"Holocaust" in der Bundesrepublik
Impulse, Reaktionen und Konsequenzen der Fernsehserie aus der Sicht politischer Bildung
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Aus der Sicht politischer Bildung erweist sich die Ausstrahlung von "Holocaust" in der Bundesrepublik als ein wertvoller Beitrag von weitreichender Wirkung. Die empirischen Untersuchungen der Konsequenzen von "Holocaust" dienten der Bundeszentrale für politische Bildung insbesondere dazu, auf die Praxis politischer Bildungsarbeit bezogene Daten-Grundlagen zu erhalten, um immer noch notwendig erscheinende Lernprozesse im Hinblick auf die NS-Zeit in Gang setzen zu können. Der Autor thematisiert die Wirkungen von "Holocaust" sowohl auf der Ebene "individuellen" politischen Bewusstseins, als auch auf der „strukturellen“ Ebene, diskutiert werden auch die Reaktionen "klassischer" Institutionen politischer Bildung auf die Fernsehserie „Holocaust".
Hinweis
Dieser Text liefert heute einen Einblick in die Ansätze der politischen Bildung und der empirischen Sozialforschung der 1980er Jahre und spiegelt dabei die Sprache und die Perspektive des damaligen wissenschaftlichen Diskurses wider. Bei einigen Begriffen hat die Redaktion Links zu aktuellen Inhalten eingefügt, und zur besseren Lesbarkeit wurde der Text an die neue deutsche Rechtsschreibung angepasst.
Im August 1978 - ein halbes Jahr vor Ausstrahlung von "Holocaust" in der Bundesrepublik - wurde in der Bundeszentrale für politische Bildung diskutiert, wie diese amerikanische Fernsehserie aus der Sicht Interner Link: politischer Bildung zu beurteilen sei. Die kritischen Argumente bezogen sich dabei auf die Machart der Serie, die die Ereignisse der Interner Link: nationalsozialistischen Judenverfolgung und Judenvernichtung personalisiert, d. h. Interner Link: Hintergründe und Gesamtzusammenhänge ausspart, und auf die Tatsache, dass diese Fernsehserie nicht in erster Linie Ziele politischer Bildung verfolgt, sondern kommerziellen Interessen des amerikanischen Fernsehens diente. Die für ein Engagement der Bundeszentrale positiven Argumente bezogen sich auf die zu vermutende große Breitenwirkung dieses Films zu einem für die politische Bildung hoch bedeutsamen Thema. So konnte, wenn schon nicht der Film "Holocaust" selbst, doch die Reaktion breiter Teile der Bevölkerung auf ihn - und damit das Thema "Interner Link: Vergangenheitsbewältigung" - Aufgabe begleitender Maßnahmen seitens der politischen Bildung sein. Die inhaltliche Begründung der letztlich positiven Entscheidung wurde woanders schon ausführlicher dargestellt; sie lässt sich in drei Gesichtspunkten zusammenfassen:
Die Ausstrahlung von "Holocaust" gibt allen pädagogisch Verantwortlichen Gelegenheit, Themen im Zusammenhang mit der Entstehung, den Untaten und den Konsequenzen des Interner Link: Nationalsozialismus aufzugreifen. Für diese Themenbereiche muss politische Bildung nicht mehr erst mühsam Interesse schaffen, vielmehr kann sie für millionenfach ablaufende Diskussionen rationale Argumente anbieten, Hintergründe und Gesamtzusammenhänge thematisieren und auf Interner Link: Konsequenzen für heute hinweisen.
Der Film "Holocaust" deckt Defizite auf und zeigt Ansatzpunkte für politische Bildungsarbeit, die sowohl im Bereich des zeitgeschichtlichen Wissens als auch im Bereich der sozialen (demokratischen und antidemokratischen) Einstellungen liegen. Nachdem die "Interner Link: Hitler-Welle" einen Markt für den Nationalsozialismus durch zum Teil heroisierende und verharmlosende Publikationen, Filme und "Dokumente" erschlossen hat, der gerade auch auf Jugendliche zielt, ist es an der Zeit, einige der schlimmsten Ereignisse der Naziherrschaft sinnlich erfahrbar zu machen und als Gegengewicht zu verankern.
Medien- und programmpolitisch ist die Sendereihe "Holocaust" als exemplarischer Fall eines intensiven thematischen Angebotes des Interner Link: Fernsehens zu werten, das gesellschaftliche Interessen verfolgt. Wenn das Zusammenwirken von Interner Link: Massenmedien und politischer Bildung die Chancen politischer Bildungsarbeit vervielfacht und verbessert, dann bildet dieser exemplarische Fall mit "Holocaust" auch eine Basis, anderen gesellschaftlich relevanten Themen vergleichbare Möglichkeiten zu eröffnen.
Die Annahmen über die Wirkung von "Holocaust" wurden in einer kleinen Pilotstudie (Gruppendiskussionen mit Bundeswehrangehörigen) etwa 3 Monate vor Ausstrahlung überprüft. Die Ergebnisse begründeten die Annahme, dass neben aller "technischer" Detailkritik an den vorgeführten Teilen der amerikanischen Fassung von "Holocaust" eine besondere Durchschlagskraft der Inhalte zu verzeichnen war. Es wurde heftig und kontrovers über die Untaten des Nationalsozialismus und über den Neonazismus diskutiert - und nicht in erster Linie über den Film selbst.
Nach diesen Erfahrungen erschien der Bundeszentrale das Risiko gering, sich intensiv auf Begleitmaßnahmen und eine Begleituntersuchung zu den Wirkungen von "Holocaust" vorzubereiten. Mit dem ausstrahlenden Sender, dem Westdeutschen Rundfunk, ergaben sich hervorragende Möglichkeiten der Kooperation, die zum einen darin bestanden, dass die Anschrift der Bundeszentrale und ein Hinweis auf das dort erhältliche Interner Link: Begleitmaterial nach den Ausstrahlungen eingeblendet wurden, und zum anderen darin, dass der Westdeutsche Rundfunk und die Bundeszentrale für politische Bildung gemeinsam eine repräsentative empirische Begleituntersuchung zur Rezeption und zu den Wirkungen der Fernsehserie in Auftrag geben konnten. Das inhaltliche Konzept dieser Untersuchung wurde von WDR und Bundeszentrale gemeinsam erarbeitet und von einem Team beratender Experten weiter differenziert. Für die Bundeszentrale kam es vor allem darauf an, herauszufinden, wie "Holocaust" - auch im Vergleich zu anderen Beiträgen zu diesem Thema, etwa Dokumentarfilmen rezipiert wird und welche Wirkungen in den Bereichen Wissen, Meinungen und Einstellungen, aber auch im Verhalten nachweisbar werden. Das praktische Ziel der Untersuchung bestand darin, den Beitrag des Fernsehfilms "Holocaust" zur Bildung "politischen Bewusstseins" abzuschätzen und Ansatzpunkte für weitergehende politische Bildungsarbeit sichtbar zu machen. Darüber hinaus stand die Hoffnung, mittels der Untersuchung dazu beizutragen, dass die vor Ausstrahlung so heftige Diskussion über Machart des Films ("Personalisierung", "Trivialisierung" etc.) abgelöst werde durch eine Auseinandersetzung über die Wirkungen dieses Films bei unterschiedlichen Zielgruppen (insbesondere Jugendlichen), die durch "klassische" politische Bildungsarbeit innerhalb und außerhalb der Schulen nicht oder nur schwer zu erreichen sind.
Neben den Wirkungen auf das Bewusstsein einzelner Zielgruppen (also Fragestellungen auf der "subjektiven Ebene") ergab sich - nach dem Erfolg von "Holocaust" - auch ein Interesse daran, die Reaktionen von öffentlichen Institutionen und Organisationen, die mit politischer Bildungsarbeit vertraut sind, auf das Ereignis "Holocaust" abzuschätzen. Diese "strukturelle Ebene" der Betrachtungsweise bezieht sich u. a. auf die schulische und außerschulische politische Bildung, auf Fachzeitschriften, aber auch auf die Massenmedien selbst.
Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse sind unter dem Gesichtspunkt ihrer besonderen Bedeutung für die politische Bildungsarbeit ausgewählt. Ihre Bedeutung für die Didaktik der Leitgeschichte ist nur zum Teil ausführlicher herausgearbeitet, da sich ihre Rezeption in der Praxis noch nicht in sehr vielen Erfahrungsberichten niedergeschlagen hat.
2. Wen hat "Holocaust" erreicht?
Die Einschaltquoten für die Fernsehserie stiegen von 31 % für die erste, über 35 % und 37 % auf 40 % für die vierte und letzte der ausgestrahlten Folgen. Insgesamt haben mehr als 20 Millionen Bundesbürger ab 14 Jahren die Sendung gesehen - fast die Hälfte der erwachsenen Gesamtbevölkerung. "Holocaust" erreichte damit eine Gesamtreichweite, wie keine andere Sendung des deutschen Fernsehens zu einem zeitgeschichtlichen Thema zuvor. Die Sendung erreichte Männer und Frauen in gleichem Maß; sie erreichte in besonderem Ausmaß jüngere Altersgruppen - mit der vierten Folge selbst noch 15 % der acht- bis dreizehnjährigen Kinder. Wenngleich die unteren Bildungsschichten "Holocaust" tendenziell weniger genutzt haben als die oberen Bildungsschichten, waren doch 56 % der Seher Personen mit ausschließlich Volksschulbildung.
