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Analyse: Unsichtbarer Widerstand: Handlungsfähigkeit und Solidarität im Angesicht des Autoritarismus | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Unsichtbarer Widerstand: Handlungsfähigkeit und Solidarität im Angesicht des Autoritarismus Russland-Analysen Nr. 466

Marija B.

/ 15 Minuten zu lesen

Unter dem Radar: Russische Aktivist:innen nutzen kreative und sichere Wege wie Solidarität und dezentrale Strukturen, um den Repressionen des autoritären Regimes zu entgehen.

Der russische Oppositionsaktivist Wladimir Kara-Mursa, der vom russischen Justizministerium auf die Liste der ausländischen Agenten gesetzt wurde, wird vor einer Anhörung vor dem Moskauer Bezirksgericht Basmannyj von Polizeibeamten begleitet. (© picture-alliance/dpa, ASS | Sergei Bobylev)

Zusammenfassung

Eine aktuelle Studie des Hannah-Arendt-Zentrums zeigt, dass die Beteiligung an zivilgesellschaftlichen Initiativen Russ:innen hilft, horizontale Beziehungen aufrechtzuerhalten und auszubauen und gemeinsam mit anderen aktiv und politisch handlungsfähig zu bleiben. Angesichts der stärker gewordenen Repressionen, mangelnder Ressourcen und der fehlenden Aussicht auf baldige Veränderungen in Russland blieben viele Aktivist:innen im Untergrund, indem sie keine NGO registrieren und Öffentlichkeit meiden. Die Notwendigkeit, "unter dem Radar" der Repressionsmaschinerie zu bleiben, führt zu kreativen Lösungen, horizontaler Koordination und einer verstärkten Rolle von Ressourcenzentren und Plattformen, die Zusammenarbeit ermöglichen. Gegenwärtig ist es in Russland aufgrund der Gefahr politischer Repression nicht möglich, Aktivismus so transparent und zentralisiert zu organisieren wie in Demokratien. Dennoch leisten Aktivist:innen zivilgesellschaftlichen und politischen Widerstand.

Herausgeber der Länderanalysen

Die Russland-Analysen werden von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e.V., dem Deutschen Polen-Institut, dem Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien, dem Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung und dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) gGmbH gemeinsam herausgegeben. Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb veröffentlicht die Analysen als Lizenzausgabe.

Praktische Solidarität als Methode des Widerstands

In Demokratien und Autokratien gibt es grundlegende Unterschiede im zivilgesellschaftlichen Aktivismus. Wenn man für Umweltproteste oder die Hilfe für Betroffene häuslicher Gewalt genauso heftig verfolgt wird wie für Demonstrationen gegen den Krieg oder Menschenrechtsarbeit, wird jeder zivilgesellschaftliche Aktivismus im Grunde politisch.

Von den politischen Repressionen sind inzwischen nicht nur politische Oppositionsführer:innen betroffen, sondern auch zivilgesellschaftliche Aktivist:innen, Journalist:innen und Dissident:innen jeden Genders, Alters und Status. So werden Organisationen und natürliche Personen mit einem diskriminierenden Status belegt. Die horizontalen Beziehungen und der Glaube an Veränderungen werden schwächer, während die Atomisierung und Fragmentierung der Gesellschaft zunehmen. Die effektivste Art und Weise, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, ist solidarisches Handeln.

Solidarität kann selbst unter extrem widrigen Bedingungen wie in Russland praktiziert werden, wo den Menschen die Verwirklichung ihrer Rechte, Freiheiten und Möglichkeiten sowie der Zugang zu Ressourcen verwehrt wird. Solidarische Praktiken ermöglichen es russischen Bürger:innen, sich zu kollektivem Handeln und für gesellschaftliches Engagement zusammenzuschließen.

