"Wege aus dem Abseits?"
Die Situation der Roma in Tschechien und in der Slowakei
Silja Schultheis
/ 14 Minuten zu lesen
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Ein großer Teil der Roma in Tschechien und der Slowakei lebt heute in ghettoähnlichen Siedlungen. Häufig erinnern diese eher an die sogenannte Dritte Welt als an die Europäische Union. Tief verankerte Stereotype und eine Jahrzehnte lang verschleppte Integrationspolitik spiegeln wider, wie schwer sich beide Länder mit dem Selbstverständnis einer offenen Gesellschaft tun. Dabei zeigen positive Ausnahmen, wie einfach Integration funktionieren kann, wenn nur der Wille da ist.
Als der Bürgermeister der nordböhmischen Stadt Ústí nad Labem (Aussig) im Oktober 1999 eine Mauer zwischen einer Roma-Siedlung und einem angrenzenden Wohnviertel errichten ließ, brach aus dem In- und Ausland ein Sturm der Entrüstung über ihn herein. „Europa wird nie wieder neue Mauern akzeptieren, die Europäer voneinander trennen", mahnte EU-Kommissionspräsident Romano Prodi. Und der damalige tschechische Staatspräsident Václav Havel empörte sich, der Bürgermeister bestätige mit dem Bau der Mauer die tschechische Gesellschaft in ihren Negativklischees gegenüber den Roma.
Ladislav Hruška hingegen, der damalige Bürgermeister von Ústi, sah die Mauer als legales Mittel, um einen sozialen Konflikt zu lösen. Die Nachbarn der Roma-Siedlung hatten sich seit Jahren über den Lärm und Schmutz aus dem Roma-Viertel beschwert. Die Mauer in der Matiční-Straße wurde aufgrund der Proteste nach sechs Wochen wieder abgerissen. Doch als Symbol für den Umgang der Tschechen mit ihrer größten Minderheit ist sie der Welt im Gedächtnis geblieben.
Zu Recht: Bis heute sind die geschätzten 200.000 Roma im Land (2 Prozent der Gesamtbevölkerung)) eine Gesellschaft am Rande der Gesellschaft, von der sich die Mehrheitsbevölkerung innerlich entschieden abgrenzt.
In der Slowakei geschieht diese Abgrenzung auch heute vielerorts ähnlich wie 1999 in Ústí: In 14 Kommunen trennen Mauern und Zäune die Roma-Siedlungen von der Mehrheitsbevölkerung. Dies ist vor allem im Osten des Landes, wo der Großteil der über 400.000 Roma (7,5 Prozent der Bevölkerung) lebt, der Fall. Für die Zukunft will die slowakische Regierung den Bau solcher Trennwände verbieten. Im Oktober 2014 kündigte sie eine entsprechende Gesetzesnovelle an. „Für Bauten, die Segregation zum Ziel haben, wird es keine Genehmigung mehr geben“, so der Sprecher des zuständigen Ministeriums, Martin Kóňa.
Doch das eigentliche Problem, die innerliche Abgrenzung vieler Tschechen und Slowaken von der Roma-Minderheit, dürfte sich so kaum beseitigen lassen.
„Nicht Anpassungsfähige“
Als „sozial nicht anpassungsfähige Bürger“ werden Roma in Tschechien und der Slowakei bezeichnet. In den Medien, aber auch von Politikern. „Nicht anpassungsfähig“ – dahinter steht das Selbstverständnis einer homogenen Gesellschaft, die sich durch eine zwar kleine, aber in ihrer Mentalität und in ihren Lebensgewohnheiten zum Teil von der Mehrheitsgesellschaft abweichende, Minderheit gestört fühlt. Die wenigen anderen Minderheiten in Tschechien (Vietnamesen, Slowaken, Ukrainer) sind überwiegend assimiliert.
