirtschaft

Als Wladimir Putin im Jahre 1999 das Millennium Manifest – eine Abhandlung über die Lage der Nation – verfasste, stand das Land am Abgrund. Die makroökonomische Situation war angesichts von Kapitalflucht und De-Investitionen im Zuge der Schuldenkrise des Jahres 1998 angespannt und so attestierte der damalige russische Ministerpräsident seinem Land multiple Schwächen: Ein nicht funktionierendes Rechtssystem, geringe Investitionen, technologische Rückstände sowie ein niedriger Lebensstandard schwächten Russlands weltpolitische Position und gefährdeten die Zukunft. Verstärkt wurde diese negative Wahrnehmung in Russland durch die vom Westen seit den 1980er Jahren gespiegelte historische Rückständigkeit, die einen Anschluss an internationale Standards verhindert hätte. Diese Positionierung ist nicht überwunden; sie hat historisch-institutionelle Gründe, die lange zurückliegen und die wirtschaftlichen Strukturen bis in die Gegenwart prägen.

Putins Vision und Versprechen im Jahre 1999 waren es, Russland in ein neues Zeitalter des Wohlstands zu führen, das auf einer innovationsbildenden Ökonomie basieren sollte. Dafür hätte Russland einen grundlegenden strukturellen und institutionellen Wandel vollziehen müssen, um die Dominanz des Rohstoffsektors, seit Jahrzehnten die Stütze der russischen Wirtschaft, zu durchbrechen und Raum für neue Sektoren in der verarbeitenden Industrie zuzulassen. Eine schnelle Erholung aus der Wirtschaftskrise von 1998 war aber zunächst nur durch eine Stabilisierung der Staatsfinanzen und eine Förderung der wettbewerbsintensivsten Industrien zu erwarten, sodass das Wirtschaftswachstum durch den Export von Rohstoffen angetrieben wurde, deren Preise sich in den frühen 2000er Jahren stabilisierten. Die Opportunitätskosten für die Umstellung auf neue Sektoren waren zu diesem Zeitpunkt gewaltig und schienen politisch nicht tragbar. Denn infolge der hohen Rohstoffpreise stiegen die entsprechenden Exporte Russlands zwischen 1999 und 2007 stark an und brachten dem Land einen enormen Handelsbilanzüberschuss als eine Art Windfall-Profit.

Russland ist eine Rohstoffökonomie

Alle Indikatoren zeigen heute, dass Russland strukturell als Rohstoffökonomie verharrt und institutionell stagniert oder gar regrediert. Der Autoritarismus des politischen System Putins versucht dieses (selbst bedingte) Versagen durch Strategien wie Großmachtattitüden oder Wertkonservatismus zu überdecken. Allerdings galten diese Schwächen schon vor dem Angriff auf die Ukraine. Die russische Wirtschaftsstruktur lässt sich historisch und theoretisch wie folgt skizzieren:

  • Aus wirtschaftshistorischer Perspektive: Wirtschaftliches Wachstum wurde in Russland durch massive quantitative Mobilisierung von Produktionsfaktoren erzielt, zeitweise unter Inkaufnahme hoher Verluste an Humankapital. Institutionelle Barrieren verhindern nachhaltig eine diversifizierte industrielle Entwicklung. Der lange Schatten der Sowjetunion liegt über der russischen Wirtschaftsstruktur und verhindert die Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien sowie die Herausbildung einer innovativen Unternehmerkultur.

  • Aus wirtschaftstheoretischer Perspektive: Die herausragende Stellung des dominanten Rohstoffsektors in der russischen Ökonomie ist auf eine pfadabhängige Entwicklung zurückzuführen, die eine Umstellung auf andere Sektoren verhindert. Der Exportboom von Rohstoffen verdrängt das Verarbeitende Gewerbe, deren Produkte aufgrund der Aufwertung des Rubels sowohl auf dem Weltmarkt als auch gegenüber Importprodukten nicht konkurrenzfähig sind. Dieses als Holländische Krankheit bekannte Phänomen führt zur Deindustrialisierung und zur Zementierung der herausragenden Stellung des Rohstoffsektors.

  • Bereits diese Befunde eröffnen die Aussicht auf eine anhaltend schwache, wenn nicht – bezogen auf das Pro-Kopf-Einkommen – schrumpfende Entwicklung. Denn die strukturellen Hemmnisse und institutionellen Mängel werden künftig nicht mehr wie bisher durch die Erlöse aus dem Export von Ressourcen kompensiert werden, und es gibt keine Aussicht auf eine sinnvolle Nutzung dieser Einnahmen.

