Film und Fernsehen als Medien der gesellschaftlichen Vergegenwärtigung des Holocaust
Die deutsche Erstausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie 'Holocaust' im Jahre 1979
Sandra Schulz
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Dieser Text von 2007 bietet eine systematische Analyse zum Begriff der Erinnerungskultur und zur bundesdeutschen Erstausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust als soziales Ereignis. Im Fokus steht dabei auch die damalige Rolle der Bundeszentrale für politische Bildung.
Hinweis
Dieser Text ist 2007 im Journal "Historical Social Research" erschienen und bietet eine systematische Analyse zum Begriff der Erinnerungskultur und zur bundesdeutschen Erstausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust als soziales Ereignis. Der Text spiegelt dabei die Perspektive und Sprache des wissenschaftlichen Diskurses der 2000er Jahre auf (den Begriff der) Erinnerungskultur wider.
Untersuchungsgegenstand des Textes sind die Motive und Intentionen der beteiligten Akteure, der Wahrnehmungskontext, der Kontext der Ausstrahlung sowie die Rezeption der Holocaust-Serie. Im Fokus stehen dabei die damaligen Intentionen und Motive der verantwortlichen Akteure des Westdeutschen Rundfunks und der Bundeszentrale für politische Bildung, die die Serie den nationalen bundesdeutschen Bedeutungsrahmen anpassten und sie als Chance sahen, der jüdischen Opferperspektive auf den Holocaust in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik Gewicht zu verleihen.
Interner Link: Erinnerungskultur kann als formaler Oberbegriff für alle vorstellbaren Formen der bewussten Vergegenwärtigung geschichtlicher Ereignisse verstanden werden. Innerhalb des Themenfeldes Erinnerungskultur ist der Begriff Interner Link: Gedächtnis zu einer Schnittstelle wissenschaftlichen, politisch-öffentlichen und kulturellen Interesses geworden. Im Rahmen der gesteigerten Aufmerksamkeit für gesellschaftliche Formen der Erinnerung – bzw. den sozialen Rahmen individueller Erinnerungen – gilt das Interesse dabei speziell den kulturellen Repräsentationen der Erinnerung, mit denen die Tradierung kollektiv geteilten Wissens über die Generationenfolge hinaus gewährleistet werden soll. Eine anhaltende Aufmerksamkeit erfährt insbesondere die Erinnerungskultur des Holocaust. Diese geht vornehmlich auf das absehbare Ende der Zeitzeugenschaft zurück, wodurch den Rekonstruktionen der historischen Ereignisse eine größere Bedeutung zukommen wird als bisher. Es wird eine verstärkte Prägung der Vergegenwärtigung von Nationalsozialismus und Holocaust durch die audiovisuellen Medien und deren Bilder konstatiert, die hauptsächlich durch das Fernsehen beschleunigt wird. Eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die Vermittlungsformen historischer Ereignisse innerhalb der Erinnerungskultur lässt dementsprechend auch die Erinnerungsangebote von Film und Fernsehen eine erhöhte Beachtung erfahren, zumal "für die Nachgeborenen der dritten Generation der Holocaust (…) längst zu einem Ereignis geworden [ist], das massenmedial vermittelt ist" (Köppen & Scherpe 1997, S. 1).
Die US-amerikanische Fernsehserie Holocaust (1978) gilt als ein Interner Link: Wendepunkt in der Erinnerungskultur des Nationalsozialismus und seiner Gewaltverbrechen (Uhl 2003). Zum einen, weil sie erstmals die jüdischen Opfer in den Mittelpunkt einer filmischen Darstellung des Nationalsozialismus und seiner Gewaltverbrechen stellte, und zum anderen, weil dies in Holocaust erstmals anhand einer fiktionalen Familiengeschichte geschah. Deswegen löste Holocaust eine Diskussion um die grundsätzliche Darstellbarkeit von Geschichte und eine Kontroverse über die Trivialisierung des Holocaust durch Medienprodukte aus. Die fiktionale Darstellung der jüdischen Opferperspektive auf den Nationalsozialismus wurde weltweit verbreitet und ausgestrahlt und fand insgesamt ca. 500 Mio. Zuschauer (Thiele 2001, S. 318). Mit der weltweiten Ausstrahlung von Holocaust gelangten die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in den Fokus einer breiten öffentlichen Diskussion sowie verstärkt auch in den der Zeitgeschichtsforschung. In ihrer Folge wird eine zunehmend universale Erinnerungskultur konstatiert, in der die weltweite Rezeption von Holocaust als eine der prägendsten kollektiven Erfahrungen gewertet wird (Marchart et al. 2003).
Durch ihre weltweite Ausstrahlung wurde die Fernsehserie zu einem Medienereignis zwischen globaler Erinnerungskultur und nationaler Vergangenheitsaneignung: Holocaust wurde außerhalb des nationalen bundesdeutschen Medienverbundes hergestellt und traf als externe Intervention in die bundesdeutsche Erinnerungskultur (Uhl 2003). Wie wurde in der Bundesrepublik mit dieser aus den USA stammenden Rekonstruktion der historischen Ereignisse umgegangen?