„Konkret sind mit „Nicht-Anpassungsfähigen“ Menschen gemeint, die keine Miete bezahlen, nicht arbeiten und Sozialleistungen missbrauchen und häufig kriminell handeln“, so der tschechische Politologe Jiri Pehe. „Allgemeiner denken die meisten Tschechen dabei einfach an Mitbürger aus der Roma-Minderheit, die ‚nicht so sind wie wir’.“
Hartnäckig hält sich bei vielen Tschechen und Slowaken das Vorurteil, Roma bezögen ungleich höhere Sozialleistungen und lägen nur dem Staat auf der Tasche. Auch wenn eine neue Studie dies für die Slowakei jetzt widerlegt, werde das an dem Klischee nichts ändern, meint der slowakische Romist Rastislav Pivoň:
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Wir betrachten die Roma immer noch nicht als Teil unserer Gesellschaft, als Menschen, als Bürger, die denselben Anspruch auf Sozialhilfe haben wie alle anderen auch.
In Tschechien ist die latente Roma-Feindlichkeit vieler Menschen letztes Jahr in offene Aggression umgeschlagen. Als 2013 nahezu wöchentlich irgendwo im Land neonazistische Gruppen aufmarschierten und Parolen skandierten wie „Zigeuner ins Gas“, „gegen Multikulti“ und „Tschechien den Tschechen“, wurden sie dabei aktiv von der Bevölkerung unterstützt.
Politisches oder gesellschaftliches Problem?
Ein wichtiger Grund für die wachsende Aggression in der Gesellschaft sind ohne Zweifel das Unvermögen und der fehlende Wille tschechischer und slowakischer Politiker, den gesellschaftlichen Unmut aufzufangen und eine konsequente Integrationspolitik zu verfolgen.
Zwar gab es in den vergangenen Jahren von unterschiedlichen Regierungen diverse Pläne und Konzepte zur Integration von Roma und zur Verbesserung ihrer Lebenssituation. Wie etwa in Tschechien den „Nationalen Aktionsplan zur inklusiven Bildung“ oder jüngst die „Strategie für die Integration der Roma bis zum Jahr 2020“. In der Slowakei initiierte der Regierungsbeauftragte für Roma-Angelegenheiten im Herbst 2012 sogar eine „Roma-Reform“. Vielfach scheiterten diese Vorhaben aber an der konsequenten Umsetzung – teils aufgrund der häufigen Regierungswechsel (vor allem in Tschechien), teils weil Zuständigkeiten unnötig kompliziert auf verschiedene Ressorts verteilt werden.
Vor allem aber gingen, während in Prag und Bratislava nationale Pläne und Strategien beschlossen wurden, von kommunalen Politikern häufig völlig entgegengesetzte Signale aus. Vielerorts tragen Kommunalpolitiker aktiv zur Ghettoisierung der Roma-Minderheit bei, kritisiert etwa die Nichtregierungsorganisation Romea. In ihrem 2013 veröffentlichten Bericht über den Zustand der Roma-Minderheit in Tschechien beschreibt sie unter anderem, wie Roma in verschiedenen Gemeinden von der Stadtverwaltung gezielt in die Außenbezirke verdrängt wurden, in überfüllte, überteuerte Unterkünfte mit unhaltbaren hygienischen Zuständen. Eklatanteste Beispiele hierfür sind die Städte Ústí nad Labem und Ostrava (Ostrau).
Als 2013 die fremdenfeindliche Stimmung in der Gesellschaft eskalierte, verurteilten Politiker der betroffenen Gemeinden dies häufig nicht, sondern zeigten umgekehrt sogar Verständnis für den Hass gegen die „Nicht Anpassungsfähigen“.