Für politische Bildung ist die Frage am wichtigsten, in welchem Ausmaß "Holocaust" solche Bürger erreicht hat, die mit den üblichen Mitteln politischer Bildungsarbeit nicht oder nur schwer anzusprechen sind. Hier ist zu erkennen, dass die Serie eine erhebliche Anzahl von Bürgern erreicht hat, für die eine überdurchschnittliche hohe Ausprägung an politischer Entfremdung, d. h. ein "Sich-Zurückziehen" von Politik, Politikern und politischen Problemen typisch ist und die eine überdurchschnittlich starke Ausprägung des Merkmals "Unpolitische Haltung" aufweisen, d. h. eine autoritäre, nach hierarchischen, nicht-demokratischen Prinzipien geordnete Sichtweise des sozialen Lebens erkennen lassen. Der Anteil dieser Personengruppen an der Gesamtseherschaft von "Holocaust" beträgt ca. 45 %, ist damit zwar geringer als in der Gesamtbevölkerung; dennoch aber - von der absoluten Menge her gesehen - beachtlich, zumal "Holocaust" auch vom überwiegenden Anteil dieser Seher emotional akzeptiert und als authentisch und glaubwürdig eingeschätzt wird.
Dass "Holocaust" und damit ein zeitgeschichtliches Thema hoher gesellschaftlicher Relevanz von einer großen und wichtigen Zielgruppe politischer Bildungsarbeit (soziodemografisch: "Jugendliche", von den sozialen Einstellungen her: "Politisch Entfremdete" und "Autoritäre") überhaupt zur Kenntnis genommen wurde, dass Wahrnehmungsbarrieren überwunden und weitergehendes Interesse geweckt wurde, liegen nicht allein in der Machart der Serie selbst begründet: es gab eine umfangreiche Voraus-Publizistik zu "Holocaust", die ARD strahlte zwei einführende, auf "Holocaust" hinweisende Sendungen aus, und bereits nach der ersten Folge kamen intensive Diskussionen in Bekannten- und Freundeskreisen über den Film in Gang.
3. Die Wirkungen von "Holocaust" in den Bereichen Aktivierung, Wissen, Einstellungen, Generalisierung
3.1. "Holocaust" hat aktiviert
Das Einblenden der Adresse der Bundeszentrale und der Hinweis, dass sie Begleitmaterial zu "Holocaust" auf Anfrage versende, löste eine Flut von telefonischen und schriftlichen Bestellungen aus. Noch Wochen nach der Ausstrahlung gingen täglich mehr als 200 Bestellungen ein. Insgesamt machten etwa 110.000 Bürger von der Möglichkeit, sich das Begleitmaterial schicken zu lassen, Gebrauch. Rechnet man alle Anfragen an die Bundes- und die Landeszentralen für politische Bildung - insbesondere in Nordrhein-Westfalen - zusammen, ergeben sich ca.
Hervorzuheben ist, dass von diesen 110.000 Anfragen ca. 70.000 von Lehrern bzw. Ausbildern stammen; davon 83 % aus dem Bereich der Schulen, 11 % aus dem Bereich der außerschulischen Jugendarbeit, 3 % aus dem Bereich Bundeswehr und 3 % von anderen Institutionen. Viele Schüler bestellten das Material mit dem Hinweis "für unsere Lehrer", Eltern mit dem Hinweis "für unsere Kinder". Etwa 15.000 Bestellungen enthielten ausführlichere Stellungnahmen zu "Holocaust", die näher analysiert wurden. Die wichtigsten Gesichtspunkte werden im Folgenden tabellarisch dargestellt; die (nicht-repräsentative) Vielfalt der einzelnen Aspekte soll zugleich auch verdeutlichen, dass "Holocaust" für viele Anlass und Motiv war, sehr tiefgreifende Fragen zu stellen. Im Einzelnen wurden u. a. folgende Gesichtspunkte angesprochen:
Konsequenzen für heute; Gegenwärtige Zustände: Mehrheit ist nicht informiert über die Zeit des Nationalsozialismus; Eltern wollen nicht darüber reden, Defizite in Schulen und Schulbüchern; Auch heute gibt es wenig Toleranz, Mitmenschlichkeit; Mangelhafte Verwirklichung der Interner Link: Menschenrechte, Probleme mit Ausländern und sozialen Randgruppen gibt es auch heute; Auch wir haben zuviel Staat, jeder beruft sich auf Paragraphen; Auch heute noch gibt es in der ganzen Welt unberechtigte Kriege.
Konsequenzen für heute; Wie kann man heutige Zustände verbessern: Gut informiert sein über die Zeit des Nationalsozialismus; Die damaligen Geschehnisse ausreichend darstellen, Aufklärung schaffen und Geschichtsbewusstsein vermehren, Ereignisse wie den Holocaust stets vor Augen halten und darüber sprechen, Ausländer und soziale Minderheiten in die Gesellschaft integrieren, Verhältnis zwischen junger und alter Generation bereinigen; Mehr Toleranz üben, christlich sein, glauben und human sein; Sich gegen Gehorsamsdenken wehren; Ethische Selbstentwicklung und sittliche Werte ausbauen; Sich aktiver zur Wehr setzen gegen neonazistische Umtriebe.
Von größerer Bedeutung als Brauchbarkeit, Originalität oder Relevanz der einzelnen Aspekte ist sicher die Tatsache, dass von "Holocaust" ausgehend Generalisierungsmöglichkeiten gesehen wurden. Die Ergebnisse der empirischen Begleituntersuchungen bei repräsentativen Stichproben belegen den hohen Grad der Aktivierung durch "Holocaust" insbesondere bei jüngeren Zuschauern (vgl. Tab. 1).
Tabelle 1: Aktivierung durch "Holocaust"
Frage: "Hat "Holocaust" Sie angeregt, mehr über die Themen Nationalsozialismus und Judenverfolgung erfahren zu wollen?"
Total
14 - 19 Jahre
20 - 29 Jahre
30 - 39 Jahre
40 Jahre und älter
Basis
1.014
122
150
202
540
Ja
36 %
62 %
53 %
36 %
27 %
Nein
63 %
39 %
45 %
64 %
73 %
Diese Zahlenverhältnisse korrespondieren sehr gut mit den Erfahrungen der Bundeszentrale, die aus Briefen deutlich wurden. Viele Lehrer schrieben, dass ihre Schüler das Interner Link: Thema "Holocaust" im Unterricht geradezu forderten; viele Eltern schrieben, dass sie für ihre Kinder das Begleitmaterial haben wollen, weil diese danach fragten.
Als weiteres Indiz für Aktivierung kann die Bereitschaft angesehen werden, den Film "Holocaust" noch einmal anzuschauen, wenn er wiederholt würde:
Tabelle 2: Sehbereitschaft bei erneuter Ausstrahlung
Frage: "Wenn die Sendung in zwei bis drei Jahren wiederholt würde, würden Sie sich dann `Holocaust' noch einmal ansehen?"
Total
14 - 19 Jahre
20 - 29 Jahre
30 - 39 Jahre
40 Jahre und älter
Basis
1.014
122
150
202
540
Ja, bestimmt
28 %
39 %
38 %
29 %
22 %
Ja, wahrscheinlich
32 %
41 %
34 %
37 %
27 %
Nein, wahrscheinlich nicht
22 %
10 %
20 %
17 %
27 %
Nein, bestimmt nicht
17 %
10 %
9 %
16 %
21 %
Unter dem Blickwinkel politischer Bildung erhält eine andere Form der Aktivierung durch den Film "Holocaust" aber besonderes Gewicht: Die millionenfach in Familien, im Freundeskreis und am Arbeitsplatz abgelaufenen Diskussionen über den Film, über die Zeit des Nationalsozialismus und über heutige, damit in Zusammenhang stehende Probleme. Hier ist aufgrund einer Fernsehsendung eine Situation real geschaffen worden, die politische Bildung nur (mangelhaft) inszenieren könnte. Das Gespräch mit Menschen des unmittelbaren sozialen Umfeldes, die auch (heftige) Auseinandersetzung über ein gesellschaftlich bedeutsames Problem (der man ausweichen kann, wenn sie von außen an ein einzelnes Individuum herangetragen wird) zwingt nämlich zum eigenen Standpunkt, wenn und insofern sie innerhalb der eigenen sozialen Gruppe stattfindet. In pädagogischen Lernsituationen wird großer Wert darauf gelegt, dass sich die einzelnen Individuen "beteiligen". "Gute Schüler", "aktive Teilnehmer" an Bildungsveranstaltungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie spontan mitarbeiten bzw. Interner Link: mitdiskutieren und Fragen stellen. Diese aktiven Schüler und Teilnehmer sind aber meist schon vorher sehr gut informiert und engagiert. Die jeweils sehr viel größere Gruppe derjenigen, die sich auch in Schule oder Bildungsveranstaltung nur "berieseln lassen", passiv konsumieren, kann nur mit besonderen Bemühungen interessiert und aktiviert werden.
Die Frage der Aktivierung ist auch unter theoretischen Aspekten der Entstehung politischen Bewusstseins von herausragender Bedeutung. Politisches Bewusstsein reift nicht langsam heran; es entsteht vielmehr aus den persönlichen Erfahrungen eines Individuums, aus seinen Lebensumständen, aus der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen, Einstellungen und Meinungen anderer Personen und sicher auch zu einem erheblichen Teil aus den von Medien vermittelten Bildern, Meinungen und Wertungen. Zwar werden diese Informationen selegiert, subjektiv interpretiert und bewertet, sie erhalten jedoch ein über subjektive Vorlieben hinausgehendes Gewicht, wenn sie gleichzeitig, auf ein Thema bezogen und in möglichst vielen Kommunikationszusammenhängen - personal wie medial - auftreten. Die angebotenen Detail-Informationen bzw. Argumente haben dabei eine umso höhere Chance von einem Individuum aufgenommen und verwertet zu werden, je erfolgreicher es selbst in der für ihn relevanten Sozialgruppe damit argumentieren kann.