Der Beitrag stützt sich auf eine aktuelle Studie des Hannah-Ahrendt-Zentrums. Die Autor:innen haben ihre Definition von Zivilgesellschaft auf eine Weise entwickelt, die die Komplexität und Fluidität der politischen Realität im heutigen Russland widerspiegelt. Demzufolge besteht die Zivilgesellschaft aus der Gesamtheit aller Initiativen, deren Teilnehmer:innen:

  • aktiv Solidarität praktizieren;

  • bestrebt sind, die Lebensbedingungen zu verbessern, Rechte und Freiheiten zu verteidigen, Gerechtigkeit herzustellen, politische Ansichten zu äußern oder sich für soziale und politische Veränderungen einzusetzen;

  • soziale Probleme öffentlich zur Sprache bringen, die Aufmerksam darauf lenken und Gegendiskurse schaffen, die eine Herausforderung für die staatliche Agenda darstellen;

  • Ressourcen des Staates, von Unternehmen oder anderen Personen einsetzen können, wenn sie ihre eigenen Zwecke verfolgen und nicht Anweisungen „von oben“ erfüllen oder unmittelbar nach politischer Macht streben;

  • in Graswurzelinitiativen sowie professionellen Organisationen eingebunden sind, angefangen bei Chats von Aktivist:innen bis hin zu wohltätigen Stiftungen.

Diese Definition ist recht weitgefasst, damit auch die sogenannte „unzivile“ oder „nichtzivile“ [im Englischen geläufig als „uncivil society“, also illiberale gesellschaftliche Akteure, Anm. d. Red.] Gesellschaft berücksichtigt wird, also Frauen mobilisierter Soldaten, Gruppen, die Tarnnetze für die russischen Streitkräfte knüpfen und humanitäre Hilfe für die russische Front organisieren, rechtsgerichtete und prostaatliche Initiativen zu allen möglichen Themen, angefangen von Umwelt-GONGOs bis hin zu militärpatriotischen Jugendbewegungen.

Für gewöhnlich beschäftigt sich die Forschung zu Zivilgesellschaften mit liberal und demokratisch eingestellten Gemeinschaften. Allerdings gibt es in allen Ländern auch eine nichtzivile Gesellschaft. Obwohl diese sich strukturell und wertebezogen von anderen Initiativen unterscheidet, konkurriert sie mit liberalen Projekten um Freiwillige und den humanitären Diskurs, außerdem ist diese auch bereit, Protestaktionen zu organisieren. Viele Vertreter:innen der nichtzivilen Gesellschaft sind erstmals 2022 aktiv geworden und vertreten unterschiedliche politische Ansichten. So können sie beispielsweise den Präsidenten unterstützen, aber nicht den Krieg. Oder sie stehen hinter der Zentralregierung, wenden sich aber gegen die Regionalverwaltung.

Wie viele unerfahrene Aktivist:innen sind sie frustriert, wenn sie es nicht schaffen, ihre gesteckten Ziele zu erreichen und Opfer politischer Repressionen werden. Gerade in solchen Momenten kann eine entscheidende Politisierung von ursprünglich prostaatlichen oder apolitischen Initiativen erfolgen: Es erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich dem prodemokratischen Aktivismus anschließen.

Die staatliche Strategie zur Förderung des Freiwilligenwesens in Russland besagt, dass bis 2030 45 Prozent der jungen Menschen in gesellschaftliche und Freiwilligenarbeit einzubinden seien, um eine „Erziehung zu einer patriotischen und gesellschaftlich verantwortungsvollen Persönlichkeit“ zu gewährleisten. Da die Regierung derart aggressiv um Aktivist:innen wirbt, hilft es wenig, diejenigen einfach zu „canceln“, die gegen eine liberale Bürgergesellschaft sind und jegliche Kooperation ablehnen. Dies würde den staatlichen Eingriffen in die Zivilgesellschaft keinen Einhalt gebieten und würde auch keine positiven Alternativen aufzeigen. Daher ist es heute besonders wichtig, auf den sich verändernden politischen Kontext zu reagieren und die vereinfachte Sichtweise eines binären Gegensatzes zwischen „guten und schlechten“ Aktivist:innen zu überwinden.