In der Slowakei wurde im November 2013 mit Marian Kotleba erstmals ein Rechtsextremist an die Spitze einer regionalen Selbstverwaltung gewählt. Kotleba spricht öffentlich von „Zigeuner-Parasiten“ und hatte im Wahlkampf versprochen, „Ordnung“ zu machen im Kreis Banská Bystrica, einer der Regionen, in der viele Roma leben. Nach seinem Wahlsieg ging ein Aufschrei durch die Medien, gefolgt von wochenlangen Diskussionen über die Ursachen. Politische Beobachter waren sich einig, dass alle politischen Parteien Mitverantwortung an dem Wahlsieg Kotlebas tragen, weil sie selbst zunehmend auf populistische Rhetorik setzen.
Ghettoisierung statt Integration
Ein Drittel bis die Hälfte aller Roma in Tschechien lebt laut einer aktuellen Studie der tschechischen Nichtregierungsorganisation Slovo 21 in ghettoartigen Siedlungen. Die meisten befinden sich in den strukturschwachen Industrieregionen Nordböhmens, Nordmährens und Schlesiens. Aber auch in Prag und Brünn trifft man, in unmittelbarer Nähe des Stadtzentrums, auf Viertel, die Welten entfernt sind von der Lebensrealität der Mehrheitsgesellschaft: heruntergekommene Häuser mit verrammelten Fenstern, leerstehende Läden, tote Straßen mit überquellenden Mülltonnen. Rund 400 solcher „sozial ausgeschlossener Lokalitäten“, wie sie offiziell genannt werden, gibt es in Tschechien, Tendenz steigend. Die Arbeitslosigkeit beträgt hier zwischen 70 und 100 Prozent; permanente Verschuldung, Hehlerei, Spielsucht, Prostitution und Drogen gehören zum Alltag.
Wie schwierig es ist, aus diesem Teufelskreis auszubrechen, zeigt der Film „The way out“, der im Sommer 2014 in Cannes aufgeführt wurde, am Beispiel einer jungen Mutter. Ihr Versuch, eine feste Arbeit zu finden und nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, scheitert an dem diskriminierenden Verhalten von Behörden und Arbeitgebern, aber auch an Hehlern in der Roma-Gemeinde, die von der Armut Anderer leben. Für die Recherchen zu dem Film war Petr Václav mehrere Jahre lang durch Roma-Ghettos im ganzen Land gereist.
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Ich hätte, als ich 1995 meinen ersten Film („Marian“) zur Roma-Thematik gedreht habe, niemals gedacht, dass die Roma in Tschechien einmal derart ins Abseits gedrängt werden.
Tatsächlich hat sich die wirtschaftliche und soziale Situation der Roma in den letzten Jahren sichtbar verschlechtert. Neben den Folgen der Wirtschaftskrise in den strukturschwachen Regionen, in denen die meisten Roma leben, kommt als neueres Problem massiver Mietwucher hinzu. Auf dem regulären Wohnungsmarkt diskriminiert, werden Roma leicht zum Spielball für skrupellose Mietspekulanten. Denn ohne eine Unterkunft besteht kein Anrecht auf Sozialhilfe. In der Folge leben immer mehr Roma in überteuerten Übergangsunterkünften, unter unzumutbaren hygienischen Bedingungen, bis ein neuer Spekulant ihnen eine andere Unterkunft anbietet. Das häufige Umziehen erschwert die ohnehin schwierige Integration. Ein System des sozialen Wohnungsbaus, das dieses Problem auffangen könnte, fehlt in Tschechien bislang.
In der Slowakei sind die sozialen Probleme noch akuter. Die Bedingungen in den über 800 Roma-Ghettos1, vor allem im Osten des Landes, erinnern eher an die Lebensrealität in der Dritten Welt als in einem Euro-Land. Viele Menschen hier leben ohne Strom und fließend Wasser, der nächste Ort ist häufig mehrere Kilometer entfernt.
Die Chance, den Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, Armut und Verschuldung zu durchbrechen, wird jungen Roma vor allem durch ein segregatives Bildungssystem extrem erschwert.
