Angst vor Polemik: Frankreichs Roma fürchten die Ausgrenzung
Wie leben französische Roma und Roma-Zuwanderer in Frankreich?
Romy StrassenburgRomy Straßenburg
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Die meisten Nachkommen der in Frankreich ansässigen Roma sind gesellschaftlich integriert. Sie legen Wert auf ihre Wurzeln und pflegen kulturelle Eigenheiten. Doch die scharfe Polemik in der französischen Politik und Gesellschaft über die Zuwanderung von Roma aus Osteuropa bringt alte Vorurteile wieder zutage.
Unter der Pariser Stadtautobahn sieht man an vielen Brückenpfeilern vernagelte Bretterbuden. Wellblech und Schrott versperren den Blick auf das Innere dieser provisorischen Lager, in denen es fast nie fließendes Wasser oder Strom gibt. Über Nacht können die Verschläge verschwinden. Ein paar Hundert Meter weiter werden kurz darauf neue Camps aufgebaut. Sie sind das unwirtliche Zuhause von Einwanderern aus Osteuropa. Es sind überwiegend Roma aus Bulgarien, Rumänien oder Kroatien, meist ganze Großfamilien.
Seit dem Beitritt ihrer Heimatländer zur Europäischen Union und dem Wegfall der Visumpflicht kommen sie in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Frankreich. Die meisten stranden in den großen städtischen Ballungsräumen. Wenigen gelingt es, Fuß zu fassen, viele fristen ein Leben in Armut, da ihnen der reguläre Arbeitsmarkt aufgrund von administrativen Hindernissen meist versperrt bleibt.
Zonen der Rechtlosigkeit
Es ist oft nur eine Frage der Zeit, bis die französischen Behörden sie aufgreifen und in ihre Heimatländer zurückschicken. Unter der konservativen Regierung von Präsident Nicolas Sarkozy begann 2010 eine massive Abschiebewelle. In seiner "Rede von Grenoble" kündigte Sarkozy im Juli desselben Jahres an, Frankreich werde wilde Roma-Lager nicht mehr dulden, die in seinen Augen "Zonen der Rechtlosigkeit" seien.
Er handelte sich zwar deswegen Kritik aus Brüssel ein, zuallererst vonseiten der EU-Justizkommissarin Viviane Reding. Sie drohte mit einem Strafverfahren gegen Frankreich, nachdem bekannt geworden war, dass in einem Schreiben des französischen Innenministeriums die Präfekten des Landes dazu aufgefordert wurden, "systematisch wilde Siedlungen zu räumen, allen voran Roma-Camps". Trotzdem setzte auch die Regierung des im Mai 2012 gewählten Sozialisten François Hollande die Räumungen fort. Frankreich wurde wegen seines Umgangs mit den Roma erneut von der Europäischen Kommission ermahnt. Das angekündigte Strafverfahren auf europäischer Ebene blieb jedoch aus.
Kritik an Abschiebungen
Nach einem Bericht des Ministeriums für Wohnungsbau liegt die Zahl der illegal in Frankreich lebenden Roma bei knapp 17.000 (September 2013). Von 394 illegalen Lagern befindet sich fast die Hälfte im Großraum Paris. Ihre Zahl ändert sich allerdings durch die ständigen Räumungen und Abschiebungen jener Menschen, die nicht "freiwillig" in ihre Heimat zurückkehren und dafür vom französischen Staat eine Prämie von 300 Euro bekommen.
In Frankreich steht das Wort "Roma" aber für weit mehr als eine Gruppe der sogenannten Armutseinwanderer: Die Roma geben regelmäßig Anlass für Debatten über Rassismus, über den Wandel des Sozialstaates und die Herausforderungen eines zusammenwachsenden Europas, in dem geografische Grenzen verschwinden und neue, soziale Grenzen sichtbar werden.
So gab im Oktober 2013 die "Leonarda-Affäre" erneut Anlass zu Kritik an Frankreichs Roma-Politik. Die 15-jährige kosovarische Romni Leonarda Dibrani wurde während eines Schulausfluges festgenommen und gemeinsam mit ihrer Familie in den Kosovo abgeschoben. Die Familie hatte gegen französisches Asylrecht verstoßen, die Abschiebung, so unterstrich Innenminister Manuel Valls, sei damit legal gewesen. Valls ließ außerdem verlauten, die Roma hätten "deutlich andere Lebensweisen" und daher sei es "eine Illusion zu glauben, dass wir das Problem mit der Roma-Bevölkerung allein durch Integration lösen können. [...] Die Roma sollten in ihre Länder zurückkehren und sich dort integrieren". Nach öffentlicher Kritik am Umgang mit dem Mädchen Leonarda bot Präsident Hollande ihr schließlich die Rückkehr nach Frankreich an, allerdings ohne ihre Familie. Die 15-Jährige lehnte das Angebot ab. Hunderte Schüler bekundeten daraufhin bei Demonstrationen ihre Solidarität mit Leonarda und verurteilten das Vorgehen der Regierung.
