"Holocaust" und politische Bildung - Ergebnisse der dritten Befragungswelle
Tilman Ernst
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1978 ließen der WDR und die Bundeszentrale für politische Bildung 2.800 Zuschauerinnen und Zuschauer zur US-Serie "Holocaust" befragen - zwei Wochen vor, eine Woche nach und über drei Monate nach der Ausstrahlung. Dieser Text von 1979 fasst die Ergebnisse der letzten Befragung zusammen.
Hinweis
Dieser Text liefert heute einen Einblick in die Ansätze der politischen Bildung der 1970er Jahre und spiegelt dabei die Sprache und die Perspektive des damaligen wissenschaftlichen Diskurses wider. Bei einigen Begriffen hat die Redaktion Links zu aktuellen Inhalten eingefügt, und zur besseren Lesbarkeit wurde der Text an die neue deutsche Rechtsschreibung angepasst.
Zitat
Haben sich die Wirkungen der Fernsehserie Holocaust stabilisiert?
Die Untersuchungsanlage der von der Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn und dem Westdeutschen Rundfunk, Köln, konzipierten dreistufigen Begleitstudie zu der Interner Link: Fernsehserie „Holocaust“ und ihren Wirkungen wurde in MEDIA PERSPEKTIVEN bereits vorgestellt, die kurzfristigen Effekte unmittelbar nach Ausstrahlung sowie eine Darstellung der Verhältnisse vor Ausstrahlung der „Serie“ referiert . In diesem Beitrag soll gezeigt werden, inwieweit sich die damals festgestellten Effekte und Wirkungen stabilisiert haben und welche Argumente und Gegenargumente in den Gesprächen über „Holocaust“ verwendet wurden. Darüber hinaus werden einige generelle Gesichtspunkte zur Diskussion gestellt, die man als filmunspezifische, indirekte Wirkungen des Fernsehfilms bezeichnen könnte .
Kurzzeiteffekte von „Holocaust“ bleiben auch längerfristig erhalten
In der Diskussion über die Wirkungen von „Holocaust“ wurde immer wieder die Befürchtung oder auch Hoffnung geäußert, „Holocaust" sei ein „Strohfeuer“, ein Ereignis also, dessen Effekte in kurzer Zeit wieder verschwunden sind. Die Ergebnisse der Wiederholungsbefragung (3. Welle) 14 Wochen nach Ausstrahlung der Serie bei einer repräsentativen Stichprobe von ca. 500 Befragten (unmittelbar nach Ausstrahlung bereits befragte „Holocaust“-Seher) zeigen, dass die im ersten Beitrag dargestellten Tendenzen unmittelbar nach Ausstrahlung von „Holocaust“ sich als in erheblichem Umfang zeitstabil erwiesen haben. Zwar gibt es - wie nicht anders zu erwarten - eine Abschwächung hinsichtlich der generell positiven Stellungnahmen zu „Holocaust" und ein mehr oder weniger deutliches Verblassen der positiven Effekte, im Bereich des Wissens, der Meinungen und der Einstellungen; gegenläufige Tendenzen sind jedoch nur bei wenigen Fragen und Befragten zu beobachten.
Die folgenden Ergebnisse stellen die längerfristigen Wirkungen von „Holocaust“ in einigen markanten Punkten dar. Wie im ersten Bericht über die Ergebnisse unmittelbar nach Ausstrahlung, sind sie gegliedert in Aktivierung, Gespräche, Wissen, Meinungen und Einstellungen sowie Bezüge zur heutigen Zeit bzw. Generalisierung.
Auch 14 Wochen nach Ausstrahlung wird über „Holocaust“ gesprochen
Unmittelbar nach der Ausstrahlung war festzustellen, dass über 80 Prozent der Zuschauer mit Familienangehörigen, Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen über „Holocaust“ gesprochen haben. Bei der Wiederholungsbefragung 14 Wochen nach Ausstrahlung, bei der erhoben wurde, wann zuletzt über „Holocaust“ gesprochen worden war, zeigt sich, dass nach Angabe der Befragten die Gesprächshäufigkeit mit Familienangehörigen zunächst gleichgeblieben ist, während die Gesprächshäufigkeit mit Freunden und Bekannten oder Arbeitskollegen noch um rund 10 Prozentpunkte gegenüber dem Wert unmittelbar nach Ausstrahlung anstieg. Die Gesamtzahl der Befragten, die mit Familienangehörigen und Bekannten, Freunden und Arbeitskollegen Gespräche führen, nimmt dann im Verlauf der 14 Wochen ab und erreicht zum Befragungszeitpunkt einen durchschnittlichen Wert von 14 Prozent. Dabei zeigen sich folgende Zusammenhänge: Insbesondere die jüngeren Altersgruppen haben mit Freunden, Bekannten und am, Arbeitsplatz über „Holocaust“ gesprochen, und zwar unabhängig davon, ob sie „Holocaust“ selbst positiv oder negativ beurteilen und ob sie durch „Holocaust“ innerlich, betroffen sind oder nicht.
