Die Reaktionen auf "Holocaust"
Ergebnisse der Begleitstudien des WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung
Uwe Magnus
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1978 ließen der WDR und die Bundeszentrale für politische Bildung 2.800 Zuschauerinnen und Zuschauer zur Resonanz der US-Serie "Holocaust" befragen - zwei Wochen vor, eine Woche nach und über drei Monate nach der Ausstrahlung. Dieser Text ist 1979 in der Zeitschrift MEDIA PERSPEKTIVEN erschienen und fasst die ersten wichtigsten Erkenntnisse aus der Begleitforschung zusammen.
Hinweis
Dieser Text liefert heute einen Einblick in die Ansätze der Medienforschung und empirischen Sozialforschung der 1970er Jahre und spiegelt dabei die Sprache und die Perspektive des damaligen wissenschaftlichen Diskurses wider. Bei einigen Begriffen hat die Redaktion Links zu aktuellen Inhalten eingefügt, und zur besseren Lesbarkeit wurde der Text an die neue deutsche Rechtsschreibung angepasst.
Die ungewöhnliche und nur von wenigen im erlebten Ausmaß erwartete Resonanz, die die Ausstrahlung der Interner Link: Serie "Holocaust" im Fernsehen gefunden hat, ist vielseitig beschrieben und in ihrer rein quantitativen Dimension beziffert worden. Nachdem inzwischen ein großer Teil einer Begleituntersuchung abgeschlossen ist, sind weitergehende Analysen dieses Komplexes und anderer, auch qualitativ gearteter Fragen zu "Holocaust" möglich.
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Dreistufige Begleitstudie - dritter Teil noch nicht abgeschlossen
Die Stichproben umfassten (und umfassen) 900, 1.800 und 500 Befragte. Mit der Durchführung der Untersuchung war (und ist) das Institut Marplan, Offenbach, beauftragt. Die Untersuchungsschritte 1 und 2 sind abgeschlossen, so dass einige wesentliche Resultate resümiert werden können.
In der nach der Ausstrahlung von "Holocaust" angesetzten Erhebung war bei den Befragten danach zu unterscheiden, ob sie die Serie (nach einer bestimmten Definition) gesehen haben oder nicht; beide Gruppen wurden sodann befragt, wobei verschiedene und unterschiedlich umfangreiche Fragenprogramme angewendet wurden. 58 Prozent der Befragten wurden als "Seher" eingestuft (das sind 10 Prozent mehr als der entsprechende Befund bei teleskopie ausmacht, zu erklären durch unterschiedlich harte Definitionen für "gesehen"). 37 Prozent erwiesen sich als "Nicht-Seher".
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Beurteilung: 73 Prozent positiv, 7 Prozent Ablehnung, 20 Prozent unentschieden
Bei den Zuschauern von "Holocaust" bestätigt sich die bereits durch teleskopie ermittelte Tendenz, dass unter ihnen mehr Jüngere, formal höher Gebildete und politisch Interessierte und weniger Zuschauer aus den jeweiligen Gegengruppen vertreten sind. Auch die Zunahme des Publikums über die Ausstrahlungstage hinweg wird erneut festgestellt. Die allgemeine Beurteilung der Fernsehserie ist außerordentlich gut ausgefallen: 72,5 Prozent positiver Stimmen stehen nur 7,3 Prozent Ablehnung gegenüber; unentschieden war eine Gruppe von 19,6 Prozent der Zuschauer. An positiven Merkmalen wurden aus einer Liste von 21 Vorgaben - der Serie vor allem der Aufklärungseffekt (19 Prozent), die realistische Behandlung (13 Prozent), die allgemein gute Darstellung (11 Prozent) und die Schilderung des Familienschicksals (10 Prozent) zugeschrieben. Kritisch angemerkt wurde, dass die Darstellung zu grausam, zu drastisch (14 Prozent) war. Die Hälfte der befragten Zuschauer hatten an der Serie gar nichts auszusetzen; dagegen fand nur jeder Fünfte keine positive Vorgabe, der er zustimmen konnte.
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Unter den positiven Merkmalen findet Aufklärungseffekt stärkste Zustimmung
Zwei Drittel der Zuschauer hatten vor der Ausstrahlung von "Holocaust" gehört – eine Bestätigung für die Wirksamkeit der erheblichen Voraus-Publizistik. Quellen der Informationen waren die Programmzeitschriften (47 Prozent), die Programmvorschau (38 Prozent), die Tageszeitung (35 Prozent), Gespräche mit Freunden und Bekannten (21 Prozent) und die vorangegangenen Sendungen "Antisemitismus" und "Interner Link: Endlösung" (19 Prozent). Es folgen mit kleinen Quoten Gespräche in der Familie, Zeitschriften und der Hörfunk.