Ein vielschichtiges Verhältnis zum Staat

Das Verhältnis zwischen „nichtkommerziellen Organisationen“ (hier: NGOs) weist sehr viel komplexere Formen auf als schlicht „für“ und „gegen“ den Staat zu sein. Ein und dieselbe Initiative kann staatliche Fördergelder erhalten und gleichzeitig gegenüber Polizei und Justiz Erklärungen abgeben müssen, wie es mit ihren Kontakten zu „unerwünschten Organisationen“ aussieht. Gleichzeitig kann sie noch Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft gegen eine lokale Behörde einlegen. Darüber hinaus ist auch der Staat nicht homogen: Vertreter:innen von Polizei und Justiz, der Bürokratie sowie Aktivist:innen, die den Krieg befürworten, können auf der Ebene einer Ortschaft, einer Region oder des Landes auf unterschiedliche Weise vorgehen. Somit sind sowohl auf föderaler wie auch auf lokaler Ebene eher vielfältige Beziehungen zum Staat festzustellen.

Manchmal nutzen Initiativen von Aktivist:innen städtische Plattformen für Veranstaltungen oder sprechen mit staatlichen Medien, um ein größeres Publikum zu erreichen. Sie können auch mit föderalen Ministerien zusammenarbeiten, um beispielsweise Lehrbücher in den Schulen zu verteilen, die Lieferung von Medikamenten zu organisieren oder Lobbyarbeit für Gesetze zu betreiben.

Eine nicht unwichtige Rolle spielt hier der Umstand, dass die Finanzierung des sozialen und wohltätigen Sektors in Russland immer stärker auf den Staat ausgerichtet ist. Die sogenannten Zuwendungen des Präsidenten [russ.: „Presidentskije Granty“, Anm. d. Red.] sind in Russland das umfangreichste Förderprogramm, das es zivilgesellschaftlichen Organisationen ermöglicht, ihre Tätigkeit nachhaltig, groß und langfristig anzulegen. Sie werden aus Steuermitteln finanziert, weswegen einige Initiativen beschließen, sie zu nutzen, weil „es unser Geld ist und da soll das besser für etwas Gutes genutzt werden und nicht für Propaganda“.

Wie in jeder anderen Autokratie kann man einer Zusammenarbeit mit staatlichen Strukturen und einer Annahme staatlicher Gelder nicht gänzlich ausweichen. Die Organisationen und Aktivist:innen sind ständig und zunehmend gezwungen, Kompromisse einzugehen.

Finanzströme

Unabhängige Medien und Menschenrechtsinitiativen sind am wenigsten geneigt, Kompromisse zu machen. Nicht selten sind sie gezwungen, eine Finanzierung aus dem Ausland in Anspruch zu nehmen, was wiederum die Gefahr erhöht, als „ausländischer Agent“ eingestuft zu werden. Eine Einstufung als „ausländischer Agent“ zieht schwerwiegende rechtliche, finanzielle und soziale Konsequenzen nach sich, die einer Diskriminierung und einer Entrechtung von Bürger:innen gleichkommen. Somit bedeutet dieses Brandmal nicht nur bürokratische Lasten und eine gesellschaftliche Stigmatisierung, sondern beschränkt die berufliche Betätigung, die politische Teilhabe und Bildungsmöglichkeiten sowie den Zugang zu geistigem Eigentum oder den Verkauf von Besitztümern.