Zitat
Insbesondere jüngere Altersgruppen haben über Holocaust gesprochen
Die Inhalte dieser Gespräche bezogen sich bereits kurz nach Ausstrahlung nicht nur auf ganz spezifische, den Film selbst betreffende Themen, sondern auch in erheblichem Umfang auf darüber hinausweisende Probleme, wie etwa Lehren, die aus dem Film gezogen werden können oder die Frage nach den Ursachen und nach der Schuld.
Mit größerem zeitlichen Abstand zur Ausstrahlung ergeben sich hier leichte Verschiebungen: Stärker thematisiert wird 14 Wochen nach Ausstrahlung die Frage der wahrheitsgetreuen Wiedergabe, Probleme der Judenverfolgung, des Antisemitismus; ob man ein Thema wie Judenvernichtung heute noch bringen soll und welche Wirkung der Film wohl gehabt haben könnte.
Zitat
Inhalt der Gespräche berührten allgemeine Problematik
Mit den Ergebnissen der Befragung 14 Wochen nach Ausstrahlung liegen nun auch detaillierte Auskünfte über die Art und Weise der Gespräche über „Holocaust“ vor, mit welchen Argumenten, persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen der Gesprächsteilnehmer zu rechnen ist. Dies sind wichtige Voraussetzungen für die inhaltliche Gestaltung von Begleitmaßnahmen, da damit die Argumente, Meinungen und Einstellungen, die etwa ein Jugendlicher in seinem unmittelbaren sozialen Kontext antrifft, zum Ausgangspunkt für von außen herangetragene Informationen gemacht werden können.
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Verbreitung von „Argumenten“, mit denen sich ein Gesprächsteilnehmer oder Mediennutzer konfrontiert sehen kann. Die Prozentangaben unter der Spalte „Ansicht wird eingeschätzt als richtig, als falsch“, bedürfen noch weitergehender Analyse und sind vorerst nur als Anhaltspunkte zu werten. Sie verdeutlichen aber, dass Begleitmaßnahmen zum Thema Nationalsozialismus mit harten Gegenpositionen rechnen müssen, die mit logischen und rationalen Argumenten sicher nicht zu erschüttern sind.
Zitat
Positionen zum Thema Nationalsozialismus mit rationalen Argumenten oft nicht zu erschüttern
Frage: „Wir haben hier eine Reihe von Ansichten aufgeführt, die wir im Zusammenhang mit „Holocaust“ gehört haben. Können Sie uns sagen, welche dieser Ansichten Sie selbst schon einmal gehört oder gelesen haben?“
Basis 14 Wochen nach Ausstrahlung (497 F)
Ansicht schon einmal gehört oder gelesen
Ansicht wird eingeschätzt als
Ansicht wird nicht eingeschätzt
Total %
richtig %
falsch %
%
Einmal muß Schluß sein, man kann uns Deutsche doch heute nicht mehr für die Verbrechen des Nationalsozialismus verantwortlich machen.
72
59
19
22
Wer vom Unrecht an den Juden spricht, muß auch vom Unrecht an den Deutschen sprechen, z. B. von der Bombardierung deutscher Städte oder der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten.
57
59
18
23
Daß heute ausschließlich über Verbrechen des Nationalsozialismus gesprochen wird und nicht ebenso über die Verbrechen der Amerikaner, Engländer oder Russen, liegt nur daran, daß wir Deutsche den Krieg verloren haben.
57
55
19
27
Die deutsche Bevölkerung hat damals von den Verbrechen der Nationalsozialisten an den Juden nichts gewußt.