Dieser Film entstand 1979 als dokumentarische Ergänzung zu der amerikanischen Fernsehserie "Holocaust".
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Wirksame Voraus-Publizität
Bei so umfassender Vor-Information interessiert die Frage, ob die geweckten Erwartungen erfüllt, übertroffen oder enttäuscht worden sind. Die Mehrheit (56 Prozent) fand ihre Erwartungen bestätigt; 37 Prozent der Befragten gaben an, die Fernsehspielserie sei besser als erwartet, und sieben Prozent waren enttäuscht, ein Zustimmungsgrad, der die - oft mit durchaus gebotener Skepsis beurteilte - allgemeine öffentliche Resonanz bestätigt. Besonders günstig fallen die Urteile junger Leute aus. In einer von vier Familien wurde vor der Ausstrahlung darüber diskutiert, ob die Sendung angesehen werden solle.
56 Prozent
finden Erwartung bestätigt
Durch die Vorgabe einer Reihe von Statements ist versucht worden, die persönlichen Reaktionen der Zuschauer zu erfassen. Persönliche Erschütterung, Scham und die Sendung als wichtiges Erlebnis herrschen dabei vor. Die Übersicht zeigt die Reaktionen im einzelnen. Dass dabei die Antwortquoten bei den verschiedenen Altersgruppen sehr unterschiedlich ausgefallen sind, soll zwar nochmals erwähnt, braucht aber nicht mehr besonders hervorgehoben zu werden.
Reaktionen der Zuschauer
Ich fand die Sendung nur zum Teil interessant
12 %
Die Sendung war völlig unglaubwürdig
2 %
Ich bin das Gefühl nicht losgeworden, dass die Sendung vereinfacht und übertreibt
10 %
Ich war empört, dass man uns Deutsche auf diese Weise verunglimpft
9 %
Ich bin der Meinung, dass dieses Thema uns heute nicht mehr betrifft
17 %
Die Sendung war für mich ein wichtiges Erlebnis
41 %
Die Sendung hat mich tief erschüttert
64 %
Es gab Szenen, bei denen ich fast geweint habe
22 %
Ich empfand Scham darüber, dass wir Deutsche solche Verbrechen begangen und geduldet haben
39 %
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Stärkste Reaktion: persönliche Erschütterung
Die Befunde werden kaum so erwartet worden sein, und die Versuchung, sie skeptisch zu betrachten, stellt sich angesichts dieser Bekenntnisbereitschaft rasch ein. Dem ist entgegenzuhalten, dass hier eine Gruppe befragt wurde, die sich entschieden hatte, die Fernsehspielserie anzusehen. Die Antworten der "Nicht-Seher", auf die noch einzugehen ist, wären gewiss nicht identisch ausgefallen. Insofern ist diesen Reaktionen ein gewisses Maß an Echtheit nicht abzusprechen; vermutlich darf darin auch eine Wirksamkeit der Spielhandlung gesehen werden.