Als Alternative zu staatlicher Förderung verbleiben Crowdfunding, die Kommerzialisierung von Dienstleistungen, private Spenden und Finanzierungsmodelle in der legalen Grauzone. In den ersten Monaten nach der Vollinvasion in die Ukraine haben viele Russ:innen, die bis dahin durch regelmäßige Abo-Zahlungen Crowdfunding planbar gemacht hatten, Russland verlassen und ihre Überweisungen eingestellt, vor allem, weil ihre Gehälter nicht mehr auf die russischen Bankkonten eingingen. Hinzu kamen bürokratische oder technische Schwierigkeiten: Es gab Fälle, in denen Banken unter staatlichem Druck Daueraufträge an unliebsame NGOs stornierten und die Kund:innen darüber nicht informierten. Die russische Crowdfunding-Plattform „Friendly“ konstatiert, dass ihre Kundschaft deutlich vorsichtiger und wählerischer bei den Überweisungen an zivilgesellschaftliche Initiativen geworden sei. Das ist wohl auf den großen sozialen und politischen Druck zurückzuführen, den die Kund:innen erfahren. Dieser Rückgang wurde allerdings durch eine im Schnitt höhere Überweisungssumme kompensiert. Wer sich weiterhin dafür entscheidet, Aktivist:innen und Projekte zu unterstützten, tut dies nun mit größerem finanziellen Einsatz.

In diesem repressiven Kontext ändern sich zudem ständig die Spielregeln, und es gibt nicht die eine Strategie, um sich daran zuverlässig anzupassen. So hat die erzwungene Schließung von „Nuschna pomoschtsch“ (dt. „Es braucht Hilfe“), einer großen Crowdfunding-Plattform, die zivilgesellschaftliche Initiativen vernetzte und überprüfte, Organisationen in Gefahr gebracht, die über diese Plattform Gelder gesammelt hatten. Jurist:innen sind der Ansicht, dass unter anderem die Crowdfunding-Plattformen Planeta.ru, Boosty und Patreon zwar weiterhin existieren und tätig sind, aber in einer rechtlichen Grauzone operieren und daher leicht verboten werden könnten, falls der Staat dies beabsichtigt. Crowdfunding ist vor allem in den beiden wohlhabendsten Städten Moskau und St. Petersburg verbreitet, während in den Regionen die staatliche Finanzierung überwiegt.

Es gibt zwar in Russland Mäzenatentum als Institution und eine Beteiligung von Unternehmen an charitativen Projekten, diese sind aber als Einnahmequelle für NGOs nicht erstrangig. Hauptsächlich spenden Russ:innen in der Emigration und im Exil, denen ihr Heimatland nicht gleichgültig ist. Für diese Personen, wie auch für internationale Geldgeber, ist es schwierig den Kontakt zur Zivilgesellschaft aufrechtzuerhalten, auf jene aufmerksam zu werden, die im Untergrund tätig sind und sich rechtzeitig an neue Umstände anzupassen.

Die schwierige Finanzlage zwang zivilgesellschaftliche Organisationen dazu, sich von den gewohnten Praktiken zu verabschieden und kreative und innovative Lösungen zu suchen. Sie entwickelten alternative Wege für eine sichere Finanzierung, wobei hierzu zahlungspflichtige Telegram-Kanäle, Superchats bei YouTube, direkte Überweisungen, Abonnement-Modelle, Kryptowährungen, Proxyorganisationen, Mittlerorganisationen (darunter auch religiöser Couleur), wie auch Organisationen gehörten, die von Russ:innen im Ausland gegründet wurden. Immer stärker verbreitet ist die indirekte Unterstützung mit Ressourcen. Sie erfolgt unter anderem über die Anmietung von Räumlichkeiten, die Beschaffung von Geräten und Software, die Bezahlung von Subunternehmer:innen, Urlaubszeiten und Konferenzen sowie die Unterstützung bei Organisation und Networking.