55
51
25
24
Natürlich war das Leben in den Konzentrationslagern nicht angenehm, aber es war schließlich Krieg, und die Soldaten an der Front hatten auch kein angenehmes Leben.
34
27
38
35
Wenn heute Verbrechen des Nationalsozialismus hochgespielt werden so nur, weil man uns Deutschen die wirtschaftlichen Erfolge neidet, die wir nach dem Krieg errungen haben.
32
31
37
32
Die Vernichtung der Juden durch den Nationalsozialismus ist eine Propagandalüge, die nur dazu dient, uns Deutsche zu Wiedergutmachungszahlungen in Milliardenhöhe zu erpressen.
24
10
59
31
Es ist von anerkannten Historikern nachgewiesen worden, daß kein einziger Jude in deutschen Konzentrationslagern vergast worden ist.
22
6
61
33
Die Todeslager der Nazis sind eine Erfindung kommunistischer Propaganda; wie sonst ist es zu erklären, daß sie alle in Gebieten liegen, die heute von Kommunisten regiert werden.
15
6
60
34
Wissenszuwachs wird weiterhin positiv eingeschätzt
Das zentrale Wirkungsmoment von „Holocaust“ unmittelbar nach Ausstrahlung war die emotionale Betroffenheit, die, wie bei der Darstellung der kurzfristigen Wirkungen vermutet, eine generelle Sympathie und Bejahungstendenz zu allen Fragen in Zusammenhang mit „Holocaust“ ausgelöst hat. Dennoch blieben durchgängige und längerfristig nachweisbare Tendenzen auch im Bereich des Wissens erhalten. Die folgende Tabelle stellt die Ergebnisse 14 Wochen nach Ausstrahlung von „Holocaust“ dar.
Frage: „Würden Sie sagen, daß Sie persönlich durch „Holocaust“ Dinge über die Zeit des Nationalsozialismus erfahren haben, die Sie bisher nicht wußten?"
Befragte insges.
14-29 Jahre
30-39 Jahre
40 und älter
Autoritäre Einstellung
Polit. Entfremdung
wenig
mittel
stark
wenig
mittel
stark
Ja
73 %
79 %
65 %
71 %
66 %
71 %
79 %
67 %
73 %
77 %
Nein
27 %
21 %
35 %
29 %
34 %
29 %
21 %
33 %
27 %
23 %
Ein Vergleich dieser Ergebnisse mit denen unmittelbar nach Ausstrahlung zeigt, dass die „Ja“-Antworten bei allen Altersgruppen angestiegen sind. Der durchschnittliche Zuwachs beträgt rund 20 Prozent. Dies ist sicherlich auch auf die Fülle von Gesprächen zurückzuführen, in denen die Teilnehmer neue Ansichten, Argumente und Informationen kennengelernt haben. Interessanterweise zeigt sich ein Anstieg auch bei den Gesprächsteilnehmern, die überdurchschnittliche Ausprägungen der Merkmale autoritäre, unpolitische Haltung („Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“) und politische Entfremdung („Politiker machen auf unsere Kosten schöne Reisen“) erkennen lassen. (Die sich hier anschließende Frage, in welchem Umfang „Holocaust“ wichtige Zielgruppen der politischen Bildung erreicht hat, wird in weiteren Auswertungen untersucht).
Zitat
Ausmaß der Grausamkeiten war vielen vorher nicht bekannt
Das subjektive Urteil über den eigenen Wissensstand wird aussagekräftiger, wenn man fragt, was „Holocaust“ an Neuem gebracht hat. An erster Stelle steht hier das Ausmaß der Grausamkeiten, das insbesondere den Frauen, den jüngeren und mittleren Altersgruppen sowie den formal geringer Gebildeten nicht bekannt war. Dass dies nicht nur vereinzelte Wissensdaten sind, beweisen die Ergebnisse zu vielen anderen Fragen, sowohl unmittelbar nach Ausstrahlung als auch 14 Wochen später, von denen hier nur einige herausgegriffen werden sollen.
Statement: „'Holocaust' macht bestimmte Vorgänge während der Zeit des Nationalsozialismus begreiflich".