Aus der Sicht dieses sehr grob skizzierten Modells ergibt sich für politische Bildung so etwas wie eine "Konkurrenz-Situation" zu allen anderen Medien. Sie hat nur begrenzte Möglichkeiten, ein Thema in eine breite öffentliche Diskussion einzubringen, so dass ihre eigentliche Chance in der Intensität der Vermittlung und im (geplanten) Dialog liegt. Dies führt zu einem größeren Erfolg aber auch nur dann, wenn eine hohe Eigenmotivation der Beteiligten besteht oder geschaffen werden kann.
Diese Überlegungen waren für die Anlage der Begleituntersuchungen zu "Holocaust" von zentraler Bedeutung. Ein großer Teil der Fragen bezog sich auf Gespräche und Diskussionen, die "Holocaust" ausgelöst hat. Untersucht wurde nicht nur der Umfang dieser Gespräche, sondern auch Art und Weise dieser Diskussion, ihre Inhalte, das "Repertoire" schon gehörter Argumente und deren Bewertung.
Tabelle 3: Gespräche über "Holocaust": Häufigkeit, Partner
Frage: "Haben Sie während oder nach der Sendung mit Familienangehörigen, Freunden, Bekannten oder Arbeitskollegen über `Holocaust' gesprochen?"
Total
Männer
Frauen
Basis
1.014
504
510
Ja, mit Familienangehörigen
64 %
64 %
63 %
Ja, mit Freunden, Bekannten oder Arbeitskollegen
40 %
48 %
33 %
Nein, mit niemand
23 %
20 %
27 %
Die Ergebnisse der Tabelle 3 beziehen sich auf die Situation unmittelbar nach Ausstrahlung von "Holocaust". Bei der Wiederholungsbefragung 14 Wochen nach Ausstrahlung zeigte sich, dass die Gesprächshäufigkeit mit Familienangehörigen gleichgeblieben ist, die Gesprächshäufigkeit mit Freunden und Bekannten oder Arbeitskollegen aber noch um 10 Prozent gegenüber dem Wert unmittelbar nach Ausstrahlung anstieg. Die Gesamtzahl der Befragten, die überhaupt Gespräche führen, nimmt im Verlauf von 14 Wochen von 80 Prozent auf einen durchschnittlichen Wert von 14 Prozent ab. Dabei zeigen sich folgende Zusammenhänge: Insbesondere die jüngeren Altersgruppen haben über und aus Anlass von "Holocaust" mit Personen ihres unmittelbaren sozialen Umfeldes gesprochen. Es handelt sich dabei zum überwiegenden Teil um Gespräche mit den Eltern, die zu rd. 60 Prozent von den Jugendlichen selbst ausgegangen sind. Diese Gespräche verliefen nicht unbedingt harmonisch. Zwar überwiegt das Urteil, dass man mit der eigenen Meinung mehr Zustimmung als Ablehnung erfahren hat, doch hat es im erheblichen Umfang auch kontroverse Diskussionen gegeben.
Die Inhalte dieser Gespräche bezogen sich bereits kurz nach Ausstrahlung nicht nur auf ganz spezifische, den Film selbst betreffende Themen, sondern auch in erheblichem Umfang auf darüber hinaus weisende Probleme, wie etwa Lehren, die aus dem Film gezogen werden können, oder die Frage nach den Ursachen und nach der Schuld (vgl. Tabelle 4).
Tabelle 4: Gespräche über "Holocaust": Inhalte, Partner
Frage: "Und worum ging es bei diesen Gesprächen mit Familienangehörigen?" bzw. "Worum ging es bei diesen Gesprächen mit Freunden, Bekannten oder Arbeitskollegen?" (Vorgabe: Liste)
Gespräche mit Familienangehörigen
Gespräche mit Freunden, Bekannten oder Arbeitskollegen
Film als Ganzes
53 %
59 %
Bestimmte Szenen
48 %
38 %
Darsteller, Schauspieler
14 %
10 %
Wahrheitsgetreue Wiedergabe der damaligen Zeit und Personen
30 %
32 %
Ob ein solches Thema in einem Spielfilm dargestellt werden sollte
17 %
20 %
Ob man ein solches Thema heute noch bringen sollte
29 %
24 %
Judenverfolgung/Antisemitismus
43 %
51 %
Nationalsozialismus
32 %
44 %
Ursache, Schuldfrage
48 %
51 %
Wirkung des Films
28 %
37 %
Lehren, die aus dem Film gezogen werden können
25 %
34 %
Mit größerem zeitlichen Abstand zur Ausstrahlung ergeben sich leichte Verschiebungen hinsichtlich der Gesprächsinhalte: 14 Wochen nach Ausstrahlung werden die Fragen der wahrheitsgetreuen Wiedergabe, Probleme der Judenverfolgung, des Antisemitismus, die Frage, ob man ein Thema wie Judenvernichtung heute noch bringen soll und welche Wirkung der Film auf andere wohl gehabt haben könnte, stärker thematisiert als unmittelbar nach Ausstrahlung. Es wurde schon angedeutet, dass politische Bildungsarbeit die bei ihren Zielgruppen vorhandenen Informationen bzw. Argumente zu politischen Sachverhalten oder Ereignissen in ihrer Didaktik berücksichtigen muss. Für die inhaltliche Gestaltung von Begleitmaßnahmen zu "Holocaust", sind daher Argumente, Meinungen und Einstellungen, die etwa ein Jugendlicher in seinem unmittelbaren sozialen Kontext antrifft, von besonderem Interesse. Im Vorgriff auf den folgenden Abschnitt über die Wirkungen von "Holocaust" im Bereich des Wissens soll ein Überblick über die Verbreitung und Einschätzung von "Argumenten" gegeben werden, mit denen sich ein Gesprächsteilnehmer oder Mediennutzer zum Thema Nationalsozialismus und Judenvernichtung konfrontiert sehen kann. Diese Ergebnisse, die in der zweiten Nachher-Befragung (14 Wochen nach Ausstrahlung) ermittelt wurden (vgl. Tabelle 5), verdeutlichen, dass Begleitmaßnahmen zum Thema "Nationalsozialismus" mit harten Gegenpositionen rechnen müssen, die mit rationalen und logischen Argumenten sicher nicht sehr leicht zu erschüttern sind. Zugleich aber wird deutlich, Interner Link: wo diese Argumente und Informationen anzusetzen haben, wenn man erreichen will, dass sich Interner Link: Jugendliche in Diskussionen fundierter zur Wehr setzen können.
Tabelle 5: Gespräche über "Holocaust": Gegenpositionen
Frage: "Wir haben hier eine Reihe von Ansichten aufgeführt, die wir im Zusammenhang mit "Holocaust" gehört haben. Können Sie uns sagen, welche dieser Ansichten Sie selbst schon einmal gehört oder gelesen haben?" (Vorgabe: Liste)
* Basis: 497 Fälle
Ansicht schon einmal gehört oder gelesen
Ansicht wird eingeschätzt als
Ansicht wird nicht eingeschätzt
Total* %
Richtig %
Falsch %
%
Einmal muss Schluss sein, man kann uns Deutsche doch heute nicht mehr für die Verbrechen des Nationalsozialismus verantwortlich machen.
72
59
19
22
Wer vom Unrecht an den Juden spricht, muss auch vom Unrecht an den Deutschen sprechen, z.B. von der Bombardierung deutscher Städte oder der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten.
57
59
18
23
Dass heute ausschließlich über Verbrechen des Nationalsozialismus gesprochen wird und nicht ebenso über die Verbrechen der Amerikaner, Engländer oder Russen, liegt nur daran, dass wir Deutsche den Krieg verloren haben.
57
55
19
27
Die deutsche Bevölkerung hat damals von den Verbrechen der Nationalsozialisten an den Juden nichts gewusst.
55
51
25
24
Natürlich war das Leben in den Konzentrationslagern nicht angenehm, aber es war schließlich Krieg, und die Soldaten an der Front hatten auch kein angenehmes Leben.
34
27
38
35
Wenn heute Verbrechen des Nationalsozialismus hochgespielt werden, so nur, weil man uns Deutschen die wirtschaftlichen Erfolge neidet, die wir nach dem Krieg errungen haben.
32
31
37
32
Die Vernichtung der Juden durch den Nationalsozialismus ist eine Propagandalüge, die nur dazu dient, uns Deutsche zu Wiedergutmachungszahlungen in Milliardenhöhe zu erpressen.
24
10
59
31
Es ist von anerkannten Historikern nachgewiesen worden, dass kein einziger Jude in deutschen Konzentrationslagern vergast worden ist.
22
6
61
33
Die Todeslager der Nazis sind eine Erfindung kommunistischer Propaganda; wie sonst ist es zu erklären, dass sie alle in Gebieten liegen, die heute von Kommunisten regiert werden.
15
6
60
34
Nach den Ergebnissen der Begleituntersuchungen (und nicht nur nach diesen) kann gesagt werden, dass die Fernsehserie "Holocaust" und die durch sie ausgelösten Impulse zu einer breit greifenden Aktivierung und Motivierung, sich mit einem zeitgeschichtlichen Thema intensiv auseinanderzusetzen, geführt hat. Dies ist umso höher zu bewerten, als diese Impulse nicht zu einem kurzfristigen "Strohfeuer" führten, sondern zu ernsthaften, intensiven und keineswegs harmonisierenden Auseinandersetzungen. Selbstverständlich blieb selbst davon eine große Gruppe von Bürgern unberührt, die ihre Vergangenheit wohl ein für alle Mal "bewältigt" haben. Gerade aber bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, jungen Familien mit Kindern in einem Alter, in dem (kritische) Fragen gestellt werden, ist "Holocaust" auf breite Resonanz gestoßen.
