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Zwischen Verfolgung und Emanzipation | Homosexualität | bpb.de

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Zwischen Verfolgung und Emanzipation Essay

Volkmar Sigusch

/ 11 Minuten zu lesen

Die Schwulen- und Lesbenbewegung ist ein Lehrstück sexueller Emanzipation. Trotzdem müssen Homosexuelle nach wie vor mit Risiken leben. Die Worte "schwul" und "lesbisch" sind heute beides: Worte der Emanzipation und der Verachtung. Ein Essay von Volkmar Sigusch.

Das erste internationale Homosexuellen-Treffen in Frankfurt im Juli 1979. (© AP)

Einleitung

Wer über Homosexualität nachdenkt, hat es auch heute noch vor allem mit Vorurteilen zu tun. Die einen sind neuerdings positiv, die anderen seit Jahrhunderten negativ. Positive Vorurteile hören sich so an: Schwule sind gebildeter und sensibler, verdienen besser, ziehen sich erlesener an, sind weltweit vernetzt. Lesben sind selbstbewusster, emotional stärker, sexuell versierter, für Leitungspositionen geeigneter. Negative Vorurteile klingen so: Schwule sind weibisch ("Tunten"), schrill, feige, unsportlich, machen schmutzigen Sex, sind als Verantwortungs- und Geheimnisträger ungeeignet. Lesben wissen gar nicht, wie richtiger Sex gemacht wird, sind bissig, uncharmant, pseudomännlich, wollen überall das Sagen haben ("Kampflesben"). Im Grunde sind alle Homosexuellen Gesellschaftsparasiten, weil sie keine Kinder in die Welt setzen, welche die "Normalen" unter Strapazen großziehen müssen.

Die Wirklichkeit ist natürlich vielfältiger. Tatsächlich gibt es unter Homosexuellen alle Entwicklungen und Charaktere: Genies und Kleinstgeister, Anständige und Lumpen, Menschenfreunde und Menschenschinder. Damit ist gesagt, dass es im Grunde unverantwortlich ist, Menschen allein nach ihrer überdies immer mehr oder weniger flüssigen sexuellen Orientierung in einen Topf zu werfen: das Begehren eines Thomas Mann mit dem des SA-Führers Ernst Röhm, die Männerliebe eines James Dean oder Anthony Perkins mit der des Ökonomen John Maynard Keynes, des FBI-Chefs J. Edgar Hoover oder des Kolonialisten Cecil Rhodes oder auch die Frauenliebe einer Martina Navrátilová mit der einer Simone de Beauvoir oder einer Susan Sontag. Immer wird die differente Personalität des Begehrens zugunsten eines verramschenden Vorurteils beseitigt.

Ähnlich problematisch ist es, gleichgeschlechtliches Verhalten und Verlangen aus differenten Kulturen oder weit auseinander liegenden Epochen gleichzusetzen. Frauen werden von Frauen und Männer von Männern seit Jahrtausenden begehrt. Wie dieses Begehren jedoch erlebt und eingeordnet wird, bestimmt die jeweilige Kultur oder Epoche. Folglich ist zum Beispiel die Differenz zwischen dem antiken mannmännlichen Eros, der zur platonischen Staatskunst aufstieg, und unserer gegenwärtigen Homosexualität enorm. Vom Begehren des Sokrates führt kein gerader Weg zu dem von Pjotr Tschaikowski, Ludwig Wittgenstein, Heinrich von Brentano, Michael Kühnen oder Hape Kerkeling.

Geschichte der Verfolgung

Konzentrieren wir uns auf unsere Kultur, erkennen wir, dass die Geschichte der Homosexuellen bei uns eine der Verachtung und Verfolgung - und erst seit kurzem auch eine der Emanzipation ist. Im Jahr 538 verbot ein Edikt des Kaisers Justinian, genannt "Novella 77", neben Gotteslästerung auch mannmännlichen "Verkehr", weil beide Hungersnöte, Erdbeben und Pest hervorriefen. Später, seit dem Mittelalter, wurde mannmännlicher "Verkehr" bei uns mit dem Tod bestraft. Bis 1794 regelte Artikel 116 des Preußischen Landrechts die Todesstrafe. In England wurde sie offiziell 1861 abgeschafft.