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Diskussion in der Familie stärker als bei Fernsehsendungen sonst üblich
Dafür spricht auch, dass 64 Prozent der Befragten während oder nach den Sendungen mit Familienangehörigen und 40 Prozent mit Freunden und Bekannten darüber gesprochen haben (mit niemandem: 23 Prozent). Obwohl Fernsehsendungen allgemein beliebten Gesprächsstoff darstellen, übersteigt dieses Maß die gewohnten Erfahrungen und lässt den Fall als Ausnahme erscheinen. Die Gesprächsinhalte beziehen sich auf gesamte Palette der Möglichkeiten, wie sie die Übersicht zeigt:
Gesprächsinhalte
Gespräche mit Familienangehörigen
Gespräche mit Freunden, Bekannten oder Arbeitskollegen
Film als Ganzes
53 %
59 %
Bestimmte Szenen
48 %
38 %
Darsteller, Schauspieler
14 %
10 %
Wahrheitsgetreue Wiedergabe der damaligen Zeit und Personen
30 %
32 %
Ob ein solches Thema in einem Spielfilm dargestellt werden sollte
17 %
20 %
Ob man ein solches Thema heute noch bringen sollte
29 %
24 %
Judenverfolgung/Antisemitismus
43 %
51 %
Nationalsozialismus
32 %
44 %
Ursache, Schuldfrage
48 %
51 %
Wirkung des Films
28 %
37 %
Lehren, die aus dem Film gezogen werden können
25 %
34 %
51 Prozent
haben Neues über die Nazizeit erfahren
49 Prozent
verneinten
Eine Frage, deren Beantwortung nur subjektiv ausfallen kann, aber dennoch einen Indikator darstellt, wollte ermitteln, ob die Zuschauer persönlich "Neues über die Zeit des Interner Link: Nationalsozialismus erfahren" haben durch "Holocaust". 51 Prozent der Befragten bejahten, 49 Prozent verneinten. Auch hinter diesen Befunden dürfte Realität stehen, wenn auch sicher nicht bis auf die Kommastelle genau. Auch hier wurde wieder nachgefragt nach den Gegenständen des Erfahrens von Neuem durch die Fernsehspielserie. Das Ausmaß der Grausamkeiten (31 Prozent), die eigentliche Interner Link: Endlösung (22 Prozent), die Wahrheit über die Interner Link: Konzentrationslager (22 Prozent) und die Interner Link: Judenverfolgung allgemein (16 Prozent) werden aus zehn Vorgaben vor allem genannt. Ebenso subjektiv wie dennoch beachtenswert ist die Angabe von 14 Prozent der Zuschauer, ihre persönliche Einstellung zur Zeit des Nationalsozialismus habe sich durch "Holocaust" geändert. (Nein: 65 Prozent; kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen: 21 Prozent.)
14 Prozent
haben ihre Einstellung zur Nazizeit durch "Holocaust" geändert
Die Bewertung einer Zusammenstellung von Statements durch die Befragten bestätigt überwiegend erneut die bereits konstatierten Einstellungen. Da dieser Untersuchungskomplex seines Umfangs wegen in diesem Resümee nicht wiedergegeben werden kann, sollen einige exemplarische Mehrheitsvoten angeführt werden. So tritt man der Meinung entgegen, ein solcher Stoff gehöre nicht ins Fernsehen. Man spricht sich dagegen aus, die Interner Link: Zeit des Nationalsozialismus zu vergessen, und teilt den Standpunkt, dass eine Serie wie "Holocaust" unbedingt notwendig ist. "Holocaust" wird als guter Geschichtsunterricht bezeichnet und für die Vorführung in Schulen empfohlen.
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Mehrheitsvoten für die Notwendigkeit dieser Sendung
Alle diese Befunde lassen auf weitgehende Aufgeschlossenheit gegenüber der Fernsehspielserie und weitgehend adäquates Verständnis bei den Zuschauern schließen, ohne dass sie bei der Bewertung zur Euphorie verführen dürfen. Erstaunlich und wohl kaum als erwartet erscheinen die ausgeprägten Mehrheitsvoten in den meisten Fragen, der weitgehende Konsensus und die kaum auftretenden Kontroversen. Die Tatsache, dass die Nichtseher bei diesem Fragenkomplex zu "Holocaust" fehlen, bereits oben einmal als Argument gebraucht, genügt als Erklärung allein nicht, da alle Befragten als Zuschauer eingestuft wurden, die etwa eine Stunde in einer Folge gesehen hatten, womit ein relativ breiter Befragtenkreis als Zuschauer definiert wurde.
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Überraschender Konsensus in den Äußerungen, kaum Kontroversen
Offen bleibt die Frage zunächst, ob diese ermittelten Meinungen, Einstellungen, Urteile und Wissensstrukturen Bestand haben werden oder als ein temporäres Resultat der unbezweifelbaren Emotionalisierung durch "Holocaust" und der äußerlich aufgeschlossenen und aufgeklärten Diskussion in diesem Zusammenhang zu werten sind. In der dritten Untersuchung, die für April 1979, also drei Monate nach "Holocaust" in der Bundesrepublik geplant ist, wird versucht werden, darauf eine Antwort zu geben.