Basis 527 F unmittelbar nach Ausstrahlung
Basis 497 F 14 Wochen später
Ja, stimmt
60 %
54 %
Unentschieden
21 %
25 %
Nein, stimmt nicht
20 %
21 %
Statement: „'Holocaust' ist ein guter Geschichtsunterricht für diejenigen, die die Zeit damals nicht miterlebt haben".
unmittelbar nach Ausstrahlung
14 Wochen später
Ja, stimmt
70 %
65 %
Unentschieden
18 %
22 %
Nein, stimmt nicht
11 %
13 %
Statement: „'Holocaust' sollte in allen Schulen der Bundesrepublik gezeigt werden".
unmittelbar nach Ausstrahlung
14 Wochen später
Ja, stimmt
48 %
45 %
Unentschieden
25 %
28 %
Nein, stimmt nicht
27 %
28 %
Zitat
Interesse an mehr Informationen geweckt
Trotz der vielfältigen und neuen Informationen durch „Holocaust“ hat die Serie auch einen zusätzlichen Wissensbedarf geschaffen, der sich auf die Zeit des Nationalsozialismus und seine Konsequenzen bezieht. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über zusätzliche gewünschte Themen und inhaltliche Schwerpunkte, soweit sie sich in der Erhebung 14 Wochen nach Ausstrahlung abzeichnen.
Über welche Themen man gern mehr erfahren würde:
Frage: „Wir haben hier eine Liste zusammengestellt. Bitte lesen Sie sie einmal in Ruhe durch und sagen uns, über welche Punkte Sie gern mehr erfahren würden?" Vorgabe: Liste; Mehrfachnennungen möglich
Basis Befragte, 14 Wochen nach Ausstrahlung
Total
429 F %
14-29 Jahre 130 F %
30-39 Jahre 107 F %
40 Jahre und älter 260 F %
über die Frage, warum das Ausland den Juden nicht geholfen hat
49
54
51
44
über die Frage, was die Deutschen von der Judenvernichtung gewusst haben
37
40
41
34
über die Haltung der Kirchen zum Nationalsozialismus
32
39
38
26
über die Frage, wodurch der Nationalsozialismus begeisterte Anhänger fand
29
35
31
25
über den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus
27
32
30
22
über die Frage, ob man Unrecht tun kann, wenn man dem Gesetz gehorcht
27
30
30
23
über die Entstehung des Nationalsozialismus und seine Voraussetzungen
26
38
33
16
über die Frage, warum sich die Juden nicht gewehrt haben
22
31
19
20
über die Frage, welche Vorurteile heute in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Minderheiten bestehen
21
32
22
18
über die Verfolgung politisch anders Denkender z.Z. des Nationalsozialismus
21
27
17
18
über das Schicksal der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus
21
23
22
19
über die geschichtlichen Ereignisse in der Zeit des Nationalsozialismus
20
29
25
13
über die Frage, wie die deutsche Bevölkerung während der Zeit des Nationalsozialismus sich verhalten hat
20
27
19
17
über die nationalsozialistische Lehre und Weltanschauung
13
15
17
9
über politische Denk- und Verhaltensweisen, die heute wie damals undemokratischen Entwicklungen Vorschub leisten
12
11
11
12
über die Frage, was wir heute aus „Holocaust“ lernen können
11
12
11
10
über Antisemitismus
10
15
12
7
keine Information erwünscht
16
11
15
18
Zitat
Hinweise für die politische Bildungsarbeit
Diese Tabelle gibt wertvolle Hinweise für die inhaltliche Schwerpunktsetzung von Begleitmaterial und die inhaltliche Vorbereitung von Diskussionen über „Holocaust“, jedoch nicht in der Weise, dass ausschließlich die am häufigsten genannten Punkte intensiv behandelt werden, sondern eher in der inhaltlichen Verknüpfung hoch und niedrig besetzter Ansichten, wie etwa die Verknüpfung der Frage, warum das Ausland den Juden nicht geholfen hat, mit der Frage, was wir heute aus „Holocaust“ lernen können. Die Häufigkeitsverteilung macht deutlich, dass an erster Stelle zwar ein „entlastender“ Themenbereich angesprochen wird, dennoch aber findet das Verhalten von betroffenen Institutionen wie auch Individuen erhebliches Interesse.
Diese (wenigen) Hinweise auf die längerfristige Wirkung von „Holocaust“ im kognitiven Bereich sind nicht nur wegen ihrer Zeitstabilität beachtenswert, sondern auch, weil „Holocaust“ 14 Wochen nach Ausstrahlung weiterhin als glaubwürdig und authentisch eingeschätzt wird.