Wie schon in den Vorkriegsjahren landet ein beträchtlicher Teil der Ressourcen in den beiden Hauptstädten. Regionale Initiativen profitieren davon nur in sehr begrenztem Maße. Hinzu kommt das Risiko, dass diese Mittel bei Aktivist:innen im Exil hängenbleiben und für Aktivitäten innerhalb der Diaspora genutzt werden. Um dies zu vermeiden, werden neue Protokolle zum Finanzmonitoring erarbeitet, die einerseits für transparente Überweisungen sorgen und andererseits die Risiken für die Empfänger begrenzen sollen.

Zivilgesellschaft im Untergrund

Da die Repressionen um ein Vielfaches zugenommen haben, waren viele Organisationen gezwungen, sich aufzulösen, sich ohne diskriminierenden Status unter neuem Namen wiederzugründen oder in den Untergrund abzutauchen. Wenn sich Initiativen für eine Arbeit aus dem Untergrund entscheiden, ist das Ziel, für die Leistungsempfänger:innen und Kooperationspartner sichtbar zu sein, gleichzeitig aber gegenüber der Repressionsmaschinerie nicht aufzufallen. Um unterhalb des staatlichen Radars zu bleiben, lassen sich viele Initiativen nicht als juristische Person registrieren, richten keine Webseite ein, veröffentlichen keine Arbeitsberichte, dezentralisieren ihre Leitung bzw. Verwaltung und versuchen, in den Medien nicht in Erscheinung zu treten. Folglich können wir von Initiativen im Untergrund nicht erwarten, dass sie die Transparenzanforderungen erfüllen, die in demokratischen Staaten gelten. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht unterstützt werden sollten.

In einer Situation, in der sich Aktivist:innen verstecken und sich für die Tätigkeit im Untergrund entscheiden müssen, ist es wichtig, von ihnen nicht zu erwarten, dass sie die Öffentlichkeit suchen werden. Stattdessen müssen neue, ungefährliche Mechanismen zur Transparenzsicherung und Berichterstattung entwickelt werden, die die Erfahrungen der Zivilgesellschaft aus anderen repressiven Kontexten einbeziehen. Es ist zu berücksichtigen, dass in einigen Fällen die Forderung nach Sichtbarkeit, nach der Nennung von Namen und Orten die gesamte geleistete Arbeit in Gefahr bringen kann. Dies betrifft etwa Tätigkeiten, bei denen Personen evakuiert werden, die nach politischen Paragrafen strafrechtlich verfolgt werden oder die Arbeit mit Menschen, die zur Strafe zwangsweise in eine Psychiatrie eingewiesen werden, wie das manchmal mit Personen gemacht wird, die an einer Geschlechtsdysphorie leiden.

Die dringendste Notwendigkeit, in den Untergrund zu gehen, besteht für Personen, die im Bereich LGBT+ arbeiten. Der Staat verfolgt diese Tätigkeit als „Extremismus“ und belegt sie mit drastischen Geldstrafen oder bestraft sie mit Freiheitsentzug. Als „rechtliche“ Grundlage dient das „Gesetz über LGBT-Propaganda“ oder die angebliche Zugehörigkeit zu einer „extremistischen Bewegung“. Fast ebenso streng werden auch Projekte verfolgt, die gegen Korruption vorgehen. Sie werden oft als „extremistische“ oder „unerwünschte“ Organisationen eingestuft. Das bedeutet, dass jede Form einer Zusammenarbeit mit ihnen, bis hin zur Nennung des Namens in einem Gespräch, als Mittäterschaft an einem Verbrechen gewertet werden kann.

Eine konsequente Reaktion auf Diskriminierungen dieser Art ist der Abbruch der öffentlichen Beziehungen zu „aufrührerischen“ Organisationen, wobei de facto die Zusammenarbeit und Unterstützung fortgeführt wird. Das ist die verbreitetste Art und Weise, Solidarität zu üben und die Verbindungen aufrecht zu halten.