Sanktionen als Beschleuniger struktureller Verwerfungen

Bereits seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 fügen die Wirtschaftssanktionen des Westens der russischen Volkswirtschaft Schaden zu. Das umfassende westliche Sanktionsregime ab Februar 2022 erschwert den Marktzugang Russlands deutlich. Die für einen forcierten Strukturwandel benötigten Technologieprodukte sind nur schwer zu erhalten und das Engagement ausländischer Unternehmen hat sich bereits einigen Jahren deutlich reduziert. So ist der Abstand der heimischen Industrie zum Weltstandard vielfach größer geworden. Die Importbeschränkungen bei Technologieprodukten und die Isolierung des Finanzsystems dürften dabei am wichtigsten sein, auch wenn noch immer kein umfassendes Digitalembargo, wie ein Importverbot von Geräten oder das Abschneiden vom Internet, durchgesetzt wurde.

Türkei, China und Ex-Sowjetstaaten als neue Partner Russlands

Alternative Handelspartner, allen voran China, können den Westen sowohl als Import- als auch als Exportmarkt auf absehbare Zeit nicht adäquat ersetzen. Erste Entwicklungen zeigen, dass alternative Handelspartner zwar vom Decoupling des Westens von Russland profitieren können, und vereinzelt mehr Ausfuhren nach Russland verzeichnen. Allerdings sind die Importe aus Indien, China oder Brasilien seit Ausbruch des Krieges im Vergleich zu den Vorkriegswerten nur leicht gestiegen oder sogar gesunken. Treffenderweise zogen die Exporte aus der Türkei nach Russland sowie aus dem Dunstkreis der ehemaligen UdSSR, der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GuS), stark an. Auf der russischen Exportseite wird hingegen erst dann ein adäquater Ersatz für Europa gefunden sein, wenn eine entsprechende Infrastruktur wie Pipelines oder LNG-Terminals aufgebaut ist. Ölexporte gehen nach China, Indien und Nordafrika, allerdings unter massiven marktbedingten Preisabschlägen.

Fortschritt durch Rückschritt?

Die Energieexporte Russlands haben sich daher volumenmäßig deutlich reduziert, wertmäßig aufgrund starker Preissteigerungen bei Gas jedoch zugelegt, sodass die Handelsüberschüsse angestiegen sind und der Rubel überbewertet ist. Die russische Regierung sieht sich angesichts des schlecht verlaufenden militärischen Feldzuges und der zunehmenden Belastung der heimischen Bevölkerung durch hohe Inflation genötigt, genau jene Maßnahmen zu verstärken, die der Holländischen Krankheit weiter Vorschub leisten: Förderung des militär-industriellen Komplexes sowie die soziale Abfederung der Teuerungseffekte für die Privaten.

Langfristig wird Russland große wirtschaftliche Schäden hinnehmen müssen, wie selbst die Szenarien aus kremlnahen Institutionen zeigen. So sollen die staatlichen Mindereinnahmen aus fehlenden Erdölgeschäften mit Europa ab dem Jahr 2027 jährlich 6,6 Milliarden Dollar betragen. Rückgänge in den Produktionsvolumina der Rohstoffindustrien werden aufgrund wegfallender Märkte nicht mehr ausgeschlossen, wie es aus geleakten internen Strategiepapieren heißt, sodass diese Verluste nicht vollständig kompensierbar sind. Dieser negativen Entwicklung vorgreifend zeigt das Technologieembargo bereits seine Wirkung in einem anderen Sektor, obwohl es dem Regime noch gelingt, über Lücken im Sanktionsregime und durch Schmuggel dem teilweise zu entgehen. So kann in Russland weiterhin westliche Software eingesetzt und aktualisiert werden und Hardware-Elektronik gelangt auf den Markt.

Es wäre falsch zu argumentieren, dass Russland die Wirkung von Sanktionen nicht spüren würde. Sanktionen treffen das russische Geschäftsmodell stark, da Russland – anders als die ehemalige Sowjetunion – viel stärker in globale Wertschöpfungsketten abhängig integriert ist. Die Frage ist vielmehr, wie sich Russland vor dem Hintergrund der bestehenden Sanktionen entwickeln wird.