Stigmatisierung und Misstrauen
Die Zuwanderer aus Osteuropa sind in Frankreich auch deshalb so sichtbar, weil es im Land und insbesondere in der Metropolenregion an bezahlbarem Wohnraum fehlt. Je mehr die Roma-Zuwanderer im öffentlichen Raum auffallen und in den Medien Thema sind, umso mehr ziehen sich französische Roma zurück, deren Vorfahren seit Generationen in Frankreich leben und französische Staatsangehörige sind. Sie werden aufgrund der aufgeheizten Debatte um die Zuwanderung erneut Opfer von Stigmatisierung und Diskriminierungen.
Die große Mehrheit der französischen Roma hat zwar in der französischen Gesellschaft Fuß gefasst, beharrt aber auf kulturelle Eigenheiten. Diese Ambiguität erforscht der Soziologe Olivier Peyroux. "Für viele französische Roma ist es nach wie vor wichtig, einen Unterschied zu machen zwischen dem Wir und dem Ihr. Sie wollen diese Abgrenzung aufrechterhalten, die sich in ihren Bräuchen und Werten widerspiegelt. Die Verschiedenheit wird geradezu kultiviert, um sich nicht völlig zu assimilieren. Es geht um die Wahrung der eigenen Identität", sagt Peyroux. Die Angst vor dem Verlust dieser Identität zeige sich zum Beispiel daran, dass eine Heirat innerhalb der Gemeinschaft vielen als wünschenswert gilt. Auch Elemente der Sprache, des Romanes, weiterzutragen, ist vielen wichtig. Es gibt eine Vielzahl von Vereinen, auf lokaler und nationaler Ebene, und das Kollektiv "Romeurop" versteht sich als Dachorganisation, die für die fundamentalen Menschenrechte der Roma eintritt.
Rückzug in die Familie
Baro Windrestein gehört zu jenen Roma, deren Vorfahren schon seit vielen Generation in Frankreich leben. Er sagt über sein Volk, das sich überall zu Hause fühle, aber nur selten willkommen sei: "Wir sind wie Igel. Wir rollen uns zusammen, wenn ein Fuchs auf uns pinkelt, wenn man uns bespuckt. Wir warten ab und am Ende ziehen wir unseres Weges."
Baro Windrestein reist in den Sommermonaten mit seiner Freundin und ihren zwei Kindern im Wohnwagen durch ganz Frankreich, um Familienangehörige und Freunde zu besuchen. Jedes Jahr am 24. Mai treffen sie sich mit Tausenden Roma im Pilgerort Saintes-Maries-de-la-Mer in der südfranzösischen Camargue. Dort huldigen sie Sara, der Schutzpatronin des "Fahrenden Volkes". Baro Windrestein schätzt: "Zu meiner Familie gehören in ganz Frankreich locker 400 Leute!"
"Die Familie nimmt bei den Roma einen besonderen Stellenwert ein", sagt Peyroux. "Ebenso wichtig ist ihnen der Wunsch nach Unabhängigkeit." Dazu gehöre in Frankreich für viele nach wie vor der Wohnwagen, selbst wenn er neben dem eigenen Haus oder auf einem ganzjährig angemieteten Stellplatz geparkt sei. Die überwiegende Mehrheit ist heute sesshaft. Nur 15 Prozent der französischen Roma rechnen sich zum "Fahrenden Volk". Dabei habe sich das Leben im Wohnwagen radikal verändert, sagt Windrestein: "So manches Haus auf Rädern ist luxuriöser ausgestattet als eine Wohnung. Meine Freunde und Familienangehörigen leben darin freiwillig, nicht weil sie arm sind."
Django Reinhardts musikalisches Erbe
Seine Großeltern lebten bis in die 1930er-Jahre in einem "Caravan-Camp" – zusammen mit dem berühmten Musiker Django Reinhardt. Baro Windrestein hat Fotos aus dieser Zeit aufgehoben: Kinder hocken im Sand neben einem gusseisernen Ofen. Django, umringt von lachenden Frauen und Männern. Der Gitarren-Virtuose gilt als Wegbereiter des europäischen Jazz.