Damit war sie aber nicht aus der Welt. Die Nationalsozialisten verschärften nicht nur den Strafrechtsparagrafen gegen mannmännlichen Verkehr, sie brachten im 20. Jahrhundert auch homosexuelle Männer, gezeichnet durch den "Rosa Winkel", zu Tausenden in Konzentrationslagern um.[1] Alle homosexuellen Männer und Frauen lebten in der NS-Zeit in Angst und Schrecken - wie heute immer noch in vielen außereuropäischen Ländern, von denen etliche, zum Beispiel der Iran, Jemen, Mauretanien und Sudan, die Todesstrafe verhängen, mit mehr als zehn Jahren Haft drohen wie zum Beispiel Kenia, Uganda, Burundi, Indien und Pakistan oder in diesen Tagen drastische Verschärfungen bis hin zur Todesstrafe planen wie Uganda, oft unter dem gezielten Einfluss US-amerikanischer evangelikaler Christen. Im Dezember 2008 stimmten nur 66 von 192 Ländern in der UN-Generalversammlung für eine Erklärung gegen die Diskriminierung Homosexueller. Der Vatikan soll dafür gesorgt haben, dass nicht mehr Länder zustimmten.

  1. Vgl. Günter Grau, Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933 bis 1945, Münster u.a. (i.E.); zur Zeit danach vgl. z.B. Dieter Schiefelbein, Wiederbeginn der juristischen Verfolgung homosexueller Männer in der Bundesrepublik Deutschland. Die Homosexuellen-Prozesse in Frankfurt am Main 1950/51, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 5 (1992) 1, S. 59-73.

Vergebliche Suche nach der "Ursache"

Aus dem mit dem Tode bedrohten Verhalten und Verlangen konstruierten in unserer Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem Psychiater eine Art Geisteskrankheit, genannt "conträre Sexualempfindung". Damit begannen die Versuche, Homosexuelles mit mehr oder weniger drastischen Mitteln der Medizin und auch der Psychologie "auszutreiben". Neben tiefenpsychologischen und verhaltenstherapeutischen Prozeduren samt Elektroschocks waren das operative Eingriffe, die entweder den Hormonhaushalt oder die Hirnfunktionen beeinflussen sollten. Der letzte Grauen erregende Höhepunkt waren in den 1970er Jahren Hirnoperationen, die sogenannte Psychochirurgen vornahmen.[2] Erst nach heftigen Protesten der kritischen Sexualwissenschaft wurden diese Menschenexperimente hierzulande eingestellt.

Alle Versuche, das homosexuelle Begehren zu beseitigen, sind gescheitert, psychotherapeutische ebenso wie medizinisch-operative. Nach wie vor aber gibt es "Heiler", oft gedrängt von fundamentalistisch-christlichen Organisationen. Scheinbar aufgeklärter und liberaler sind Nachrichtenmagazine, die auf ihrem Titel die Entdeckung eines "Homo-Gens" verkünden, das es schon aus Gründen der Komplexität nicht geben kann. Denn es ist ein Unding, ein psycho-sozial Zusammengesetztes und kulturell-gesellschaftlich Vermitteltes wie die geschlechtliche oder sexuelle Identität auf eine körperliche "Ursache" zurückzuführen. Apropos: Als "Ursache" der Homosexualität sind zahllose Umstände angeführt worden, zum Beispiel eine Hormonstörung vor der Geburt, ein weiblicher Körperbau, eine zu starke Bindung an die Mutter, eine Verführung in den Jugendjahren oder, wie in den 1990er Jahren behauptet, ein "Homo-Gen". Alle Annahmen konnten durch die Forschung nicht bewiesen werden.

Vermögen aller Menschen

Offenbar haben nach wie vor Menschen ein Problem damit, homosexuelles Verhalten und Verlangen als ein Vermögen anzusehen, das der Gattung Mensch insgesamt zu eigen ist. Als wir 1980 als Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung für einen "Aufruf zur Entkriminalisierung der Homosexualität"[3] Unterschriften sammelten, weil die politische Chance bestand, den "Homosexuellen-Paragrafen" 175 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen, ging einigen Angesprochenen wie Walter Dirks und Eugen Kogon die "anthropologische" Gleichstellung von Hetero- und Homosexualität zu weit. Der letzte Absatz unseres Aufrufs, den sie nicht akzeptieren konnten, lautet: "Für uns ist Homosexualität nichts Minderes, Kriminelles, Infektiöses, das verpönt und verfolgt gehört. Für uns ist Homosexualität nichts, dessen man sich zu schämen hätte. Anthropologisch betrachtet, verweist der Begriff ,Homosexualität' zuallererst auf einen menschlichen Sachverhalt: darauf, daß dieses Erleben und Verhalten zur Ausstattung der Gattung Mensch gehört, also nicht nur den manifest homosexuellen, sondern allen Menschen eigen ist."