Verhalten multinationaler Unternehmen und Ausweg China

Dazu lohnt ein Blick auf das Verhalten der ausländischen Unternehmen, die in Russland aktiv sind. Denn im Zuge der staatlich verhängten internationalen Sanktionen reagierten zahlreiche multinationale, vor allem westliche Unternehmen auf den Überfall Russlands auf die Ukraine. Sie fuhren ihr Russlandgeschäft zurück, reduzierten Investitionen, stießen Anteile an russischen Firmen ab oder belieferten den russischen Markt nicht mehr. Eine Vielzahl dieser unterschiedlichen Entscheidungen der Unternehmen fand dabei im Schatten, abseits des Sanktionsregimes statt, auch im profitablen Energiesektor. Mehr als die Hälfte der deutschen Unternehmen mit investivem Engagement hat sich bereits aus Russland komplett zurückgezogen. Amerikanische und andere westliche Unternehmen fahren ähnliche Divestment-Strategien.

Inwieweit China aus geostrategischen Gründen über eine politisch gestützte Investitionsstrategie Russlands Industrie stärken will und damit den Wiederaufbau sowie die technologische Ertüchtigung der russischen Industrie verfolgt, bleibt abzuwarten. Vorerst ist die chinesische Position davon geprägt, Russland als Opponent des Systemrivalen USA zu stärken, aber tatsächlich mehr verbal als durch praktische Hilfe oder Unterstützung. Mittelfristig dürfte China stärker auf die Regeln des Völkerrechts achten, die es selbst bei seinem Aufstieg immer eingefordert hat. Insofern erscheinen eine gewisse Flexibilität und Anpassung der chinesischen Position denkbar. Die Annahme jedenfalls, dass China Russland vorbehaltlos unterstützt, und zwar auf längere Sicht, ist nicht per se plausibel.

Das Geschäftsmodell Russlands wird infrage gestellt

Die Projektion makroökonomischer Indikatoren zeigt, dass Russland insgesamt einen Rückgang seiner Wirtschaftsleistung im unteren einstelligen Bereich in den Jahren 2022 und 2023 erleiden dürfte. Damit fiele die Schrumpfung der Wirtschaft geringer aus als in der Finanzkrise 2008 und wäre deutlich schwächer als in den postsowjetischen Umbruchjahren 1992 – 1994, als zweistellige BIP-Rückgänge zu verzeichnen waren. Zentral für die kurzfristige Stabilisierung der russischen Ökonomie nach Ausbruch des Krieges war die Geldpolitik. Durch das entschiedene Agieren der Zentralbankchefin Elwira Nabiullina konnte die Inflation auf einem mittleren Niveau stabilisiert werden; allerdings erfordert die notwendige Importsubstituierung massive Anlageinvestitionen, die nur bei niedrigeren Zinsen erreicht werden können, was nach massiver Zinsanhebung im Frühjahr die deutliche Herabsetzung im Laufe des Jahres 2022 erklärt. Der moderate Rückgang des BIP ist auf die hohen Energieexporte Russlands zurückzuführen, denn der Konsum und die Investitionen sind stark rückläufig und auch die Industrieproduktion geht zurück. Der hohe Gaspreis gleicht den Mengenrückgang im Export noch aus, allerdings wird auf absehbare Zeit ein Gasembargo die Einnahmen herunterdrücken, vor allem wenn russische Energieprodukte nur noch mit Preisnachlässen auf den verbliebenen Märkten abgesetzt werden können.

Mit anderen Worten: Das Geschäftsmodell der russischen Ökonomie – Rohstoffexporte nach Europa und Import von Hochtechnologie – wird durch Sanktionen und Gegensanktionen massiv geschwächt. Zusätzlich war das Geschäftsmodell ohnehin schon durch die Klimapolitik der EU bedroht, weil die russischen Energierohstoffe durch Dekarbonisierung einen wichtigen Absatzmarkt verlieren. Parallel dazu findet ein veritabler Braindrain statt, der Russland vor gewaltige Herausforderungen stellt, den industriellen Niedergang zu stoppen.

Abseits der Statistiken: Der demografische Exodus


Ein schwierig zu kalkulierender Effekt des Krieges und der Sanktionen sind die demografischen Konsequenzen. Der negative makroökonomische Trend und sinkende Reallöhne führen zusammen mit der stärker werdenden staatlichen Repression und nicht zuletzt durch die Teilmobilisierung zu einer Auswanderungswelle, insbesondere in benachbarte Länder mit freien Visaregelungen für Russen wie die Türkei, Aserbaidschan und Georgien. Vor allem die im September 2022 angeordnete Teilmobilmachung hat diesen Effekt verstärkt, sodass hier von einem spürbaren Exodus an Humankapital gesprochen werden kann.