Baro Syntax, so der Künstlername von Windrestein, ist ebenfalls Musiker geworden: Er versteht sich als "Gypsy, Version 2013", seine Musik sei "Zigeuner-Hiphop". Seine Reime erinnern an die schreckliche Vergangenheit und erzählen von täglichen Diskriminierungen. Auch das französische Vichy-Regime war am Völkermord an den Roma beteiligt und unterhielt in der Stadt Montreuil-Bellay bis 1945 ein Konzentrationslager, in dem ausschließlich Roma und Angehörige des "Fahrenden Volkes" inhaftiert wurden. Eine Tatsache, die in der französischen Gesellschaft kaum thematisiert wurde, stattdessen wachsen die Ressentiments gegenüber den französischen Roma, angeheizt von französischen Politikern. "Hitler hat vielleicht nicht genügend von ihnen getötet”, sagte zum Beispiel der Bürgermeister der Kleinstadt Cholet, Gilles Bourdouleix (Zentrumspartei UDI) über das "Fahrende Volk" im Juli 2013. Auch die Kandidatin der konservativen Partei UMP auf das Pariser Bürgermeisteramt, Nathalie Kosciusko-Morizet, sagte wenig später: "Ich habe den Eindruck, dass die Roma die Pariser stark bedrängen", und ihr Parteifreund, der Abgeordnete Bernard Debré" schrieb auf seinem Blog, "zahlreiche Roma wollen Paris in ihren Besitz nehmen [...], indem sie belästigen, stehlen, plündern und betteln".
Zigeuner, Manouche, Gypsy?
Mit Beschimpfungen vom dreckigen Lumpensammler bis zum notorischen Hühnerdieb ist auch Baro Windrestein aufgewachsen. Deswegen ist er wie nahezu alle Roma besonders sensibel – nicht zuletzt bei der gewünschten Selbstbezeichnung. So sind die in Deutschland verwendeten Begriffe Sinti oder Roma für viele in Frankreich eine herabsetzende, verallgemeinernde Bezeichnung, von der sie sich abgrenzen. "Mein Volk hat sich diese Bezeichnung nicht ausgewählt. Das war das europäische System, das uns alle in einen Topf geworfen hat", kritisiert Windrestein. "Ich selbst fühle mich als Manouche und als Franzose." Er legt Wert auf die Unterscheidung zwischen französischen Manouche, deutschen Sinti oder den Gitanos in Spanien und Portugal.
Die französischen Manouche grenzen sich besonders deutlich von den Roma-Zuwanderern ab. Nicht nur, weil sie Wert auf ihre französische Staatsbürgerschaft legen, sondern auch, weil sie unter der Verwechslung zwischen ihnen und den Roma aus Bulgarien, Rumänien und anderen osteuropäischen Staaten leiden. Sie, die lange in Frankreich leben, sehen keine Ähnlichkeiten mit den Zuwanderern. Trotz vereinzelter Solidaritätsbekundungen bei der Räumung von Roma-Lagern und gelegentlicher Proteste gegen die Abschiebungen durch französische Roma-Vereine bleibt das Verhältnis der französischen Roma zu den neuen Zuwanderern gespalten.
"Durch den Zuzug neuer Roma-Gruppen kommt es zu einer Konkurrenzsituation mit dem 'Fahrenden Volk'", sagt Wissenschaftler Peyroux. Der Begriff "Fahrendes Volk" steht in Frankreich für alle nicht sesshaften Franzosen unterschiedlichster Herkunft, unter ihnen eben auch Roma. Zu dieser administrativen Kategorie "gens de voyages", eingeführt 1912, gehören noch immer zwischen 250.000 und 400.000 Menschen. Es mangelt seit Langem an ausreichend Platz für ihre Wohnwagen. Zwar ist jede französische Gemeinde mit mehr als 5.000 Einwohnern seit dem Jahr 2000 verpflichtet, geeignete Flächen mit Wasser- und Stromversorgung bereitzustellen, doch weniger als die Hälfte kommt dieser Verordnung nach.
Die "gens de voyages" sehen ihre Lebensweise bedroht, wenn die Kommunen sie aus Angst vor den "neuen Roma" nicht mehr dulden. Denn im öffentlichen Diskurs werden nicht nur Roma-Zuwanderer und französische Roma in einen Topf geworfen, sondern auch das "Fahrende Volk" wird pauschal als Roma abgetan.