Manchmal wird in einer Initiative intern beschlossen, nur eine oder zwei Personen in der Rolle von Sprecher:innen zu belassen, damit sie es sind, die die Initiative in der Öffentlichkeit repräsentieren und Interviews geben. Auf diese Personen werden dann die Dokumente ausgestellt, während andere Mitglieder des Teams anonym bleiben. Das funktioniert besonders gut, wenn die „öffentlichen Personen“ im Ausland und alle anderen in Russland leben.

Ein weiterer, nicht unwichtiger Weg, den Repressionen zu entgehen, ist die Verschleierung der Haupttätigkeit. Während Einzelpersonen versuchen, eine äsopische Sprache oder Euphemismen zu verwenden, um nicht Gefahr zu laufen, unter die Gesetze über Kriegszensur oder über „LGBT-Propaganda“ zu fallen, setzen Organisation auf Mimikry. Sie entfernen alle Reizwörter und politische Statements aus ihrer öffentlichen Kommunikation und von den offiziellen Webseiten. Das bedeutet aber längst nicht, dass sie sich von ihren Werten distanzieren. Im Gegenteil: Sie haben sich bewusst dafür entschieden, ihre Tätigkeit fortzusetzen. Diese Praktiken sind am stärksten bei Umweltinitiativen, Tierschutzaktivist:innen und Initiativen zu beobachten, die zu Lebens- und Gesundheitsfragen arbeiten. Sie gehen zu apolitischen Positionen über, um einen breiteren Personenkreis in ihren Aktivismus einzubinden und weiterhin Unterstützung bieten zu können.

Gleichzeitig kann diese fehlende öffentliche Positionierung dazu führen, dass eine Initiative falsch eingeschätzt wird. So führen einige Fraueninitiativen auf Druck des Staates Kampagnen gegen Abtreibung durch, obwohl sie sich früher für Gender- und reproduktive Rechte stark gemacht haben. Dadurch ist es manchmal schwierig, sie von jenen zu unterscheiden, die keine demokratische und liberalen Werte vertreten.

Die ungefährlichsten Tätigkeitsfelder

Die quantitativen Ergebnisse der Studie des Hannah Arendt-Zentrums zeigen, dass Tierschutz der am schnellsten wachsende Bereich horizontal organisierter Aktivität ist. Aktivist:innen aus diesem Sektor kommen Unternehmen oder dem Staat nur selten in die Quere, daher ist dieser Bereich weniger politisiert und gefährlich. Oft bleiben die Gruppen reine Graswurzelinitiativen und entwickeln sich nicht zu formalen Organisation. Die Tierschutzbewegung wächst sowohl in den Regionen wie auch in den Hauptstädten sehr schnell und verfügt über großes Potenzial für kollektives Handeln. Nicht selten stellt Aktivismus in diesem Bereich die erste Erfahrung solidarischer Betätigung dar. Über die Community können die neuen Mitglieder allmählich mehr über andere Bereiche zivilgesellschaftlichen und politischen Aktivismus in Erfahrung bringen.

Ein anderer Sektor, der oft nicht als Aktivismus eingestuft wird und deshalb nicht so heftigem Druck von Seiten des Staates ausgesetzt ist, sind die sogenannten dritten Orte. Dritte Orte gehören zum urbanen Raum jenseits der Wohnung („erster Ort“) oder der Arbeitsstätte („zweiter Ort“). Das kann ein öffentlicher Vorlesungsraum, eine Bibliothek, ein unabhängiger Buchladen, ein Kulturraum oder ein Café sein. Diese Räume vermitteln nach außen nicht unbedingt eine klare Haltung gegen den Krieg oder den Staat. Es kann jedoch üblich sein, die Räumlichkeiten nur Personen zur Verfügung zu stellen, die ähnliche Werte vertreten, die Musik „ausländischer Agenten“ aufzulegen oder über die Inneneinrichtung und die Bücherauswahl kulturelle Anspielungen zu machen und Codes zu senden, die den „eigenen Leuten“ helfen, diese Räume als gleichgesinnt wahrzunehmen.