Das renommierte Lewada-Institut maß in einer Umfrage, dass die gesellschaftliche Zufriedenheit nach Bekanntwerden der Teilmobilmachung Ende September 2022 stark einbrach und die Stimmung unter der russischen Bevölkerung einen historischen Tiefstand erreichte. Zudem äußerte erstmals seit Kriegsbeginn eine deutliche Mehrheit große Sorgen über die Situation in der Ukraine. Der Rückhalt für den Krieg schwindet und die ökonomischen Rücklagen des Landes werden langsam, aber stetig verbraucht. Die Verarmung der Russen wird voranschreiten, wohingegen die staatliche Propaganda ihre verführerischen Dienste effektiv zu nutzen scheint, wenn fast 70 Prozent der Befragten sich als freie Bürger sähen. Russland ist auf dem Weg zu einem totalitären Staat zu werden.

Daher fliehen seit Kriegsbeginn Hunderttausende aus dem Land und seit der Teilmobilisierung steigen diese Zahlen nochmals. Russland veröffentlicht keine Migrationsstatistiken, sodass die Anzahl der Auswanderungen lediglich geschätzt werden kann. Bereits Mitte März, nur zwei Wochen nach Kriegsausbruch, sollen über 300.000 Personen das Land verlassen haben, die überwiegende Mehrheit unter ihnen ist gebildet, jung, hochqualifiziert und männlich, was die wirtschaftliche Entwicklung des Landes auf Jahrzehnte empfindlich treffen wird. Zudem scheint das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht, denn je länger der Krieg dauert und je intensiver die Repression im Land wird, desto mehr Push-Faktoren wird es für potenzielle Emigranten geben.

Dabei verstärkt der Exodus an Arbeitskräften durch den Krieg ein schon länger bestehendes demografisches Problem in Russland. Niedrige Geburtenraten, geringe Lebenserwartung, Alkoholismus und Auswanderung setzen der russischen Wirtschaft zu. Die Regierung versucht mit Umbildungsprogrammen und Anreizen dem Exodus an qualifizierten Arbeitskräften entgegenzuwirken. Ob diese Maßnahmen den Trend umkehren können, ist höchst fraglich, weil bereits in den Vorkriegsjahren in Russland ein massiver Braindrain zu verzeichnen war.

Russland als Sowjetunion 2.0: Perspektive eines Verfalls

Mängel im Ordnungsrahmen, robuste Korruption und ineffiziente Bürokratien verursachen Unberechenbarkeit und entwerten Investitionsbedingungen, die in solchen ewigen Potentialökonomien ohnehin immer nur mühsam gestaltet werden. Hinzu kommt, dass der öffentliche Sektor schon länger expandiert und privates Unternehmertum bedrängt. Bereits seit Mitte der 2000er Jahre sorgt sich die russische Regierung besonders um strategisch wichtige Sektoren wie die Energiewirtschaft und tendiert – wie beim Projekt Sachalin 2 – dazu, ausländische Beteiligungen nicht nur für die Zukunft zu verhindern, sondern auch bestehende Verträge auszuhebeln. So hatte Russland bereits mit dieser "neuen Industriepolitik", die mit Verweis auf die Notwendigkeit nationaler Champions begründet wurde, als Investitionsstandort viel von dem Vertrauen eingebüßt, dass es durch die mutigen Reformen im Bereich des Marktzugangs und der Besteuerung nach der Jahrtausendwende errungen hatte.

Diese Mischung aus überkommener sektoraler Industriepolitik und gezielten politischen Prestigeprojekten entsprang einer Tradition, die Modernisierung von oben zu steuern. Dieses Modell hat nirgends lange getragen. In dieser Hinsicht kehrt sich das Geschäftsmodell Russlands mit dem einstigen Rohstoffsegen in einen Rohstofffluch um. Die starke Abhängigkeit vom Rohstoffexport wird im Hinblick auf eine Abkopplung des Westens zum Verhängnis. Die industrielle Entwicklung wird maßgeblich davon abhängen, wie sich russische Produzenten von wichtigen Technologien des Westens unabhängig machen können. Hier spielt vor allem China eine entscheidende Rolle, das in einigen Branchen bereits der wichtigste Lieferant für die russischen Industrien ist, aber insbesondere im High-Tech Bereich die westlichen Importe noch nicht ersetzen kann.