Erfreulich war dagegen, wer unterzeichnet hat: Joseph Beuys, Heinrich Böll, Ludwig von Friedeburg, Marcel Reich-Ranicki, Luise Rinser, Hildegard Knef, Harry Valérien, Martin Walser, Wolfgang Koeppen, Wolfgang Abendroth, Pina Bausch, Margarethe von Trotta, Michael Gielen, Günter Grass, Bernhard Grzimek, Jürgen Habermas, Hans Werner Henze, Dieter Hildebrandt, Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, Siegfried Lenz, Reinhold Neven DuMont, Jil Sander, Johannes Mario Simmel und viele andere. Besonders erfreut haben uns damals die Ehepaare Inge und Walter Jens, Margie und Curd Jürgens, Margarete und Alexander Mitscherlich sowie Eva und Peter Rühmkorf.

Keiner Antwort würdigten uns alle Gewerkschaftsvorsitzenden sowie die Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Schmerzhaft war die Absage von Anna Freud, die als Kinderanalytikerin in London mit einer Lebensgefährtin zusammenlebte. Ihr Vater Sigmund Freud hatte Jahrzehnte zuvor an die Rat suchende Mutter eines Homosexuellen geschrieben, Homosexualität sei nichts, dessen man sich zu schämen hätte, sie sei kein Laster und keine Krankheit, sondern eine Variation der sexuellen Funktion.[4] Ebenso schmerzte die Absage Heinz Galinskis von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Er schrieb, dieser "Fragenkomplex" falle nicht in seinen "Zuständigkeitsbereich": "Diese Angelegenheit ist eine rabbinische und fällt daher in den religiösen Komplex."[5]

Verhindert haben die Streichung des "abscheulichen Homosexuellenparagraphen" (Adorno) in den damaligen Koalitionsverhandlungen die Sozialdemokraten Helmut Schmidt und Hans-Jochen Vogel, streichen wollte ihn der Liberale Hans-Dietrich Genscher, öffentlich unterstützt von seinen damaligen Parteifreunden Andreas von Schoeler und Günter Verheugen. Erst 1994, im Zuge der Wiedervereinigung, fiel der noch in Westdeutschland existierende Paragraf 175.

  1. Vgl. Volkmar Sigusch, Medizinische Experimente am Menschen. Das Beispiel Psychochirurgie, Beiwerk des Jahrbuchs für kritische Medizin, Bd. 2 (Argument-Sonderband 17), Berlin 1977; ders., Soziale Seelenkontrolle mit dem Skalpell. Psychochirurgie - hirnverbrannt. Haben "Seelenschneider" in Deutschland nichts zu fürchten? (Dossier), in: Die Zeit, Nr. 15 vom 4.4.1980, S. 23ff.

  2. Volkmar Sigusch/Martin Dannecker/Agnes Katzenbach, Der Aufruf der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung zur Entkriminalisierung der Homosexualität vom Januar 1981 im Spiegel einiger Voten, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 3 (1990) 4, S. 246-265.

  3. Vgl. A letter from Freud [an die Mutter eines Homosexuellen, 9.4.1935], in: American Journal of Psychiatry, 107 (1950/51) 4, S. 786f.

  4. Vgl. V. Sigusch et al. (Anm. 3), S. 254.

Liberalisierungen und Bewegungen

Für den weiteren Gang der Dinge entscheidend waren die vorausgegangenen Liberalisierungen 1968 und 1988 in Ost- und 1969 und 1973 in Westdeutschland. Nach Steinigung und Folter, nach Zuchthaus und KZ, nach Verachtung und Denunziation hatten Homosexuelle zum ersten Mal die Chance, ihre Eigenart kollektiv und öffentlich ohne Gefahr für Leib und Leben zu bekennen und zu einer gewissen Bewusstheit ihrer selbst zu gelangen. "Bewusste" homosexuelle Männer drehten damals den Spieß der Spießer einfach um, indem sie das Schimpfwort "schwul" mit erhobenem Kopf zum öffentlichen Kampfwort machten und dadurch zum Teil seines feindseligen Charakters beraubten.