Jedes dritte Roma-Kind geht auf eine Sonderschule
In Tschechien und der Slowakei werden wie kaum anderswo in Europa Roma systematisch aus den Regelschulen ausgegrenzt. Jedes dritte Roma-Kind besucht eine Sonderschule für geistig behinderte Kinder. Ihre Aussicht auf eine qualifizierte Berufsausbildung ist damit von Anfang an minimal. Internationale Organisationen wie amnesty international oder das Europäische Zentrum für die Rechte der Roma (ERRC) prangern diese Praxis seit Jahren an und sehen darin eine der größten Hürden für die in Tschechien lebenden Roma.
In einem vielbeachteten Urteil gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2007 der Klage von 18 Roma aus Ostrava statt. Sie hatten den tschechischen Staat verklagt, weil er sie zu Unrecht auf eine Sonderschule geschickt und ihnen dadurch keine gleichen Bildungschancen gewährt hatte. Seitdem ist in Tschechien viel über die Integration von Roma in Regelschulen diskutiert worden; geändert hat sich aber wenig.
Der UN-Menschenrechtsrat und der Europarat appellierten daher 2013 an die tschechische Regierung, die Segregation in den Schulen endlich abzuschaffen. Ende September 2014 schloss sich die Europäische Kommission an und leitete ein Verstoßverfahren gegen die Tschechische Republik ein, weil Tschechien gegen die Antidiskriminierungsrichtlinie der EU verstoße. Für Klára Laurenčíková - Vorsitzende der Tschechischen Gesellschaft für inklusive Bildung - steht die Ausgrenzung von Roma-Kindern in den Schulen stellvertretend für die Schwierigkeit der tschechischen Gesellschaft, mit Andersartigkeit umzugehen:
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Unser Bildungswesen spiegelt die Situation in der Gesellschaft insgesamt wider. Es ist ein Teufelskreis: Wenn wir als Kinder keine Erfahrung machen mit Vielfalt als etwas Normalem, Natürlichem, dann wird es in der Gesellschaft immer Stereotype und Furcht vor dem Unbekannten, Fremden, Anderen geben.
Vom Genozid zur Zwangsassimilierung
Gelegen im Zentrum der Brünner Roma-Gemeinde, einem „sozial ausgeschlossenen“ Viertel, schlägt das Brünner Museum für Roma-Kultur eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart. Durch die Vermittlung von historischem Wissen will es die junge Generation zu Toleranz und interkulturellem Denken fähig machen. Auf dem Weg durch die labyrinthartige Dauerausstellung durch die Geschichte der Roma erfährt der Besucher, dass sich auf dem Territorium des heutigen Tschechiens 1417 die ersten Roma ansiedelten. Über Böhmen gelangten sie weiter nach Westeuropa und wurden daher in Frankreich als „Bohèmiens“ bezeichnet.
Viel Platz wird in der Ausstellung auch dem Holocaust an den Roma gewidmet – für die meisten Tschechen heute immer noch ein „weißer Fleck“. Die überwiegende Mehrheit der 6500 Roma aus dem Protektorat Böhmen und Mähren wurde Opfer des Genozids: Nur rund zehn Prozent überlebten die Internierung in den beiden „Zigeuner-Lagern“ Lety und Hodonín und die Deportation nach Auschwitz.
Bis heute gibt es kein würdiges Gedenken an diese Zeit. Während das Lager Theresienstadt zum internationalen Symbol und zur Gedenkstätte für den Holocaust an den tschechischen Juden geworden ist, befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen KZ in Lety bis heute eine Schweinemast. Trotz jahrelanger Appelle von Roma-Verbänden und internationaler Kritik seitens EU und UN hat sich bis jetzt keine der wechselnden Regierungen konsequent für ihren Abriss eingesetzt. Für viele Roma ist die Schweinemast symptomatisch für das Verhältnis der tschechischen Mehrheitsgesellschaft zu den Roma.