3.2. Wirkungen im Bereich des Wissens
Wie tief muss der Wissensstand der deutschen Bevölkerung über die Zeit des Nationalsozialismus eigentlich sein, wenn sogar ein Film wie "Holocaust" positive Änderungen bewirkt? Nach den Ergebnissen der Begleituntersuchungen hat "Holocaust" (und auch die begleitenden Informationen) zumindest subjektiv und nicht nur kurzfristig einen Wissenszuwachs bewirkt. Neben Aktivierung, Motivierung und einer tiefgehenden emotionalen Betroffenheit entstand durch die Serie und die durch sie aktivierten zusätzlichen Informationsquellen ein verändertes Bild über die Zeit des Nationalsozialismus.
Diese Behauptung trifft selbstverständlich nicht für alle "Holocaust"-Seher zu, wohl aber für die wichtige Zielgruppe der Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen und die politisch Nicht-Interessierten. Die folgenden Tabellen 6 a) und b) verdeutlichen dies und belegen eine bemerkenswerte Zeitstabilität dieser Tendenzen im Bereich des Wissens.
Tabelle 6: Wissenszuwachs durch "Holocaust"
Frage: "Würden Sie sagen, dass Sie persönlich durch `Holocaust' Dinge über die Zeit des Nationalsozialismus erfahren haben, die Sie bisher nicht wussten?"
a) Unmittelbar nach Ausstrahlung
Total
14-19 Jahre
20-29 Jahre
30-39 Jahre
40 Jahre u. älter
Polit. Interesse
wenig
mittel
stark
Basis
1.014
Ja
51 %
69 %
61 %
49 %
46 %
48 %
56 %
48 %
Nein
49 %
32 %
39 %
51 %
54 %
52 %
44 %
52 %
Frage: "Würden Sie sagen, dass Sie persönlich durch `Holocaust' Dinge über die Zeit des Nationalsozialismus erfahren haben, die Sie bisher nicht wussten?"
b) 14 Wochen nach Ausstrahlung (Panel, Seher)
Total
14-29 Jahre
30-39 Jahre
40 Jahre u. älter
Autoritäre Einstellung
Polit. Entfremdung
wenig
mittel
stark
wenig
mittel
stark
Basis
497
Ja
73 %
79 %
65 %
71 %
66 %
71 %
79 %
67 %
73 %
77 %
Nein
27 %
21 %
35 %
29 %
34 %
29 %
21 %
33 %
27 %
23 %
Die Tabelle 6 b) zeigt, dass sogar ein Anstieg der "Ja"-Antworten bei allen Altersgruppen zu beobachten ist. Dies ist sicherlich auch auf die Fülle von Gesprächen zurückzuführen, in denen die Teilnehmer neue Ansichten, Argumente, Informationen kennengelernt haben, die nicht aus "Holocaust" stammen. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass diese Tendenz auch bei den Personen bestätigt wird, die eine überdurchschnittliche Ausprägung der Merkmale autoritäre, unpolitische Haltung ("Ruhe ist die erste Bürgerpflicht") und politische Entfremdung ("In der Politik geschieht selten etwas, das dem kleinen Mann nützt") erkennen lassen.
Das subjektive Urteil über den eigenen Wissensstand wird nachvollziehbar, wenn man untersucht, was "Holocaust" an neuem Wissen vermittelt hat. An erster Stelle sind hier das Ausmaß der Grausamkeiten und die Systematik, mit der die Vernichtung angelegt war, zu nennen; insbesondere den Frauen, den jüngeren und mittleren Altersgruppen sowie den formal weniger gebildeten war dies nicht bekannt. Diese Tendenz spiegelt sich in den Antworten auf viele Fragen wider, die im Rahmen der Begleituntersuchung sowohl unmittelbar nach Ausstrahlung als auch 14 Wochen später gestellt wurden (vgl. Tabelle 7).
Tabelle 7: Art des Wissenszuwachses durch "Holocaust"
a) Vorgabe des Statements: "'Holocaust' macht bestimmte Vorgänge während der Zeit des Nationalsozialismus begreiflich".
Unmittelbar nach Ausstrahlung
14 Wochen später
Basis
527
497
Ja, stimmt
60 %
54 %
Nein, stimmt nicht
21 %
25 %
Unentschieden
20 %
21 %
b) Statement: "'Holocaust' ist ein guter Geschichtsunterricht für diejenigen, die die Zeit damals nicht miterlebt haben".
Unmittelbar nach Ausstrahlung
14 Wochen später
Basis
527
497
Ja, stimmt
70 %
65 %
Nein, stimmt nicht
18 %
22 %
Unentschieden
11 %
13 %
c) Statement: "'Holocaust' sollte in allen Schulen der Bundesrepublik gezeigt werden".
Unmittelbar nach Ausstrahlung
14 Wochen später
Basis
527
497
Ja, stimmt
48 %
45 %
Nein, stimmt nicht
25 %
28 %
Unentschieden
27 %
28 %
Die aus diesen Ergebnissen ablesbare, (auch) emotionale Akzeptanz von "Holocaust" zeigt sich überdies in der von der überwiegenden Mehrheit der Zuschauer empfundenen Glaubwürdigkeit und Authentizität der Serie. Die Glaubwürdigkeit einer Quelle ist für die Inhalte von ausschlaggebender Bedeutung; gerade bei dem Film "Holocaust" haben Kritiker darauf hingewiesen, dass durch die Machart des Films, durch die Darstellung in Form eines Spielfilms, die Ereignisse im subjektiven Erleben verfälscht wirken und so - auch subjektiv - ein nur geringer Informationswert vorhanden sei. Die Untersuchungsergebnisse zeichnen - auch längerfristig - ein anderes Bild (vgl. Tabelle 8).
Tabelle 8: Glaubwürdigkeit von "Holocaust"
Frage: "Sind Sie der Meinung, dass die Sendung die damaligen Verhältnisse richtig weitergegeben hat?"
*) A = Befragung unmittelbar nach Ausstrahlung; B = Befragung 14 Wochen nach Ausstrahlung
Total
Volksschule ohne Lehre
Volksschule mit Lehre A
Mittelschule b. Universität
Basis
A* 527 %
B* 497 %
A* 148 %
B* 140 %
A* 205 %
B* 193 %
A* 175 %
B* 164 %
Ja, vollständig
15
11
14
6
15
14
17
13
Ja, überwiegend
73
71
72
75
72
65
75
74
Nein, überwiegend nicht
8
14
10
16
9
12
5
13
Nein, überhaupt nicht
2
2
3
-
2
4
1
-
Keine Angabe
2
3
1
4
3
4
3
1
Insgesamt berechtigen diese Ergebnisse dazu, "Holocaust" als einen glaubwürdigen, authentischen Informationsträger zu bezeichnen, der Aufklärung zu leisten vermag. Dass man sich damit aus der Sicht politischer Bildung nicht zufriedengeben darf, zeigt der durch "Holocaust" geschaffene, zusätzliche Informationsbedarf. Generell würde man für politische Aufklärung fordern, dass nicht nur das persönliche Einzelschicksal im Vordergrund steht, sondern auch Gesamtzusammenhänge und Hintergründe, die politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen miterfasst werden. Welche zusätzlichen Informationen von einer repräsentativen Stichprobe von Bürgern für wesentlich gehalten werden, weist die folgende Tabelle von Ergebnissen der zweiten Befragung, 14 Wochen nach Ausstrahlung, aus (vgl. Tabelle 9).
Tabelle 9: Zusätzlicher Informationsbedarf
Frage: "Wir haben hier eine Liste zusammengestellt. Bitte lesen Sie sie einmal in Ruhe durch und sagen uns, über welche Punkte Sie gern mehr erfahren würden?" (Vorgabe: Liste; Mehrfachnennungen möglich")
Basis Befragte, 14 Wochen nach Ausstrahlung
Total
429 %
14-29 Jahre 130 %
30-39 Jahre 107 %
40 Jahre und älter 260 %
über die Frage, warum das Ausland den Juden nicht geholfen hat
49
54
51
44
über die Frage, was die Deutschen von der Judenvernichtung gewusst haben
37
40
41
34
über die Haltung der Kirchen zum Nationalsozialismus
32
39
38
26
über die Frage, wodurch der Nationalsozialismus begeisterte Anhänger fand
29
35
31
25
über den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus
27
32
30
22
über die Frage, ob man Unrecht tun kann, wenn man dem Gesetz gehorcht
27
30
30
23
über die Entstehung des Nationalsozialismus und seine Voraussetzungen
26
38
33
16
über die Frage, warum sich die Juden nicht gewehrt haben
22
31
19
20
über die Frage, welche Vorurteile heute in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Minderheiten bestehen
21
32
22
18
über die Verfolgung politisch anders Denkender z.Z. des Nationalsozialismus
21
27
17
18
über das Schicksal der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus
21
23
22
19
über die geschichtlichen Ereignisse in der Zeit des Nationalsozialismus
20
29
25
13
über die Frage, wie die deutsche Bevölkerung während der Zeit des Nationalsozialismus sich verhalten hat
20
27
19
17
über die nationalsozialistische Lehre und Weltanschauung
13
15
17
9
über politische Denk- und Verhaltensweisen, die heute wie damals undemokratischen Entwicklungen Vorschub leisten
12
11
11
12
über die Frage, was wir heute aus „Holocaust“ lernen können
11
12
11
10
über Antisemitismus
10
15
12
7
keine Information erwünscht
16
11
15
18
Hinsichtlich Alter und Bildung der Befragten ergeben sich eindeutige Zusammenhänge derart, dass das Interesse an weitergehender Information vor allem bei den jüngeren Altersgruppen und den höher gebildeten Gruppen vorhanden ist. Die Detailanalyse des zusätzlichen Informationsbedarfs nach sozialer Einstellung zeigt, dass selbst dann Interesse am Thema geweckt wurde, wenn die persönlichen Dispositionen in Richtung politische Entfremdung, soziale Isolierung und der Einstellung: "Vergangenheit endlich ruhen lassen" tendieren.