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Auch Nicht-Seher waren informiert
Es wurde bereits erwähnt, dass nach der benutzten Definition für "Holocaust gesehen oder nicht gesehen" sich eine Gruppe von 37,4 Prozent "Nicht-Sehern" ergab und diese ebenfalls - wenn auch anhand eines anderen Fragenprogramms - interviewt worden ist. Analog zur Zusammensetzung der "Seher" sind in dieser Gruppe die Älteren - vor allem die über 60jährigen - und Zuschauer mit einem niedrigeren Grad formaler Bildung überrepräsentiert. Eine erste Frage galt der Gliederung der Nicht-Seher in solche, die von "Holocaust" gehört und gelesen haben (75 Prozent), und solche, die ohne Informationen geblieben waren (15 Prozent). Es erweist sich, dass auch Nicht-Seher von der Voraus-Publizistik und den Diskussionen über die Serie in hohem Maße erreicht wurden. 46 Prozent waren vor der Ausstrahlung darüber informiert, 38 Prozent erfuhren von "Holocaust" während der Sendewoche und 16 Prozent danach. Auch die Informationsquellen waren die gleichen wie bei den Sehern: Programmzeitschrift: 37 Prozent, Tageszeitung: 32 Prozent, Programmvorschau: 29 Prozent, Gespräch mit Freunden (28 Prozent) und in der Familie (19 Prozent). Allerdings sahen nur sieben Prozent (Seher 19 Prozent) die "Holocaust" vorausgehenden Sendungen "Antisemitismus" und "Endlösung".
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Dritter Untersuchungsschritt wird weitere Erkenntnisse bringen
Die starke Nutzung dieser Informationsquellen - mit Ausnahme der letztgenannten - führte zu einem hohen Stand der Information über "Holocaust" auch bei den Nicht-Sehern. Auf die Frage, worum es ging in der Fernsehspielserie, fielen die Antworten an: Judenverfolgung: 77 Prozent, Geschichte einer jüdischen Familie: 37 Prozent, Zeit des Nationalsozialismus: 33 Prozent.
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Hauptgrund für Nicht-Seher: Angst vor Aufregung
Bei den Nicht-Sehern interessieren die Gründe dafür, dass man die Serie nicht gesehen hat. Von 22 zusammengestellten Vorgaben wurden von den Befragten die folgenden in nennenswertem Umfang gewählt:
Gründe für's Nicht-Sehen
(1) Hätte mich zu sehr aufgeregt
33 %
(2) War verhindert
28 %
(3) Man sollte diese Dinge endlich vergessen
22 %
(4) Thema interessierte mich nicht
18 %
(5) Damit haben wir heute nichts mehr zu tun
8 %
(6) Keine neuen Informationen erwartet
8 %
(7) Sehe das Dritte Programm ganz selten
8 %
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Nicht-Seher zeigen nicht Abwehr sondern eher Passivität
Anzumerken bleibt wieder, dass die Forderung nach Vergessen von den Älteren in stärkerem Umfang erhoben wird als von allen Nicht-Sehern. Will man - fast ein wenig spekulativ - die Quoten der Befragten, die sich für Verdrängung des zeithistorischen verbrecherischen Geschehens aussprechen, zusammenfassen, also die Kategorien (3) und (5) - nicht (4), da zum Beispiel von Älteren wenig gewählt -, so kommt man auf etwa ein Drittel aus dieser Stichprobe. Bei der Bewertung dieses Potentials muss berücksichtigt werden, dass es sich um ein Drittel der 37 Prozent Nicht-Seher handelt, also um wohl zwischen 10 und 15 Prozent aller repräsentativ Befragten. Die weitere Bewertung dieses Befundes ergibt sich aus dem Vergleich mit den Resultaten aus dem stärker politologisch ausgerichteten Komplex dieser Untersuchung. Abschließend lässt sich sagen, dass trotz abweichender demographischer und Meinungs-Strukturen die Nicht-Seher keine Gegengruppe zu den Sehern darstellen, die etwa mehrheitlich mit heftiger Abwehr gegen "Holocaust" reagiert hätte. Sie ist eher durch Passivität und Desinteresse gekennzeichnet.
Quelle: Media Perspektiven 4/1979, Uwe Magnus: Die Reaktionen auf "Holocaust", Ergebnisse der Begleitstudien des WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung, S. 226ff
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Dr. Uwe Magnus war beim WDR in Köln Leiter des Medienreferats in der Intendanz und bis 1970 in der Stabsstelle des Spiegel-Verlages für Prognoseplanung und redaktionelle Forschung zuständig. Er gehörte neben Tilman Ernst von der Bundeszentrale für politische Bildung und Peter Märthesheimer von der Bavaria München zum Projektteam der Begleitforschung.
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