Den rund 100.000 slowakischen Roma blieben die Vernichtungslager erspart. Sie dienten dem „Slowakischen Staat“, der sich auf Druck Hitlers von der Tschechoslowakei abspaltete und zum Vasallenstaat des Deutschen Reichs wurde, als billige Arbeitskräfte, vor allem in der Landwirtschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vertreibung der Sudetendeutschen gab es eine massive Migrationswelle von Roma aus der Slowakei, die sich in den ehemals von Sudetendeutschen bewohnten Grenzregionen Böhmens, Mährens und Schlesiens ansiedelten, da es hier bessere Arbeitsmöglichkeiten gab.
Das kommunistische Regime verfolgte ab Mitte der 1950er Jahre eine Politik der Assimilierung. Roma galten als soziale Gruppe mit „zurückgebliebener Lebensweise“, die umerzogen werden musste. So wurde 1958 das Vagabundieren gesetzlich verboten. Ab 1965 begann das kommunistische Regime gezielt, dichtbevölkerte Roma-Siedlungen, insbesondere in der Ostslowakei, aufzulösen. Zahlreiche Roma wurden in den tschechischen Landesteil umgesiedelt, Großfamilien auseinandergerissen. Lehrer und Sozialarbeiter drangen auf die Eltern ein, mit ihren Kindern kein Romanes mehr zu sprechen, sondern nur noch Tschechisch. „In einem Kinderheim habe ich Kinder gesehen, die eine Glatze hatten – als Strafe dafür, dass sie in ihrer Zigeunersprache gesprochen hatten.“, erinnerte sich die bekannteste tschechische Romistin Milena Hübschmannova.
Als Folge dieser Zwangsassimilierung sprechen viele Roma heute nicht mehr ihre Sprache. Karel Holomek, einer der engagiertesten intellektuellen Roma in Tschechien und Herausgeber der Zeitschrift „Romano Hangos“ („Roma-Stimme“), bezeichnet es heute als sein größtes Handicap, dass er ohne Bezug zu seinen eigenen Wurzeln aufgewachsen ist: „Das Wertvollste, was die Roma hatten, haben sie unter dem kommunistischen Regime verloren – ihre Identität, ihre Sprache, ihre kulturellen Bräuche. Die Folgen davon spüren wir bis heute.“
Viele Roma erinnern sich heute aber auch nostalgisch an die Zeit vor 1989, weil ihnen das kommunistische Regime, im Gegenzug zur Assimilierung, soziale Sicherheiten, Wohnraum und Arbeit gewährleistete. Die Mehrheit der Kinder wurde jedoch auf Sonderschulen geschickt, eine Ausbildung besaßen daher die Wenigsten.
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Als schwächste soziale Gruppe waren die Roma als einzige nicht vorbereitet auf die gesellschaftlichen Veränderungen nach 1989. Die Roma schafften es nicht, sich an die neue Situation anzupassen, weil ihnen das Wichtigste fehlte: Bildung.
„Nicht nur eine Ausnahme“: Positivbeispiele
Auch wenn der Blick auf die gegenwärtige Lage von Roma in Tschechien und der Slowakei eher düster stimmt, darf eines nicht vergessen werden: Es gibt nicht DIE Roma-Minderheit, ebensowenig wie es DIE tschechische oder DIE slowakische Gesellschaft gibt. Neben arbeitslosen Sozialhilfeempfängern in ghettoähnlichen Siedlungen wächst eine neue Schicht junger, gebildeter Roma heran, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Und neben fremdenfeindlichen Bürgermeistern und Schuldirektoren gibt es andere, die ganz selbstverständlich vormachen, wie Integration funktionieren kann.