Für die Didaktik politischer Bildungsarbeit gibt die Tabelle 9 wertvolle Hinweise für die inhaltliche Schwerpunktsetzung von Begleitmaßnahmen oder die inhaltliche Vorbereitung auf Diskussionen über die Zeit des Nationalsozialismus. Dies nicht in der Weise, dass man ausschließlich die am häufigsten genannten Inhalte intensiv behandelt, sondern so, dass eine Verknüpfung häufig und selten besetzter Ansichten vorgenommen wird. Die inhaltliche Verknüpfung der Frage, "warum das Ausland den Juden nicht geholfen hat", mit der, "was wir heute aus `Holocaust' lernen können", eröffnet zusätzliche Perspektiven, die anhand von aktuellen Beispielen dargestellt werden können. Aus den Daten der Tabelle 9 folgt aber auch eine Verpflichtung, den geäußerten zusätzlichen Informationsbedarf ernst zu nehmen und in "Holocaust" einen Anlass für politische Bildungsarbeit und nicht deren Vollendung zu sehen.
3.3. Wirkungen im Bereich von Meinungen und Einstellungen
In welchem Umfang es möglich ist, Betroffenheit, neues Wissen und zusätzliche Informationsbedürfnisse für ein ausgeprägteres demokratisches politisches Bewusstsein zu funktionalisieren, hängt auch von den Meinungen und Einstellungen ab, die sich auf die Zeit des Nationalsozialismus bzw. auf Formen undemokratischer oder antidemokratischer politischer Kultur beziehen. Auch in der heutigen politischen Kultur, auf der Ebene der alltäglich erfahrbaren Politik wie der des individuellen Bewusstseins finden sich genügend Anlässe für Besorgnis. Gemeint ist hier nicht nur die generelle Einschätzung der Zeit des Nationalsozialismus, spektakuläre neonazistische Aktivitäten, latenter oder offener Antisemitismus bzw. Fremdenhass; gemeint sind auch die ganz sublimen und alltäglichen Formen politischer Entfremdung, politischer Radikalisierung, autoritärer Unterdrückung, undemokratischer Manipulation und nicht-legitimierter Machtausübung. Ohne ein Schreckensbild hinsichtlich der Ausprägung dieser Tendenzen zeichnen zu wollen: Politische Bildungsarbeit muss diese Tendenzen sensibel beobachten und kontinuierlich berücksichtigen.
Von der Fernsehserie "Holocaust" konnte in diesem Zusammenhang sicher nicht erwartet werden, diese Tendenzen etwa drastisch zu verringern oder gar abzubauen. Es war aber zu prüfen, ob "Holocaust“ den Blick für solche Tendenzen schärft, ein Stück dazu beiträgt, Gegenmaßnahmen zu intensivieren und vielleicht auch die Vertreter dieser Einstellungen zu sensibilisieren, zu verunsichern. Solche Effekte werden um so wirksamer sein und eine Relativierung antidemokratischer Meinungen und Einstellungen um so wahrscheinlicher, je größer die Dichte der Information und Kommunikation in Familie, peer-group, Schule und Arbeitsplatz, aber auch in den Massenmedien ist, d. h., je stärker die beteiligten Individuen zu offenen Stellungnahmen herausgefordert und gezwungen werden. In diesem faktischen Medien-Verbund, der im Zusammenhang mit der Serie "Holocaust" tatsächlich in erheblichem Umfang entstanden ist, hat der Film selbst einen entscheidenden Beitrag geleistet: Er hat emotionale Betroffenheit bewirkt, eine notwendige Voraussetzung für Verunsicherung und Auflockerung von Meinungen und Einstellungen. Dass die Veränderung von Meinungen/Einstellungen ein längerfristiger Prozess ist, bei dem sofortige Erfolge nicht erwartet werden dürfen, verweist nur auf die Verpflichtung zu einer kontinuierlichen politischen Bildungsarbeit.
Das Untersuchungskonzept basiert dabei nicht auf einer geschlossenen Theorie - etwa einer bestimmten Faschismustheorie -; es wurde vielmehr auf zum überwiegenden Teil bereits erprobte Einzelindikatoren und Skalen anderer Untersuchungen zurückgegriffen, die markante Punkte im politischen Bewusstsein unterschiedlicher Zielgruppen politischer Bildung widerspiegeln.
Bei der Interpretation der im folgenden dargestellten Ergebnisse ist zu beachten, dass ein Vergleich der vor Ausstrahlung ermittelten Ergebnisse mit denen nach Ausstrahlung auf einer individuellen Ebene nicht möglich ist. Das Untersuchungs-Design sah zwar repräsentative, voneinander aber unabhängige Stichproben vor. Auch ein Vergleich zwischen Sehern und Nicht-Sehern von "Holocaust" darf nicht ohne Einschränkung zum Beleg für Wirkungen herangezogen werden, weil sich die Gruppe der Nicht-Seher - wie schon ausgeführt - von der Gruppe der Seher in wichtigen Merkmalen (höherer Grad "politischer Entfremdung", ausgeprägtere "unpolitische Haltung", größere "Isolation" vom sozialen Leben, höheres Lebensalter etc.) unterscheidet. Zudem ist zu berücksichtigen, dass auch die Nicht-Seher durch die Voraussendungen des WDR, durch kontroverse Presseberichte und durch Inhaltsschilderungen in Tages- und Boulevardzeitungen (die "Bild-Zeitung" berichtete ausführlich über das Schicksal der Familie Weiß) gut informiert und hinsichtlich wesentlicher Untersuchungsdimensionen sicher nicht unbeeinflusst waren. Dennoch ergeben sich - durchgängig stärker wieder bei jüngeren Altersgruppen - Befunde, die als Auflockerung und Verunsicherung von Meinungen und Einstellungen gewertet werden können. (Vielleicht wäre es aber im Hinblick auf die Bedeutung der Ergebnisse für die politische Bildungsarbeit sogar wichtiger, nicht so sehr Veränderungen oder Unterschiede zu diskutieren, sondern vielmehr die z. T. besorgniserregenden Ausprägungen negativ zu wertender Einstellungen bei beachtlichen Teilen der Bevölkerung.)
Tabelle 10: Weitere Verfolgung von NS-Verbrechen
Frage: "In letzter Zeit wird häufig über die Aufhebung der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen gesprochen. Was meinen Sie: Sollten solche Verbrechen auch nach 1979 noch verfolgt werden, oder sollten sie nicht mehr verfolgt werden?"
Vor Ausstrahlung
"Holocaust" Seher
"Holocaust" Nicht-Seher
Basis
824
1.018
404
Sollten auch nach 1979 noch verfolgt werden
15 %
39 %
25 %
Sollten nicht mehr verfolgt werden
51 %
35 %
36 %
Habe mich mit dieser Frage noch nicht beschäftigt
34 %
26 %
39 %
Beachtenswert sind nicht nur die Unterschiede zugunsten der weiteren Interner Link: strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen, die sicher nicht absolut zu werten sind, sondern auch die erhebliche Verringerung des Anteils derjenigen, die sich mit dieser Frage noch nicht beschäftigt haben.
Ein weiterer Indikator, der sensibel auf die Wirkungen von "Holocaust" reagiert, ist die generelle Einschätzung der Zeit des Nationalsozialismus (vgl. Tabelle 11).
Tabelle 11: Bewertung der NS-Zeit
Frage: „Manche Leute sagen, die Zeit des Nationalsozialismus war eine gute Zeit, andere sagen, die Zeit war eine schlechte Zeit. (...) Wie würden Sie persönlich mit Hilfe dieser Liste die Zeit des Nationalsozialismus einschätzen?"
Vorgabe Liste +5 bis -5
Vor Ausstrahlung
"Holocaust" Seher
"Holocaust" Nicht-Seher
Basis
824
1.018
404
Mittelwert
-1,79
-2,35
-2,06
In der Tendenz zeigt Tabelle 11, dass die generelle Einschätzung der Zeit des Nationalsozialismus bei den Sehern von "Holocaust" erheblich schlechter ist. Zudem gibt es deutliche altersspezifische Unterschiede, die die Tabelle nicht ausweist: in den jüngeren Altersgruppen wird die NS-Zeit erheblich negativer eingeschätzt. Ähnliche Verhältnisse ließen sich auch anhand der Einschätzung des Nationalsozialismus selbst nachweisen (vgl. Tabelle 12).
Tabelle 12: Einschätzung des Nationalsozialismus
Statement: Der Nationalsozialismus war im Grund eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde.
Vor Ausstrahlung
"Holocaust" Seher
"Holocaust" Nicht-Seher
Basis
824
1.018
404
Ja, stimmt
34 %
30 %
30 %
Nein, stimmt nicht
37 %
30 %
38 %
Unentschieden
30 %
40 %
32 %
Das generell hohe Niveau der Zustimmung zum Statement der Tabelle 12 mag erschrecken; die Ergebnisse korrespondieren jedoch mit denen aus Untersuchungen früherer Jahre.
Wie in Amerika scheint "Holocaust" auch in der Bundesrepublik in der moralischen Dimension das Gefühl der Schuld bzw. Verpflichtung gesteigert zu haben (vgl. Tabelle 13).