Angesichts der ständigen Angst und der inneren Unruhe sind Orte, an denen man sich sicher und von Gleichgesinnten umgeben fühlen kann, besonders gefragt. So kann ein Burnout möglicherweise vermieden werden. Gleichzeitig können sie als geeignete Plattform dienen, um neue Aktivist:innen zu gewinnen. Das gilt für Neulinge wie auch für jene, die wegen Repressionen oder mangelnder Ressourcen die früheren Praktiken zivilgesellschaftlicher Partizipation aufgeben mussten.

Räumlich getrennte Teams und eine neue Welle von Aktivist:innen

Der Bedarf an neuen Aktivist:innen ist relativ akut. Nach dem Beginn der Vollinvasion und der drastischen Verschärfung der politischen Repressionen waren viele erfahrene Aktivist:innen zur Emigration gezwungen. Sie arbeiten oft in den früheren Initiativen weiter, allerdings aus der Ferne und oft asynchron. Die größere Sicherheit, die sie erfahren, erlaubt es den Emigrierten, sich bei ihrer Betätigung als Aktivist:in freier zu fühlen und Zugang zu Ressourcen zu erlangen wie etwa Finanzierung durch europäische oder amerikanische Geldgeber:innen, internationale Plattformen und Veranstaltungen, Fortbildungen und Netzwerken. Andererseits müssen sie auch sehr viel Kraft für die Überwindung bürokratischer Hürden, ihre Integration und Anpassung an die neue Umgebung aufwenden.

Zwischen den Emigrierten und den in Russland gebliebenen Aktivist:innen wächst unausweichlich eine Kluft: In den Gesprächen kommt es häufig zu taktlosen Bemerkungen oder Vorwürfen. Dialog zu führen wird immer schwieriger. Eine Zusammenarbeit und ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen den Personen in und außerhalb Russlands sind aber unausweichlich und absolut notwendig. Das bedeutet stetige Anstrengungen, um die getrennten Communities wieder zusammenzubringen und die Fragmentierung zu überwinden, z. B. durch Konferenzen, Seminare oder in Hubs for soziale Innovationen.

Nach der Ausreise erfahrener Aktivist:innen rückten neue engagierte Personen nach, beispielsweise aus der Forschung, dem Marketing oder der Kreativwirtschaft. Mitunter fehlt es ihnen an Fertigkeiten und den notwendigen Netzwerken; sie müssen quasi das Fahrrad neu erfinden, und das unter ohnehin schwierigen Bedingungen.

Der Bedarf an Fortbildungsmaßnahmen bei den neuen Aktivist:innen führt wiederum dazu, dass entsprechende Angebote geschaffen werden. Auch ist jetzt die Praxis von Beratung in Selbsthilfegruppen, Mentorentätigkeit und der Austausch von Erfahrungen und Methoden verbreitet. Viele Programme sind immer noch auf die Hauptstädte und Projektfinanzierung ausgerichtet und nicht auf die Regionen oder eine nachhaltige Finanzierung. Doch der zunehmend verbreitete Entkolonialisierungsdiskurs verstärkt auch das Interesse an lokalen Fragen und der Entwicklung der eigenen Region und eben nicht nur am eigenen Umzug in die Hauptstadt. Darüber hinaus ist auch eine Kluft zwischen den Generationen festzustellen: Neue Initiativen wurden oft von jungen Menschen gegründet und beruhen auf dem Prinzip horizontaler Beziehungen. Das heißt, es gibt keine klare Verteilung der Zuständigkeiten und Rollen und die Entscheidungen werden kollektiv getroffen. Horizontalität und Dezentralisierung sollen nicht nur die Eintrittsschwelle senken und die Arbeit der Aktivist:innen demokratischer gestalten, sondern auch die politischen Risiken verringern. Schließlich ist es damit nicht möglich, die Arbeit einer Organisation durch die Verhaftung eines einzigen Menschen zu lähmen. Diese Maßnahmen machen die Initiativen flexibler und facettenreicher und erlauben es, schneller und effektiver auf neue Herausforderungen zu reagieren.