Dieser Schwulenbewegung waren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Kämpfe und Bewegungen vorausgegangen, vor allem inspiriert von dem Juristen Karl Heinrich Ulrichs und dem Mediziner Magnus Hirschfeld. Die Leidensgeschichte lesbischer Frauen und ihr Kampf um die Menschenrechte reichen auch schon einhundert Jahre zurück.[6] Zu einer politischen Bewegung im engeren Sinn organisierten sich Lesben Ende der 1970er Jahre in Ost- und Anfang der 1980er Jahre in Westdeutschland. Zuvor waren Lesben vor allem in der Frauenbewegung aktiv. Als bundesweiter Auftakt der Schwulenbewegung in Erinnerung geblieben ist der 1973 von der ARD - unter spektakulärer Selbstausschaltung Bayerns - gesendete Film von Rosa von Praunheim mit dem viel sagenden Titel "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt". Die tragenden Ideen des Films stammten von dem Soziologen und späteren Sexualforscher Martin Dannecker, der in den Jahren danach in Sachen Homosexualität auch wissenschaftlich den Ton angab.[7]

Insgesamt sind Schwulen- und Lesbenbewegung ein Lehrstück sexueller Emanzipation. Keine Sexualform ist in den vergangenen Jahrzehnten kulturell und individuell so stark verändert worden wie die Homosexualität, die weibliche Sexualität als Geschlechtsform einmal ausgenommen. Flankiert von einer Studenten- und von einer Frauenbewegung, schrieben vor allem kämpferische Schwule Kulturgeschichte. Denn jene Lebensart schwuler Männer, die der Aufbruch der 1970er Jahre sichtbar machte, imponiert als kulturell vorgezogenes Modell der durch eine "neosexuelle Revolution"[8] seit den 1980er Jahren ermöglichten "normalen" Sexualformen: Assoziation bisher als unvereinbar angesehener seelischer und sozialer Modalitäten, Suche nach dem schnellen, umstandslosen sexuellen Thrill bei gleichzeitig vorhandener Liebesfähigkeit in Dauerbeziehungen, hohe Besetzung der Autoerotik sowie eine enorme Flexibilität an den gesellschaftlichen Zirkulationsfronten. Durch diesen Prozess wurden Heterosexuelle gewissermaßen homosexualisiert - in dem Sinn, dass auch sie sich "homosexuelle" Freiheiten herausnahmen: keine Kinder, keine rigiden Geschlechtsrollen, alles für sich selbst, One-Night-Stands, markante Körperpflege usw.

Kein Wunder, dass die ehemals auffälligen homosexuellen Männer immer unauffälliger und die ehemals unauffälligen heterosexuellen Männer immer auffälliger wurden. Die einen spielen jetzt Fußball und gehen eine "Homo-Ehe" ein, die anderen lackieren sich die Fingernägel, besuchen Kunstausstellungen und tragen immer mal wieder die Unterwäsche ihrer Freundin. Inzwischen sind beide nicht mehr unter die alten Klischees zu subsumieren. Mehr oder weniger haben diese kulturellen Transformationen alle Gesellschaftsindividuen erfasst, sodass sich bisher im Untergrund existierende oder noch gar nicht organisierte Neosexualitäten und Neogeschlechter nach und nach zeigen. Zu ihnen gehören Bisexuelle, Fetischisten, BDSMler, Bigender, Transvestiten, Transgender, Transidentische, Transsexuelle, E-Sexuelle, Intersexuelle, Polyamoristen, Asexuelle, Objektophile, Agender und andere.[9]

Anhaltender Wille zur Vernichtung

Doch trotz dieses Aufbruchs dürfen Tatsachen nicht ignoriert werden. Eine ist: Menschen, die ganz überwiegend homosexuell empfinden und so leben, waren und sind in unserer Kultur eine Minderheit. Eine andere ist: Angehörige von Minderheiten müssen bei uns nach wie vor mit Risiken leben.

Heute sind die Worte "schwul" und "lesbisch" beides: Worte der Emanzipation und der Verachtung. Einerseits gibt es Gay Pride Parades und Gay Games, werden gelegentlich homosexuelle Paare kirchlich gesegnet, ist das einst heilige Institut der Ehe für dessen einst unheilige Zerstörer partiell geöffnet worden, setzt sich der US-Präsident trotz erheblicher Widerstände dafür ein, dass sich Armeeangehörige, Männer wie Frauen, endlich zu ihrer Homosexualität bekennen dürfen, bilden in der öffentlich-rechtlichen TV-Serie "Verbotene Liebe" die klügsten Frauen ein wunderschönes lesbisches Paar, zeigen zwei traditionell "männliche" junge Männer immer wieder aller Welt, wie angenehm es offensichtlich ist, einen Mann sinnlich zu küssen, ja wie normal es heute ist, schwul zu sein. Andererseits ist "schwul" auf Schulhöfen ein Beleidigungswort ersten Ranges, werden Schwule als solche von Normopathen "geklatscht" und ermordet, müssen Lesben mit "korrigierenden" Vergewaltigungen und Lynchmorden rechnen, suchen Forscher nach wie vor die "Ursache" dieser [10] "hetzt der Papst gegen die Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaften" - so der Jesuit und Theologieprofessor Friedhelm Mennekes.[11]