Tabelle 13: Schuld und Verpflichtung
a) Statement: Deutschland ist moralisch verpflichtet, Wiedergutmachung zu leisten.
Vor Ausstrahlung
"Holocaust" Seher
"Holocaust" Nicht-Seher
Basis
824
1.018
404
Ja, stimmt
45 %
54 %
40 %
Nein, stimmt nicht
38 %
31 %
45 %
Unentschieden
17 %
15 %
15 %
b) Statement: Alle Deutschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus erwachsen waren, tragen Mitschuld an dem, was damals geschah.
Vor Ausstrahlung
"Holocaust" Seher
"Holocaust" Nicht-Seher
Basis
824
1.018
404
Ja, stimmt
16 %
22 %
15 %
Nein, stimmt nicht
31 %
24 %
29 %
Unentschieden
53 %
54 %
56 %
Deutliche Veränderungen vor und nach "Holocaust" ließ auch die Frage nach der Rechtfertigung des Attentats auf Hitler erkennen. Nach der Ausstrahlung halten 63 % der Befragten das Attentat für gerechtfertigt (14 % mehr als vor der Ausstrahlung) und - was auch hier wieder entscheidender ist -, die Gruppe derer, die keine Stellung beziehen mag, schrumpft von 43 % auf 30 %.
Ein Kernstück auch des heutigen, akuten Neofaschismus sind antisemitische Tendenzen. Man schätzt, dass bei rund einem Viertel der Gesamtbevölkerung antisemitische Tendenzen noch oder schon wieder vorhanden sind, und es ist in der Tat erschreckend, dass sich diese Tendenzen in unabhängigen Untersuchungen zu verschiedenen Zeitpunkten immer wieder nachweisen lassen.
a) Statement: Mit ihren Ideen stiften die Juden nur Unfrieden.
Vor Ausstrahlung
"Holocaust" Seher
"Holocaust" Nicht-Seher
Basis
824
1.018
404
Ja, stimmt
15 %
9 %
10 %
Nein, stimmt nicht
36 %
31 %
40 %
Unentschieden
49 %
60 %
51 %
b) Statement: Die Juden arbeiten mehr als andere mit Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen.
Vor Ausstrahlung
"Holocaust" Seher
"Holocaust" Nicht-Seher
Basis
824
1.018
404
Ja, stimmt
32 %
22 %
21 %
Nein, stimmt nicht
38 %
33 %
38 %
Unentschieden
30 %
45 %
41 %
c) Statement: Die Juden in Deutschland sind genauso gute Staatsbürger wie andere auch.
Vor Ausstrahlung
"Holocaust" Seher
"Holocaust" Nicht-Seher
Basis
824
1.018
404
Ja, stimmt
80 %
84 %
80 %
Nein, stimmt nicht
19 %
12 %
16 %
Unentschieden
2 %
4 %
4 %
Zu Vorgaben der Art der Tabelle 14 gibt es deutliche altersspezifische Unterschiede in der Beantwortung. Dabei wird deutlich, dass die jüngeren Altersgruppen zwar in geringerem Umfang antisemitische Tendenzen erkennen lassen, dass sie aber, obwohl sie selbst keine Interner Link: Juden kennen, dennoch Vorurteile der skizzierten Art in erschreckendem Ausmaß übernommen haben. Es scheint dabei so zu sein, dass das Objekt dieser Vorurteile ("Jude") gegen jede andere ethnische Minderheit oder Fremdgruppe austauschbar ist. Politische Bildungsarbeit sollte das Problem des Antisemitismus in einem sehr breiten Rahmen angehen und als Lernziel die Bereitschaft setzen, Vorurteile aufzubauen und für das Verhalten wirksam werden zu lassen. Für diese Betrachtungsweise sprechen auch Ergebnisse der Begleituntersuchung, die sich aus einem Vergleich zwischen dem Autostereotyp "Bundesrepublik Deutschland" mit dein Stereotyp "Interner Link: Israel" ergeben. (Verwendet wurden u. a. die Eigenschaften: friedliebend, schlau, habgierig, tapfer, intelligent, grausam, geschäftstüchtig u. a. m.). Hier zeigte sich, dass die jüngeren Altersgruppen die Bewohner Israels tendenziell ebenso positiv einschätzen wie die Bewohner der Bundesrepublik Deutschland selbst. Nur bei den älteren Altersgruppen finden sich deutliche Unterschiede, hier wird ein negatives Bild der Bewohner Israels gezeichnet. Während also ein größerer Teil der jüngeren Altersgruppen bei dem Begriff "Jude" Vorurteile artikuliert, werden die "Bewohner des Landes Israel" ausgeprägt positiv eingeschätzt. Für pädagogische Arbeit, die Aufklärung über Vorurteile zum Ziel hat, bietet diese "paradoxe" Gegebenheit eine Chance, die psychologischen Mechanismen bei der Entstehung von Vorurteilen (und deren Funktion) bloßzulegen.
Die bisher dargestellten Ergebnisse bezogen sich vor allem auf die Situation unmittelbar nach Ausstrahlung. In einer weiteren Befragung - 14 Wochen nach Ausstrahlung - wurden dieselben Fragen erneut vorgelegt, um den zeitlichen Bestand einzelner Tendenzen abschätzen zu können. Die in den Diskussionen über die Wirkungen von "Holocaust" immer wieder geäußerte Befürchtung, dass die Effekte von "Holocaust" nach kurzer Zeit wieder verschwinden würden, wird durch die Ergebnisse der Wiederholungsbefragungen nicht belegt. Vielmehr sind die unmittelbar nach Ausstrahlung von "Holocaust" ermittelten Tendenzen in erheblichem Umfang zeitstabil. Es gibt zwar - wie nicht anders zu erwarten - eine Abschwächung und ein Verblassen der positiven Effekte im Bereich der Meinungen und Einstellungen; gegenläufige Entwicklungen sind jedoch nur bei wenigen Fragen und Befragten zu beobachten. Hierzu gehören die Ergebnisse zur Frage der Verjährung von NS-Verbrechen. Während es unmittelbar nach Ausstrahlung von "Holocaust" mehr Verjährungsgegner gab, haben 14 Wochen nach Ausstrahlung die Befürworter einer Verjährung (wieder) ein tendenzielles Übergewicht. Über das Zustandekommen dieses Ergebnisses kann man nur spekulieren; immerhin eröffneten Fernseh- und Presseberichte zur Verjährungsdebatte im Bundestag - unter Hinweis auf Interner Link: verfahrenstechnische Schwierigkeiten bei NS-Prozessen - Möglichkeiten, eine "neutrale" Position zu beziehen.
Bei allen übrigen Einstellungs-Indikatoren, wie etwa der moralischen Verpflichtung zur Wiedergutmachung, der Mitschuld der Deutschen, der Einschätzung des Nationalsozialismus als "gute Idee" oder den antisemitischen Tendenzen zeigt sich eine leichte Abschwächung der positiven Veränderungen; sie reicht jedoch nicht so weit, dass das vor der Ausstrahlung ermittelte Niveau wieder erreicht wird. 14 Wochen sind gleichwohl kein hinreichend langer Zeitraum, um zu beurteilen, ob die Verunsicherung und Auflockerung negativ zu wertender Meinungen und Einstellungen für die Betroffenen bedeutsam blieb. Dies ist von einem Film begründet auch nicht zu erhoffen; vielmehr müssen weitergehende pädagogische Bemühungen diese Aufgabe übernehmen und mit kontinuierlichen Angeboten verwirklichen. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass - 14 Wochen nach Ausstrahlung - eine gewisse Ernüchterung und Übersättigung im Hinblick auf Themen wie "Holocaust", "Judenvernichtung" und "Nationalsozialismus" artikuliert wird. Wo dies der Fall ist, sollte die pädagogische Aufarbeitung nicht direkt an den Film "Holocaust" selbst, sondern an aktuelle Betroffenheiten und heute relevante Probleme anknüpfen. Die Aufklärungsarbeit der jüdischen Organisation "Anti-Defamation-League", New York, etwa, nutzte die Breitenwirkung von "Holocaust", um auf heute stattfindende Kriege und Gräueltaten aufmerksam zu machen: Sie entwickelte eine Aufklärungskampagne über das Interner Link: Schicksal der vietnamesischen Flüchtlinge.
3.4. Möglichkeiten der Generalisierung
Die Frage, ob "Holocaust" eine Generalisierung der dargestellten historischen Ereignisse möglich gemacht hat, ob die Herstellung von Bezügen zur heutigen Zeit, zu heute aktuellen gesellschaftlichen und individuellen Defiziten des politischen Bewusstseins ermöglicht bzw. gefördert wurde, ist eine entscheidende Frage zur Bewertung des Films aus der Sicht politischer Bildungsarbeit. Dabei ist wiederum zu beachten, dass beobachtete Wandlungen nicht allein auf den Film, sondern auch auf begleitende Informationskampagnen und induzierte Informationsflüsse zurückzuführen sind.
In vielen Briefen an die Bundeszentrale für politische Bildung wurde deutlich, dass eine beträchtliche Anzahl von Zuschauern durch die Serie angeregt wurde, über die heutige politische Kultur nachzudenken. Auch die in den Begleituntersuchungen verwendeten Indikatoren belegen, dass "Holocaust" zur Beschäftigung mit heute relevanten Problemen und übergreifenden Fragen geführt hat. So wird z. B. für wichtig gehalten, dass "Holocaust" in allen Schulen der Bundesrepublik gezeigt wird (65 % aller 14-19jährigen Befragten sind dieser Meinung); "Holocaust" wird als ein guter Geschichtsunterricht bezeichnet, gerade für diejenigen, die die Zeit damals nicht miterlebt haben (80 % aller 14-19jährigen Befragten sind dieser Meinung). Immerhin 19 % aller Befragten befürchten, dass ein Geschehen, wie es "Holocaust" darstellt, unter bestimmten Bedingungen in Deutschland erneut vorkommen könnte, und 71 % aller Befragten stimmen der Ansicht zu, dass man aus "Holocaust" lernen könne, dass Gehorsam nicht immer das Richtige ist. Eine direkte Frage zur Generalisierbarkeit brachte folgende Ergebnisse (vgl. Tabelle 15):
Tabelle 15: Lehren aus der Geschichte/Generalisierbarkeit
Frage: „Würden Sie sagen, daß Deutsche aus „Holocaust“ lernen können für unser heutiges Denken und Handeln in der Bundesrepublik, - oder ist das nicht der Fall?"