Gabriela Hrabaňová ist eine der jungen Romni, die nicht darauf warten wollen, bis auf politischer Ebene mehr für die Integration von Roma getan wird. Hrabaňová arbeitet heute in Brüssel für das Netzwerk Ergo – eine Plattform für europäische Roma-Graswurzelinitiativen. Sie ist überzeugt, dass es in Tschechien und Europa heute vor allem an einer stärkeren Partizipation von Roma krankt:
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In der EU sind Roma als Hilfsbedürftige abgestempelt. Es wird wenig dafür getan, dass Roma ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen lernen. Das ist so, als wenn wir von Frauenemanzipation sprechen und die Frauen außen vorlassen.
Ein positives Beispiel, wie Integration auf kommunaler Ebene funktionieren kann, ist die nordböhmische Gemeinde Obrnice. Die dortige Bürgermeisterin, Drahomíra Miklošová hat sich das Zusammenleben in ihrer Gemeinde, wo 40 Prozent der Bewohner Roma sind, zum persönlichen Anliegen gemacht. Beherzt nimmt sie die drängendsten Probleme des Ortes in Angriff, vor allem den massiven Mietwucher. Um den Wohnungsmarkt nicht skrupellosen Spekulanten zu überlassen, kaufte die Gemeinde mehrere privatisierte Wohnungen zurück. Für die Zukunft schwebt Miklošová ein systematisches Konzept für sozialen Wohnungsbau vor.
Vor allem aber ist es Miklošová gelungen, inmitten der strukturschwachen Problemregion Nordböhmen, wo es in den vergangenen Jahren besonders viele rechtsextremistische Aufmärsche gab, ein neues Miteinander zwischen Roma und Mehrheitsgesellschaft zu schaffen. „Meine Philosophie ist: Lasst uns nicht die Roma von einer Stadt in die nächste schicken. Das ist zwar politisch einfacher. Aber ich finde, jeder Ort muss die Verantwortung für seine Roma übernehmen.“ 2013 ist Drahomíra Miklošová für ihr Engagement mit dem Dosta-Preis des Europarates ausgezeichnet worden.
Ein Beispiel, wie Integration im Bildungsbereich funktionieren kann, liefert ein kleines privates Gymnasium im slowakischen Städtchen Kremnica. Es fördert gezielt Kinder aus den ärmsten Roma-Slums im Osten des Landes. Jana Tomová, die Gründerin der Schule, organisiert seit 20 Jahren mit viel Empathie Bildungsprojekte für Roma - lange bevor man in Brüssel und Bratislava darüber nachzudenken begann. Neben dem 2008 gegründeten Gymnasium mit Internat gehören zu ihrem Projekt eine Grundschule und ein Kindergarten. „Wir sollten überlegen, ob die Kinder, die als „problematisch“ gelten, das Problem sind oder ob wir als Gesellschaft ihnen einfach keine Chance gegeben haben“, findet Jana Tomová.
Noch sind Obrnice und Kremnica Einzelfälle. Aber sie geben Anlass zur Hoffnung, dass es auch anders geht. Die Signalwirkung solcher Ausnahmen sollte man nicht unterschätzen, meint Karla Čížková von der Organisation Slovo 21, die sich besonders für die Bildung von Roma engagiert:
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Viele Leute, mit denen ich zu tun habe, sagen: Gut, es gibt ein paar positive Ausnahmen unter den Roma. Aber wenn ich sage: Ich kenne Dutzende gebildete und intelligente Roma, dann wundern sie sich schon. Ich glaube, je mehr über solche positiven Beispiele in den Medien berichtet wird, desto mehr überzeugt das die Leute davon, dass es eben nicht nur die eine Ausnahme gibt.
Geboren 1970 in Berlin. Lebt und arbeitet seit 2001 in Prag, als Redakteurin beim Tschechischen Rundfunk und freie Hörfunkjournalistin für die ARD. Kolumnistin der tschechischen Zeitschrift Respekt. Studium der Kulturgeschichte Osteuropas, Polonistik, Geschichte in Marburg, Mainz, Bremen und St. Petersburg. Stiftungskolleg für internationale Aufgaben der Robert Bosch Stiftung. Zahlreiche Aufenthalte in Russland und Polen.