Dass die Homosexuellen trotz aller Liberalisierungen nach wie vor prinzipiell an die Wand gestellt sind, geht auf die weitgehend unbewusste Tatsache zurück: dass alle Menschen auch homoerotische Wünsche haben. Der Hass der "Normalen" auf die Homosexuellen ist unabstellbar wie die Angst vor ihnen, solange beide für die Heterosexualität konstitutiv und dazu noch weitgehend dem Bewusstsein entzogen sind. Solange es Hetero- und Homosexualität als abgezirkelte gesellschaftliche Sexualformen gibt, so lange wird das so sein. Umso verständlicher ist es, dass immer mehr Homosexuelle nur noch "normal" leben wollen: gleichgestellt und amtlich registriert. Denn "normal" zu sein ist noch immer das Sicherste von der Welt. Nach wie vor wünscht sich so gut wie keine Mutter und so gut wie kein Vater, das eigene Kind möge homosexuell werden. Darauf aber spekulieren jene, welche die Homosexualität "verhüten" wollen. Vor wenigen Jahren, in AIDS-Zeiten und auf homosexuelle Männer gemünzt, sagte zum Beispiel der Kultusminister des Freistaates Bayern: Homosexualität sei "contra naturam (...), nicht nur contra deum (...) also naturwidrig", und weiter: "Dieser Rand muß dünner gemacht werden, er muß ausgedünnt werden."[12] Solche Sätze präsentieren schlagartig das Kontinuum der Barbarei. Nahmen in der Vergangenheit soziale Probleme überhand, bekam immer jenes Meinen Auftrieb, in dem sich Verhüten und Ausmerzen verschränken. Das sei nicht vergessen.

Auch nicht vergessen sei, welche Gewalt die katholische Kirche in vielen Ländern zahllosen Kindern und Jugendlichen angetan hat, die ihr anvertraut worden sind. Anscheinend haben sich in den zölibatär-männlichen Einrichtungen mehr sexuell Unreife, Protopädophile und Protohomosexuelle versammelt als in jeder anderen Männerorganisation. Will die katholische Kirche in Zukunft als moralische Instanz in Sachen Sexualität mitreden, muss sie sich zunächst einmal selbst geißeln und begreifen, dass das Sexuelle zum Menschen gehört wie das geistige Fantasieren und das körperliche Verdauen und dass es als solches nichts Böses ist. Sollte sie das eines Tages tatsächlich erkennen, wird sie im Einklang mit den heiligen Schriften den Zölibat abschaffen, Frauen zu Priesterinnen weihen und Homosexuelle nicht mehr verteufeln. Là-bas.

Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 15-16/2010)

  1. Vgl. Gabriele Dennert/Christiane Leidinger/Franziska Rauchut (Hrsg.), In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Berlin 2007.

  2. Vgl. z.B. Martin Dannecker/Reimut Reiche, Der gewöhnliche Homosexuelle. Eine soziologische Untersuchung über männliche Homosexuelle in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1974; Martin Dannecker, Der Homosexuelle und die Homosexualität, Frankfurt/M. 1978.

  3. Volkmar Sigusch, Die Zerstreuung des Eros. Über die "neosexuelle Revolution", in: Der Spiegel, Nr. 23 vom 3.6.1996, S. 126-130; ders., Die Trümmer der sexuellen Revolution, in: Die Zeit, Nr. 41 vom 4.10.1996, S. 33f.; ders., Die neosexuelle Revolution. Über gesellschaftliche Transformationen der Sexualität in den letzten Jahrzehnten, in: Psyche - Zeitschrift für Psychoanalyse, 52 (1998) 12, S. 1192-1234.

  4. Vgl. Volkmar Sigusch, Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion, Frankfurt/M.-New York 2005.

  5. Vgl. Papst rügt Gleichstellung, in: Süddeutsche Zeitung vom 3.2.2010, S. 7.

  6. "Trauen Sie keinem Pfarrer". Jesuit Mennekes zum Missbrauch im Orden, in: Frankfurter Rundschau vom 5.2.2010, S. 38f., hier: S. 39.

  7. Hans Zehetmair im Bayerischen Rundfunk, zit. nach: Ins Krankhafte hinein, in: Der Spiegel Nr. 17 vom 20.4.1987, S. 56-59, hier: S. 56. Vgl. auch die ausführliche Wiedergabe in: Volkmar Sigusch, Anti-Moralia. Sexualpolitische Kommentare, Frankfurt/M.-New York 1990, S. 206f.

Fussnoten

Volkmar Sigusch, Jahrgang 1940, war bis Oktober 2006 Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt/Main.