Total
14 - 29 Jahre
30-44 Jahre
45-59 Jahre
60 und mehr Jahre
Basis
497
130
161
121
86
Ja, wir können daraus lernen
66
67
67
65
62
Nein, nicht der Fall
12
10
12
16
11
Weiß nicht
22
23
20
20
28
Natürlich könnten diese Ergebnisse auch Lippenbekenntnisse darstellen, aber viele weitere Indikatoren zeigen zumindest, dass Assoziationen zu heutigen Problemen der politischen Kultur geweckt wurden, die von der politischen Bildungsarbeit aufgegriffen werden können. Die folgenden, 14 Wochen nach Ausstrahlung ermittelten Ergebnisse, weisen im Detail nach, welche Voraussetzungen und Anknüpfungspunkte für pädagogische Zielsetzungen gegeben sind (vgl. Tabelle 16).
Tabelle 16: Lehren aus der Geschichte/Argumente
Frage: "Nach der Sendung von `Holocaust' hat sich in Deutschland eine Diskussion darüber entzündet, ob man aus dem damaligen Geschehen für die heutige Zeit Lehren ziehen kann. Wir haben dieser Diskussion einige Argumente entnommen."
Vorgaben: Kartenspiel; Skalenblatt: trifft voll und ganz zu, trifft weitgehend zu, trifft wenig zu, trifft überhaupt nicht zu; im Folgenden: nur Nennungen in den ersten beiden Kategorien.
Basis
Total 497 %
14-29 Jahre 130 %
30-44 Jahre 161 %
45-59 Jahre 121 %
60 Jahre und älter 86 %
1. Heute wie damals fehlt uns Deutschen Zivilcourage, um schlimmen Entwicklungen von Anfang an entgegenzutreten.
45
36
44
51
48
2. Unser Verhältnis zu den Gastarbeitern beweist doch, dass wir Deutsche auch Minderheiten akzeptieren.
69
59
66
79
74
3. Genauso wie damals neigen wir Deutschen auch heute dazu, uns mit politischen Gegnern nicht auseinanderzusetzen, sondern nach dem Staatsanwalt und der Polizei zu rufen.
50
55
52
50
38
4. Wenn in der Bundesrepublik eine deutliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse entsteht, könnten die Deutschen für nationalsozialistisches Gedankengut wieder empfänglich werden.
33
30
37
33
28
5. Wenn Christen ihr Christentum ernstgenommen hätten, wären uns die Gräuel des Nationalsozialismus erspart geblieben.
42
39
47
42
38
6. Je stärker sich die Bürger am politischen Geschehen beteiligen, desto geringer ist die Gefahr undemokratischer Entwicklungen.
77
81
78
71
74
7. Dass heute noch frühere Nazis in Amt und Würde sind, beweist doch, dass wir uns mit der Vergangenheit nicht ernsthaft genug auseinandergesetzt haben.
54
55
58
51
48
8. Es wird heute zu leicht vergessen, dass die Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus nichts weiter getan haben, als ihre staatsbürgerlichen Pflichten zu erfüllen.
58
45
60
60
72
9. Demokratische Verhältnisse sind umso gefestigter, je einheitlicher die politischen Überzeugungen der Bürger sind.
70
65
64
75
83
10. Toleranz und Mitmenschlichkeit sind bei uns Deutschen stets Kanzelworte geblieben; in unser alltägliches Leben haben sie keinen Eingang gefunden.
43
42
45
42
37
11. Nationalsozialistische Verhältnisse werden sich nicht wiederholen; davor schützt uns allein schon die Tatsache, dass wir eine demokratisch gewählte Regierung haben.
71
65
65
76
81
12. Wir können heute so wenig wie damals die Natur des Menschen ändern.
74
75
71
74
79
13. Wer heute die Verhältnisse in der Bundesrepublik ständig kritisiert, beweist, dass er zwischen einem Unrechtsstaat und einem Rechtsstaat nicht unterscheiden kann.
64
49
62
79
66
14. Indem wir uns gegen Radikale im öffentlichen Dienst wehren, leisten wir einen entscheidenden Beitrag gegen antidemokratische Entwicklungen.
68
67
60
73
76
15. Auch in schwierigen Zeiten ist eine Demokratie besser in der Lage, mit Problemen fertig zu werden, als eine Diktatur.
86
89
84
86
85
Die in der Tabelle 16 aufgeführten Aussagen lassen sich drei Dimensionen zuordnen, die unterschiedliche Typen politischen Bewusstseins beschreiben. Eine methodisch zwar nicht ganz unproblematische, aber doch verwertbare Faktorenanalyse über diese Aussagen erbringt in der Dreier-Lösung eine plausible, interpretierbare Faktorenstruktur: Einen Faktor 1, den man "Selbstkritik" nennen könnte (er wird repräsentiert durch die Aussagen 1, 3, 4, 7 und 10); einen Faktor 2, den man "Selbstgerechtigkeit" nennen könnte (repräsentiert durch die Aussagen 2, 8, 9, 11, 13 und 14) und einen Faktor 3 "Demokratische Partizipation" (repräsentiert durch die Aussagen 6 und 15). Diese Struktur bildet die Aussagen 5 und 12 nicht ab; eine stärkere Ausdifferenzierung des Bereiches der moralischen und ethischen Wertung politischer Probleme, der in den Briefen an die Bundeszentrale einen erheblichen Stellenwert hatte, ist in den Statements der Untersuchung sicher auch unterrepräsentiert. Aber auch unabhängig von diesen Ergebnissen lassen sich in Diskussionen über den Bezug von "Holocaust" zur heutigen Zeit, diese drei bzw. vier Hauptgesichtspunkte feststellen. Die methodischen Schwächen der oben dargestellten Ergebnisse erlauben leider nicht, für unterschiedliche Zielgruppen politischer Bildungsarbeit jeweils gegebene Faktor-Strukturen präzise zu bestimmen. Es zeichnet sich aber ab, dass bei den jüngeren Altersgruppen eine geringere Ausprägung des Faktors "Selbstgerechtigkeit" gegeben, und - ebenso wie bei den mittleren Altersgruppen - eine stärkere Ausprägung des Faktors "Demokratische Partizipation" nachweisbar ist. Aber auch aus diesen nur schwachen Tendenzen können brauchbare Anhaltspunkte für politisch bildende Maßnahmen - die Anlage von Begleitmaterialien etwa - abgeleitet werden. So sollten bei Überwiegen des Faktors "Selbstgerechtigkeit" Defizite der gegenwärtigen politischen Kultur thematisiert und nachgewiesen werden, bei Überwiegen des Faktors "Selbstkritik" müsste die Handlungsebene betont und bei Dominanz des Faktors "Demokratische Partizipation" könnten die Möglichkeiten und Grenzen der in der Bundesrepublik verwirklichten Demokratie in den Mittelpunkt gerückt werden.
4. "Indirekte" Wirkungen von "Holocaust"
Die bisher angeführten Belege für die Wirkungen von "Holocaust" spiegeln die Verhältnisse auf der "subjektiven Seite" wider. Die mit den gewählten Untersuchungs- und Analysemethoden ermittelten Ergebnisse sind mit Schwächen, z. T. wohl auch mit Fehlern behaftet; die Fülle der Ergebnisse ist (noch) nicht systematisch und unter allen denkbaren Aspekten ausgewertet worden und einige Ergebnisse wurden vielleicht auch überinterpretiert. Aber selbst unter Berücksichtigung methodischer und inhaltlicher Bedenken kann als gesichert angesehen werden, dass der Film "Holocaust" auf der subjektiven Ebene positiv zu wertende und für politische Bildungsarbeit fruchtbar zu machende Impulse gegeben hat. Dies hat vor "Holocaust“ keine der zahlreichen und z.T. ebenfalls intensiv genutzten Dokumentationen auch nur annähernd erreicht. Wenn hervorgehoben wird, dass 10 % der "Holocaust"-Seher sich aufgrund des Films tatsächlich zusätzliche Informationen beschafft haben, so mag dieser Anteil zwar gering erscheinen, aber in absoluten Zahlen entspricht ihm eine Zahl von Individuen, die bei vielen anderen Filmen zum Thema die Gesamtseherschaft ausgemacht hätte. Zur Beantwortung der Eingangs gestellten Fragen ist die Analyse der Auswirkungen sowohl des Films selbst, als auch der auf ihn erfolgten Reaktionen von größtem Interesse. Die Bundeszentrale arbeitet seit einigen Monaten an einer Untersuchung, die sich die Analyse von Reaktionen auf einer eher "strukturellen" Ebene zum Ziel gesetzt hat. Gemeint ist das Verhalten der Träger und Institutionen außerschulischer politischer Bildung, der Schule selbst, Fachzeitschriften, die sich an Lehrer, Erwachsenenbildner und "Kulturmultiplikatoren" wenden, Massenmedien und andere Institutionen des öffentlichen Lebens, die auf die Ausstrahlung von "Holocaust" reagiert haben.