Vor diesem Hintergrund mag man den Angriff auf die Ukraine als politischen und ökonomischen Selbstmord deuten, denn keines der identifizierten Probleme wird gelöst, alles wird stattdessen auf mittlere und längere Sicht schlimmer. Man kann den Angriff aber auch als Mittel der letzten Wahl deuten, da in Kenntnis der Probleme der volkswirtschaftliche Niedergang ebenso unausweichlich erscheinen muss wie eine dann drohende politische Destabilisierung. Der Krieg dient als Instrument einer Innenpolitik, die mangels Fortschritts und Erfolg nur noch außenpolitisch gerahmt wird.

Die historische Größe Russlands, seine territoriale Ausdeutung, das operettenhafte Gehabe im Kreml sind die offenbar tragenden Botschaften für eine Gesellschaft, die eigentlich keinen Grund hat, historische Bedeutung – jenseits der Kultur – zu verspüren. Weder das zaristische Regime noch die Sowjetdiktatur bieten dafür Anlass. Gesellschaften leben im Hier und Jetzt sowie in Hoffnungen und Erwartungen – in beiden Kontexten hat Putin tatsächlich nichts anzubieten. Und so droht aus Russland eine Sowjetunion 2.0. zu werden: unabsehbar aus ökonomischem und gesellschaftlichem Verfall kodiert.

Dieser Beitrag ist eine kürzere Fassung von: Gerards Iglesias, Simon / Hüther, Michael, 2022, Wirtschaftliche Entwicklung durch Rückschritt – zu den Perspektiven der russischen Volkswirtschaft, IW-Report Nr. 51, 51, Externer Link: https://www.iwkoeln.de/

Fussnoten

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Michael Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft und Honorarprofessor an der European Business School, Oestrich-Winkel. Seine Arbeiten beziehen sich theoretisch wie historisch auf Fragen der Wirtschaftsordnung, Wirtschaftspolitik, vor allem auf der Steuer- und Finanzpolitik, sowie der volkswirtschaftlichen Strukturwandel und der Globalisierung.

Neueste Publikationen:
Hüther, Michael, 2022, Welche Zukunft hat die Soziale Marktwirtschaft? Herder, Freiburg.
Hüther, Michael / Diermeier, Matthias / Goecke, Henry, 2021, Erschöpft durch die Pandemie. Was bleibt von der Globalisierung?, Springer Verlag, Heidelberg.
Demary, Markus / Hüther, Michael, 2022, How large is the risk of stagflation in the Eurozone?, in: Interconomics, Jg. 57/Nr. 1, S. 34–39.
Hüther, Michael, 2021, Der lange Schatten der Hyperinflation, in: List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, 46. Jg., S. 273–298.

Dr. Simon Gerards Iglesias ist persönlicher Referent des Direktors des Instituts der deutschen Wirtschaft. Als Wirtschaftshistoriker befasst er sich aktuell insbesondere mit Themen der internationalen Wirtschaftsbeziehungen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten.

Neueste Publikationen:
Fremerey, Melinda / Gerards Iglesias, Simon, 2022, Abhängigkeit – Was bedeutet sie und wo besteht sie? IWReport, Nr. 56, Köln, Externer Link: https://www.iwkoeln.de/studien/melinda-fremerey-simon-gerards-iglesias-abhaengigkeitwas-bedeutet-sie-und-wo-besteht-sie.html
Gerards Iglesias, Simon, 2022, Rohstoffpartnerschaft mit Lateinamerika. Kooperationen in Zeiten globaler Krisen, IW-Kurzbericht, Nr. 81, Köln, Externer Link: https://www.iwkoeln.de/studien/simon-gerards-iglesias-kooperationen-in-zeitenglobaler-krisen.html
Gerards Iglesias, Simon / Hüther, Michael, 2022, Wirtschaftliche Entwicklung durch Rückschritt – zu den Perspektiven der russischen Volkswirtschaft, IW-Report Nr. 51, Externer Link: https://www.iwkoeln.de/studien/simon-gerards-iglesias-michaelhuether-wirtschaftliche-entwicklung-durch-rueckschritt-zu-den-perspektiven-der-russischen-volkswirtschaft.html