Auch Gabi Jimenez ist einer der "gens de voyages", ein Umherreisender, der sich zu den Gitanos zählt. Seit 30 Jahren bewohnt er ein Haus auf vier Rädern, das im Moment rund 50 Kilometer vor Paris steht.Er ist einer von 16 Künstlern, die 2007 im ersten transnationalen Roma-Pavillon auf der Biennale in Venedig ausstellen durften. Seine Bilder setzt er aus grell-bunten geometrischen Flächen zusammen, die an Kirchenfenster erinnern. "Caravanes" lautet der Titel seiner letzten Gruppenausstellung. Seine Art zu leben ist der Gegenstand seiner Kunstwerke.
Quellentext"Caravanes"
Wer im Caravan lebt, hat die Pflicht, ein Reiseheft, ein Carnet de Circulation, mit sich zu führen. Bis vor einem Jahr musste man sich mehrmals jährlich bei der Polizei einen Stempel holen, heute noch ein Mal im Jahr. Eine bewusst diskriminierende juristische Kontrolle!
Quelle: Gabi Jimenez
"Wer im Caravan lebt, hat die Pflicht, ein Reiseheft, ein Carnet de Circulation, mit sich zu führen. Bis vor einem Jahr musste man sich mehrmals jährlich bei der Polizei einen Stempel holen, heute noch ein Mal im Jahr. Eine bewusst diskriminierende juristische Kontrolle!" Gabi Jimenez steht auch jetzt neben einem bunt bemalten Caravan, doch der ist Teil der Ausstellung auf dem Hinterhof in der Rue de l'Ourq, Nummer 39.
Einst Sammler, und heute?
Viele, die an diesen Ort kommen, kennen sich. Das Gebäude beherbergt den größten Verein des "Fahrendes Volkes", die Fnasat. Die angeschlossene Bibliothek bietet eine umfassende Sammlung von Zeitschriften und Büchern über das Nomadentum und die "Zigeunerkultur". Auch die Revue études Tsiganes entsteht hier. Herausgeber Alain Reyniers, belgischer Anthropologe, sammelt Kenntnisse über die Geschichte der "Zigeunervölker", ein Begriff, der in seinen Augen auf die historische Lebensform von Roma und anderen Gruppen abzielt, nicht auf die Zugehörigkeit zu einer Ethnie.
Reyniers versucht mit seinen Forschungsergebnissen die Anpassungsschwierigkeiten und Integrationsprobleme von Roma in unseren Tagen zu erklären. "Viele ökonomische Bereiche, die ihnen früher als Nischen hätten dienen können, existieren einfach nicht mehr. Sie waren immer Sammler, Wiederverwerter. Doch die Recyclingbranche ist heute hoch technologisiert." Es gebe keinen Platz mehr für die traditionelle Lebensweise von Roma. Und solange Frankreichs Regierung den Arbeitsmarkt für die ankommenden Roma verschlossen halte, sei es fast unmöglich, sie besser zu integrieren.
Neben geregelten Arbeitsverhältnissen müsse vor allem der Zugang zu Schulen und der damit verbundene Erwerb der französischen Sprache verbessert werden, fordern Experten wie Olivier Peyroux. Aktuell bleibe das dringlichste Problem, kurzfristige Lösungen für eine humane Unterbringung der eingewanderten Roma zu finden. Die betriebene Abschiebepolitik sei einem Land wie Frankreich, das die Verbreitung der universellen Menschenrechte zu seinen historischen Verdiensten zählt, unwürdig, erklären Roma-Aktivisten und Menschenrechtsgruppen. Und auch in der französischen Politik scheint langsam die Erkenntnis zu wachsen, dass die in den vergangenen Jahren spürbar gewordenen rassistischen Tendenzen und das Erstarken der rechtsextremen Partei Front National fatale Folgen einer verfehlten Politik gegenüber Ausländern und Einwanderern sein könnten – unter der nicht nur, aber fast immer auch Roma zu leiden haben.
Romy Strassenburg lebt in Paris und ist für deutsche und französische Medien tätig. Sie schreibt für verschiedene Print- und Onlinemedien und arbeitet als Autorin von TV-Dokumentationen für Arte und France Télévision. 2008 wurde sie mit dem Deutsch-Französischen Journalistenpreis in der Kategorie Online ausgezeichnet. Sie hat einen Lehrauftrag an der Pariser Journalistenschule Institut Pratique du Journalisme. Mehr unter: Externer Link: www.romy-strassenburg.com