Ohne hier im Einzelnen Belege anzuführen, seien doch die bisher ermittelten Tendenzen kurz dargestellt.
Alle großen Träger der politischen Bildungsarbeit (d. h. Stiftungen der Parteien und insbesondere auch einzelne Volkshochschulen) sind mit ihren Seminarangeboten auf "Holocaust", damit zusammenhängende Themen und auf Reaktionen der Gesamtbevölkerung eingegangen. Alle Träger betonen, dass ihre Aktivitäten zum Themenbereich Nationalsozialismus und Neonazismus schon vor der Ausstrahlung von "Holocaust" (und unabhängig von "Holocaust") vielfältig und umfangreich waren. Dennoch lässt sich zeigen, dass nach "Holocaust" das Angebot nicht nur quantitativ ausgeweitet wurde: es wurde sowohl spezifischer, indem etwa auf die Judenvernichtung eingegangen wurde, als auch generalisierender, indem Bezüge zur heutigen Zeit hergestellt wurden. Auch Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung haben dem Thema Nationalsozialismus, Judenvernichtung, Neonazismus und Rechtsextremismus mehr Aufmerksamkeit gewidmet und größere finanzielle Mittel investiert als vor Ausstrahlung.
Im Hinblick auf den Bereich der außerschulischen politischen Bildung darf man wohl behaupten, dass "Holocaust" stimuliert und zu größeren Anstrengungen in diesem thematischen Bereich herausgefordert hat.
Im Bereich der Schule sind positive wie negative Reaktionen auf "Holocaust" zu beobachten: zum einen die Weigerung, auf den Film - mehr als nach dem Drängen der Schüler notwendig - einzugehen, zum anderen das Ansehen des Films als "Hausaufgabe" und anschließende ausführliche Diskussionen im Unterricht. Die Verwertung der Impulse durch "Holocaust" im Unterricht, ihre Nutzung und Funktionalisierung für damit verwandte Themen des Lehrplans, scheint die häufigste Reaktion gewesen zu sein, wenngleich es zwischen Lehrern und zwischen Lehrern und Schulleitung zu Diskussionen über die Brauchbarkeit von "Holocaust" für den Unterricht gekommen ist. Auch qualitativ scheint der Film "Holocaust" und die durch ihn ausgelöste Betroffenheit in den Schulen, in den Klassen etwas verändert zu haben. Wo Interner Link: "Judenwitze" häufiger oder gelegentlich die Runde machten, war plötzlich eine Gegenwehr vorhanden.
Deutlicher ins Bewusstsein von Lehrern und Schulbehörden (aber auch der Kulturpolitiker) gerückt wurde die bisher übliche Art und Weise, das Thema "Nationalsozialismus" im Unterricht zu behandeln. Auch die Lehrer, die den Film "Holocaust" wegen seiner auf hohe Zuschauerbeteiligung ausgerichteten, klischeehaften Darstellung ablehnen, suchen nun bewusst nach besserem Material, um es einzusetzen.
Fachzeitschriften im Bereich politischer Bildung, die den Zielgruppen Lehrer, Erwachsenenbildner und im weitesten Sinne "Multiplikatoren" dienen, lassen folgende Tendenzen erkennen: Die Fachzeitschriften (z. B. betrifft: erziehung), die auch vor der Ausstrahlung von "Holocaust" ausführlich über das Problem des Nationalsozialismus und Neonazismus berichteten, intensivieren ihr Angebot nur unwesentlich. Andere Fachzeitschriften greifen das Thema verstärkt auf, thematisieren in breitem Umfang die Bereiche Nationalsozialismus, Judenverfolgung und Rechtsextremismus. Insbesondere mit Bezug auf den Religionsunterricht wird das Problem des Verhältnisses zwischen Christen und Juden und das Problem des Antisemitismus deutlich stärker in den Vordergrund gerückt. Es liegen - etwa ein Jahr nach Ausstrahlung - vermehrt Praxisberichte über Schulunterricht vor, in denen über Schwierigkeiten und Erfahrungen bei der Verwertung der Filminhalte und bei der pädagogischen Arbeit über Vorurteile berichtet wird. Am deutlichsten sichtbar werden zusätzliche Aktivitäten nach Ausstrahlung von "Holocaust" bei den Schülern. Eine große Zahl von Schülerzeitungen geht auf das Thema ein, beschreiben Versäumnisse und Schwächen des bisherigen Geschichtsunterrichtes, machen Aufrufe zu Aktionen gegen Neonazismus und anderes mehr. Selbst auf dem Gebiet der Lehrerausbildung finden sich nun vermehrt Publikationen, die Unterrichtseinheiten und Handreichungen für Lehrer zum Thema Nationalsozialismus beschreiben und zur Auswahl stellen. Mehrere Tagungen und Seminare, die der Fortbildung von Lehrern, Geschichtsdidaktikern, gewidmet sind, können als durch die Debatte über den Wert und Unwert des Geschichtsunterrichtes (Tenor: "schwarzer Freitag für Historiker") stimuliert gelten.
In den Massenmedien selbst ist ein verstärkter Trend zu zeitgeschichtlichen Themen festzustellen. So wurden Serien konzipiert, die ganz auf die Darstellungsform der Spielhandlung abstellen. Bereits gesendete Filme zum Thema werden zum Teil in Form von Zyklen neu ins Programm gebracht. Auch der Buchmarkt hat reagiert: Eine Flut von Publikationen, zum größten Teil Neuauflagen von Erlebnisschilderungen aus der Zeit des Dritten Reiches, kam auf die Buchläden zu, und eine Umfrage unter Buchhändlern in der Bundesrepublik ergab, dass ein verstärkter Bedarf an Publikationen dieser Art zu verzeichnen ist.
Selbstverständlich sind diese Aktivitäten nicht auf den Film allein zurückzuführen und in vielen Fällen sicher auch nicht auf eine erhöhte Verantwortung für politisch bildende Ziele. Dennoch aber darf man behaupten, dass der Film "Holocaust" diese Entwicklung mit verursacht hat, zu einem guten Teil prägt und auch legitimiert.
5. Schlussbemerkungen
Nach allem, was über den Entstehungsprozess des Fernsehfilms "Holocaust" berichtet wird - von der ursprünglichen Idee über die Ausarbeitung des Drehbuchs, der Auswahl der beratenden Experten, der Besetzung der Rollen, der Finanzierung der Produktion bis hin zur Promotion der Sendung über Institutionen des öffentlichen Lebens in den Interner Link: USA -, ist klar, dass der weltweite Erfolg von "Holocaust" kein Zufallstreffer, sondern ein nach allen Regeln der Kunst geplantes und verwirklichtes Produkt der Massenkultur-Industrie der Vereinigten Staaten ist. Diese Serie hat in der Bundesrepublik die Alltäglichkeit des Konsums von Massenmedien, ihre durch Unterhaltungsbedürfnisse und Passivität gekennzeichnete Nutzung, durchbrochen. Aus deutscher Sicht ist dies umso erstaunlicher, als "Holocaust" selbst nach den typischen Gestaltungsregeln, die eine hohe Zuschauerbeteiligung garantieren, und nach rigoros angewendeten marktstrategischen Überlegungen des amerikanischen Fernsehens, entwickelt wurde. Für viele war der Erfolg von "Holocaust" eben deshalb auch vorhersehbar, weil die Effizienz solcher Vermittlungsformen (Personalisierung, Trivialisierung, Action, Tod und Liebe) ein breites Publikum anzuziehen vermag. Ein solches Produkt für politische Bildung in der Bundesrepublik verwerten zu wollen, erschien vor Ausstrahlung des Films (und erscheint auch heute noch vielen) als unmöglich, als falsch, als ein Stück Gegenaufklärung. Vor dem Hintergrund der eingeschliffenen und durch importierte Fernsehprogramme geprägten Nutzungsgewohnheiten, war ein Breitenerfolg wohl nur so zu erreichen. Die Verpflichtung, über das wichtige Thema hinaus, auch die Manipulationsformen des Films, die dem Inhalt teilweise zuwiderlaufende Betrachtungsweise der Gräueltaten durch die Kameraführung zum Gegenstand politischer Bildung zu machen, ist dadurch nicht aufgehoben. Die Tatsache, dass das Fernsehereignis "Holocaust" sowohl ein aus sich heraus wirkendes Mittel politischer Bildung, als auch ein für politische Bildung didaktisch verwert- und nutzbarer Beitrag war und heute noch ist, berechtigt wohl dazu, die filmästhetische Kritik und medienpädagogische Zielsetzung zugunsten des Themas vorerst einmal zu vernachlässigen.
Zitat
Die Tendenzen, die von der "Hitler-Welle" ausgingen, sind durch das "Holocaust"-Fernsehereignis gebrochen. Niemand hätte das vorher für möglich gehalten. Immer war behauptet worden, von den Gräueltaten, die die Nationalsozialisten begingen wollte die Bevölkerung der Bundesrepublik nichts mehr hören. Alle, die die Serie sahen und in die dargestellte Handlung unerbittlich hineingezogen wurden, können das grausigste Stück der deutschen Zeitgeschichte von 1933-1945 fortan nicht mehr vergessen. Die Humanität hat durch diesen Film in der Bundesrepublik unerwartet an Boden gewonnen. Ein Bann ist gebrochen: Man kann über die schrecklichen Dinge bis in die Schuld- und Mitschuldfrage hinein, endlich miteinander sprechen.
Quelle: Rundfunk und Fernsehen 28 (1980), H. 4, Tilmann Ernst: „Holocaust“ in der Bundesrepublik: Impulse, Reaktionen und Konsequenzen der Fernsehserie aus Sicht der politischen Bildung, S. 509ff