Zitat
Nur leichte Veränderungen auf die Frage, ob die Sendung die damaligen Verhältnisse richtig wiedergegeben hat
Die folgende Tabelle zeigt, dass sich bei den Antworten auf die Frage, ob die Sendung die damaligen Verhältnisse richtig wiedergegeben hat, nur leichte Veränderungen ergeben haben.
Frage: „Sind Sie der Meinung, dass die Sendung die damaligen Verhältnisse richtig weitergegeben hat?“ Nach Ausstrahlung: A und 14 Wochen später: B
Total
Volksschule ohne Lehre
Volksschule mit Lehre A
Mittelschule b. Universität
A 527 F %
B 497 F %
A 148 F %
B 140 F %
A 205 F %
B 193 F %
A 175 F %
B 164 F %
Ja, vollständig
15
11
14
6
15
14
17
13
Ja, überwiegend
73
71
72
75
72
65
75
74
Nein, überwiegend nicht
8
14
10
16
9
12
5
13
Nein, überhaupt nicht
2
2
3
2
4
1
Keine Angabe
2
3
1
4
3
4
3
1
Verblassende Effekte bei Meinungen und Einstellungen
Mit Meinungen und Einstellungen sind hier Sachverhalte gemeint, die in der heutigen politischen Kultur, etwa mit Blick auf die generelle Einschätzung der Zeit des Nationalsozialismus oder hinsichtlich neofaschistischer Tendenzen oder der Einstellung zur Verjährungsfrist oder dem Antisemitismus eine Rolle spielen. Bereits im ersten Bericht über die kurzfristigen Wirkungen von „Holocaust“ wurde betont, dass ein einziger Film, eine einzelne Sendung, auch wenn sie 8 Stunden dauert, in diesem Bereich nur wenig ausrichten kann. Zu erwarten waren von vornherein nur leichte Veränderungen, die um so eher nur kurzfristig in Erscheinung treten, je geringer weitergehende Bemühungen sind.
Zitat
Abschwächung der Kritik nach 14 Wochen
Kritische Meinungen zum Fernsehfilm „Holocaust“ selbst werden auch 14 Wochen nach Ausstrahlung nicht von der Mehrheit der Zuschauer vertreten. Mit größerem zeitlichen Abstand ist eine leichte Abschwächung der Kritik zu beobachten. Hierzu nur drei Beispiele :
Statement: „Holocaust“ ist ein typisch amerikanischer Spielfilm; mit den wirklichen Verhältnissen des Nationalsozialismus hat er nicht viel zu tun. Nach Ausstrahlung: A und 14 Wochen später: B
Basis
A
B
Alle Befragten 527 F %
14-29 jährige 143 F %
Alle Befragten 497 F %
14-29 jährige 130 F %
Ja, stimmt
17
13
15
11
Unentschieden
28
20
34
27
Nein, stimmt nicht
56
67
51
62
Statement: Ein Thema wie Judenverfolgung sollte man nicht als Spielfilm darstellen
Basis
A
B
Alle Befragten 527 F %
14-29 jährige 143 F %
Alle Befragten 497 F %
14-29 jährige 130 F %
Ja, stimmt
33
33
25
17
Unentschieden
20
15
20
19
Nein, stimmt nicht
47
52
55
65
Statement: Durch Sendungen wie „Holocaust“ schadet man nur dem Ansehen der Deutschen im Ausland
Basis
A
B
Alle Befragten 527 F %
14-29 jährige 143 F %
Alle Befragten 497 F %
14-29 jährige 130 F %
Ja, stimmt
41
34
40
31
Unentschieden
27
32
29
32
Nein, stimmt nicht
32
34
31
38
Zitat
Zahl der Verjährungsgegner nahm wieder ab
Ein noch unklares Bild bieten die Ergebnisse zur Verjährungsfrage. Während unmittelbar nach Ausstrahlung von „Holocaust“ die Verjährungsgegner bei den Zuschauern zahlreicher waren, ist es 14 Wochen nach Ausstrahlung umgekehrt. über dieses Ergebnis kann man - ohne weitere Auswertungen - nur spekulieren: Fernseh- und Presseberichte zur Verjährungsdebatte im Bundestag haben mit dem Argument der verfahrenstechnischen Schwierigkeiten bei NS-Prozessen die Möglichkeit einer „neutralen“ Position geschaffen.