Die Tätigkeit der Ressourcenzentren undHubs , die die Communities miteinander verbinden (z. B. OVD-Info, Tepliza sozialnych technologii – dt.: „Treibhaus sozialer Technologien“ und Kartu) ist deswegen noch viel wichtiger geworden. Die Kooperation mit diesen Hubs ist für alle wertvoll, aber besonders für junge, kleine oder lokale Initiativen, die wenig bekannt sind, nicht zu Konferenzen eingeladen werden, denen es an Ressourcen mangelt, die zur strategischen Entwicklung und für Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt werden können und deren Stimmen nicht hörbar sind.

Nicht nur die Haltung gegen den Krieg und die Gefahr politischer Repressionen sind Gründe dafür, dass sich die Zusammensetzung der Aktivist:innen-Community erneuert hat. Auch Burnout spielt eine Rolle. Dieses Phänomen ist zwar für unterschiedliche Kontexte charakteristisch, nicht nur für autoritäre, doch ist der 24. Februar 2022 für viele ein Datum, das ihr Leben in ein Davor und ein Danach teilt. Viele waren am Boden zerstört, weil sie ihre Ziele nicht umsetzen konnten und das Gefühl hatten, dass ihre humanitäre oder soziale Arbeit keinen Sinn mehr hatte und komplett aus der Zeit gefallen war.

In Russland ist zivilgesellschaftlicher Aktivismus derzeit ein Spiel auf lange Zeit, ein Spiel um Überleben und Selbsterhaltung, weil es immer Menschen geben wird, die Hilfe brauchen. Außerdem wird der Krieg irgendwann zu Ende sein und es wird irgendwann auch einen Machtwechsel geben. Die Bürger:innen müssen Erfahrung mit politischer Handlungsfähigkeit und kollektivem Handeln erlangen. Die Fortsetzung der Arbeit zwingt manchmal dazu, in Angst zu leben, die Partner:innen sorgsam zu wählen, sich in Selbstzensur zu üben, Anstrengungen zu unternehmen, um neue Teilnehmer:innen zu verifizieren und die Gesetzeskonformität sicherzustellen. Andererseits können so der Widerstand fortgesetzt und horizontale Netzwerke aufgebaut und aufrecht erhalten werden.

Schlussfolgerungen

Im heutigen repressiven Russland hat es keinen Sinn, von zivilgesellschaftlichen Initiativen Präsenz in den Medien, die Ausweitung ihrer Tätigkeit, effektive Lobbyarbeit oder kristallklare ethische Reinheit zu erwarten. Das ist angesichts dieser Realitäten fast nicht mehr möglich. Gleichwohl bleibt die Zivilgesellschaft lebendig: Ständig werden neue Projekte gestartet und alte Projekte beendet; neue Bedürfnisse werden ermittelt; neue Formate und Taktiken werden entwickelt.

Sämtliche zivilgesellschaftlichen Akteure – angefangen von Einzelkämpfer:innen bis hin zu den großen Stiftungen – verfügen über Autonomie und ihre eigenen Ziele, sind aber auch über einen gemeinsamen Raum verbunden. Um effektiv helfen zu können, muss der demokratische und gegen den Krieg gerichtete Sektor der Zivilgesellschaft in Russland nach dezentralisierten und nachhaltigen Strategien suchen, seine Vielfalt, Autonomie und die Möglichkeit der Initiativen beibehalten, Unterstützung annehmen zu können. Gleichzeitig sollten die Initiativen aber auch ihre Eigenständigkeit bewahren und unabhängige Entscheidungen treffen können.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Weitere Inhalte

Marija B. ist Sozialwissenschaftlerin. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit staatlicher Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und der Zivilgesellschaft in Russland.