Zitat
Abschwächung der Wirkungen auf Meinungen und Einstellungen, aber nicht auf das Niveau vor Ausstrahlung
Auf allen übrigen Einstellungs-Indikatoren, wie etwa der moralischen Verpflichtung, Wiedergutmachung zu leisten oder der Mitschuld der zur Zeit des Nationalsozialismus erwachsenen Deutschen oder der Einschätzung des Nationalsozialismus als gute Idee oder den antisemitischen Tendenzen (die Ergebnisse hierzu wurden im Bericht über die kurzfristigen Wirkungen von „Holocaust“ detailliert dargestellt) zeigt sich ein leichtes Abschwächen der Effekte, jedoch nicht soweit, daß das Niveau vor Ausstrahlung wieder erreicht wird. Mit anderen Worten: Auch bei den Meinungen und Einstellungen sind die durch „Holocaust“ gesetzten gegenläufigen Impulse nicht spurlos „verarbeitet“ worden.
Bezüge zur heutigen Zeit unverändert
Auch in den Ergebnissen 14 Wochen nach Ausstrahlung wird deutlich, dass „Holocaust“ vielfältige Bezüge zu heutigen aktuellen und akuten Problemen der politischen Kultur geschaffen hat. Nach wie vor stimmen rund 70 Prozent aller Befragten der Ansicht zu, dass man aus „Holocaust“ lernen könne, dass Gehorsam nicht immer das Richtige ist. Nach wie vor befürchten 16 Prozent aller Befragten, dass ein Geschehen wie es „Holocaust“ darstellt, unter bestimmten Bedingungen erneut vorkommen könnte.
Eine pauschale Frage nach der Generalisierbarkeit wird 14 Wochen nach Ausstrahlung beantwortet:
Frage: „Würden Sie sagen, daß Deutsche aus „Holocaust“ lernen können für unser heutiges Denken und Handeln in der Bundesrepublik, - oder ist das nicht der Fall?"
Basis
497 F %
Ja, wir können daraus lernen
66
Nein, nicht der Fall
12
Weiß nicht
22
Zitat
66 Prozent meinen nach 14 Wochen: wir können aus Holocaust lernen
Weitere Fragen zeigen im Detail, was von den Befragten für wichtig gehalten wird, um Entwicklungen zu diktatorischen Herrschaftsformen wie dem Nationalsozialismus zu verhindern. Dabei wird besonders hervorgehoben, dass auch in schwierigen Zeiten eine Demokratie besser in der Lage ist, mit Problemen fertig zu werden als eine Diktatur. Zum zweiten wird betont, dass die Gefahr undemokratischer Entwicklungen um so geringer ist, je stärker sich die Bürger am politischen Geschehen beteiligen: Allerdings bleibe neben der Garantie, die eine demokratische Verfassung bietet, als Unwägbarkeit die „Natur des Menschen“ bestehen, die man heute so wenig wie damals ändern könne.
Zitat
Unerwartet hohes Maß an Wirkungen im emotionalen, rationalen und Einstellungsbereich durch andere Medien mit verursacht
Obwohl die Gesamtergebnisse der empirischen Erhebungen noch vielfältiger Und weitergehender - statistisch anspruchsvollerer - Analysen bedürfen, ist mit den hier dargestellten Ergebnissen und Hinweisen das Resümee gerechtfertigt, dass „Holocaust“ zu den Fernsehbeiträgen gehört, die ein unerwartet hohes Maß an Wirkung bei Zuschauern sowohl im emotionalen und rationalen als auch im Einstellungsbereich gehabt haben. Dies ist um so höher zu werten, als die generelle Einstellung von Fernsehzuschauern durch das Bedürfnis nach leicht konsumierbaren und „rückständefreien“ Fernsehangeboten gekennzeichnet ist. Dennoch ist zu bedenken, dass dies nicht die alleinige und isolierte Leistung des Films an sich ist. Andere Medien haben mit dazu beigetragen; haben die Aufmerksamkeit für „Holocaust“ erhöht und die Bedingungen der Wirksamkeit mitgeschaffen.
Dies jedoch war auch ein wechselseitiger Prozess, denn die zahlreichen, bisher gesendeten Filme zum Themenbereich Nationalsozialismus, haben nicht annähernd die Aufmerksamkeit in den übrigen Medien und der Öffentlichkeit erfahren wie „Holocaust“.
Filmunspezifische Wirkungen von „Holocaust“
Im ersten Bericht über die unmittelbar nach Ausstrahlung untersuchten Reaktionen der Zuschauer wurde als eine positive Funktion von „Holocaust“ hervorgehoben:
Zitat
Positive Funktion von Holocaust für die politische Bildung
„Holocaust“ gibt allen pädagogisch Verantwortlichen die Gelegenheit, Themen im Zusammenhang mit der Entstehung, den Taten und den Konsequenzen des Nationalsozialismus aufzugreifen. „Holocaust“ hat hierfür die für den Erfolg unbedingt notwendige Sensibilisierung breiter Teile der Bevölkerung geschaffen.
Zitat
Generelle Debatte über den Wert des heutigen Geschichtsunterricht
Diese Behauptung lässt sich mit einiger Berechtigung acht Monate nach Ausstrahlung zumindest teilweise belegen. Der wohl deutlichste Hinweis für Änderungen auf diesem Gebiet sind die Anfragen von etwa 70 000 Lehrern nach dem Begleitmaterial der Bundeszentrale zu „Holocaust“. Dieses Begleitmaterial wurde bundesweit (auch von den Landeszentralen für politische Bildung) in einer Auflage von ca. 500 000 Exemplaren verteilt. In pädagogischen Fachzeitschriften finden sich zunehmend Stellungnahmen von Lehrern und Didaktikern sowie Erfahrungsberichte über Unterrichtseinheiten, die das Thema Nationalsozialismus und Judenvernichtung behandeln. Eine generelle Debatte über den Wert bzw. Unwert des bisherigen Geschichtsunterrichtes hat sich entzündet. Auf dem Büchermarkt sind Titel neuaufgelegt worden bzw. neu erschienen, die das Thema Nationalsozialismus, geschichtliche Hintergründe, Judenverfolgung und -vernichtung und die Wirkungen von „Holocaust“ zum Thema haben. Eine Umfrage bei einer Stichprobe von Buchhändlern in Großstädten hat gezeigt, dass Bücher dieser Art einen vermehrten Absatz finden (wenngleich der Roman von Green kein Bestseller geworden ist). Vergrößert hat sich auch die Bereitschaft öffentlicher Institutionen, für den Themenbereich Nationalsozialismus/Neonazismus mehr finanzielle Mittel für politisch-pädagogische Aufklärung und auch Forschung auszugeben. Auch im Bereich des Fernsehens und der Presse ist ein vermehrtes Angebot von Beiträgen zum Themenbereich Nationalsozialismus und Faschismus im weitesten Sinn zu beobachten.
Zitat
Verschärfte Aufmerksamkeit für neonazistische und antidemokratische Tendenzen
Verschärfte Aufmerksamkeit von seiten der Bürger, Politiker und Institutionen finden auch aktuelle neonazistische Aktivitäten und Tendenzen in der Bundesrepublik. Nachdem in den letzten Jahren das Problem des politischen Extremismus hauptsächlich unter dem Vorzeichen „links“ gesehen wurde, gerät nun das „rechte“ Spektrum deutlicher ins Blickfeld. Probleme des versteckten, latenten Rechtsextremismus und heute antreffbare antidemokratische, antiparlamentarische Einstellungen werden auf breiterer Basis diskutiert, und bisherige Bemühungen, sie zu lösen, werden kritisch analysiert.
Es ist denkbar, dass dies unabhängig von „Holocaust“ sich entwickelnde Zeiterscheinungen sind; ohne Zweifel aber hat „Holocaust“ diese Entwicklungen mitgetragen, beschleunigt und zum Teil auch legitimiert.
Quelle: Media Perspektiven 12/1979, Tilman Ernst: „Holocaust“ und politische Bildung, S. 819ff
Tilman Ernst, Dipl.-Psych., in dieser Zeit Referent in der Abteilung Planung und Entwicklung der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn und zuständig für die Entwicklung von Begleitmaßnahmen (Publikationen und pädagogische Projekte) der BpB zu der Fernsehserie "Holocaust". Zusammen mit Dr. Uwe Magnus, WDR, Köln und Peter Märthesheimer, Bavaria, München bildete er das Projektteam der Begleitforschung.