Holocaust wird hier nicht als ein ästhetisches Objekt, sondern vielmehr werden die Serie und ihre bundesdeutsche Erstausstrahlung im Januar 1979 als ein soziales Ereignis betrachtet. Dabei stehen die Akteure, die an diesem beteiligt waren, im Fokus. Um die Fernsehserie und ihre Ausstrahlung als ein soziales Ereignis betrachten zu können, werden Ansätze zur Untersuchung kultureller Repräsentationen des Holocaust und zur sozialwissenschaftlichen Filmanalyse herangezogen. Diese Ansätze tragen der Relevanz der Kontexte und der beteiligten Akteure sowohl bei der Produktion von kulturellen Repräsentationen des Holocaust als auch bei deren Rezeption Rechnung. Demnach sind in der Untersuchung einer filmischen Rekonstruktion des Holocaust der Wahrnehmungskontext, die Produktion und die Rezeption zu berücksichtigen. Der Wahrnehmungskontext von Holocaust im Jahr 1979 wird aus dem allgemeinen Erinnerungsdiskurs, den ästhetischen Implikationen für die Darstellung des Holocaust und den vor 1979 erfolgten Vergegenwärtigungen von Nationalsozialismus und Holocaust im bundesdeutschen Film und Fernsehen gebildet. Um Aussagen über den Produktionsprozess der deutschen Version von Holocaust formulieren zu können, werden Akten und Quellen zur Produktionsgeschichte aus dem Historischen Archiv des WDR sowie zeitgenössische Texte der beteiligten Akteure des WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung herangezogen. Deren Intentionen und Motivationen sind von besonderem Interesse, denn so können Indizien für die in Holocaust angelegten zeitgenössisch primär intendierten Rezeptionen gewonnen werden. Die Rezeption von Holocaust in der Bundesrepublik wird auf zwei Ebenen berücksichtigt. Zum einen wird anhand vorliegender quantitativer und qualitativer Studien der Presseberichterstattung und der Pressedokumentation des Historischen Archivs des WDR der Verlauf der Presseberichterstattung zu Holocaust nachgezeichnet. Zum anderen werden anhand der im Historischen Archiv des WDR dokumentierten spontanen Zuschauerreaktionen und der vom WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung in Auftrag gegebenen Begleituntersuchung ausgewählte Ergebnisse der zeitgenössischen Zuschauerrezeption dargelegt.
Die Frage nach den konkreten Auswirkungen und Folgen der Serie und ihrer Ausstrahlung auf die bundesrepublikanische Erinnerungskultur kann hier allerdings nicht weiter verfolgt werden. Die zentrale Frage lautet vielmehr, welche Perspektive auf den Nationalsozialismus und den Holocaust mit der deutschen Erstausstrahlung von Holocaust im Jahr 1979 wie und zu welchem Zweck gefestigt und vermittelt werden sollte und wie diese rezipiert und bewertet wurde.
2. Erinnerungskultur und Gedächtnis
Mit dem Begriff Erinnerungskultur ist im Laufe der 1990er Jahre im Deutschen ein alternativer Begriff zu Interner Link: Vergangenheitsbewältigung aufgekommen. Erinnerungskultur meint die gesellschaftliche, nicht spezifisch wissenschaftliche Vergegenwärtigung und Aneignung von historischen Ereignissen und umfasst ästhetische, politische und kognitive Formen bewusster (sozialer) Erinnerung, deren Träger Individuen, soziale Gruppen und/oder Staaten sein können (Cornelißen 2003; Hockerts 2002, S. 41). Die Vergangenheit wird dabei immer aus einer spezifischen Gegenwart und gemäß deren Bedürfnissen und Bedeutungsrahmen vergegenwärtigt. Dementsprechend existieren gleichzeitig mehrere, möglicherweise auch konkurrierende, Erinnerungsgemeinschaften, welche die Vergangenheit unterschiedlich deuten. Diese Vergangenheitsdeutungen werden in konkreten Erinnerungsakten bzw. Erinnerungsereignissen sichtbar, die medial repräsentiert werden. So kann ein sozial geteiltes Wissen über die Vergangenheit entstehen, welches sich in Repräsentationen manifestiert (Erll 2003). Die Erinnerungskultur des Nationalsozialismus und des Holocaust unterteilt Reichel (2004 & 2001) in vier Handlungsfelder, die in einem Wechselverhältnis zueinander stehen: das politisch-juristische, das der öffentlichem Memorialkultur, das der Zeitgeschichtsforschung und das der ästhetischen Kultur. Vor allem den populärkulturellen Darstellungen von Film und Fernsehen schreibt er eine wichtige Bedeutung zu, da insbesondere sie zeitspezifische Deutungen von Nationalsozialismus und Holocaust produzieren und vermitteln.
2.1 Die soziale Bedingtheit der Erinnerung
Die Konzeption der Erinnerungskultur geht zurück auf die Aneignung der Arbeiten von Maurice Halbwachs und Aby Warburg. Der Soziologe Halbwachs und der Kulturwissenschaftler Warburg begreifen das Gedächtnis – allerdings mit unterschiedlichen Fragestellungen – als soziales Phänomen und entwickelten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Konzepte des "sozialen Gedächtnis" (Warburg) und "kollektiven Gedächtnis" (Halbwachs) (Erll 2005; Cornelißen et al. 2003; Oexle 1995). Verschiedene Aspekte beider Konzeptionen werden von Jan Assmann (1995 & 1999) aufgegriffen und in seinem Terminus des "kulturellen Gedächtnis" zusammengeführt.
Maurice Halbwachs Konzeption des kollektiven Gedächtnisses
Grundlegende Annahme von Halbwachs (1966 & 1967) ist die soziale Bedingtheit der Erinnerung und er geht der Frage nach der Rolle von sozialen Gruppen in Prozessen der Vergegenwärtigung von Vergangenheit nach. Er geht davon aus, dass es "kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugrahmen [gibt], derer sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wieder zu finden" (1966, S. 121).
Gedächtnis, so formuliert Jan Assmann (1999, S. 35f. & S. 59) in Anlehnung an Halbwachs, bildet der Mensch erst im Verlauf von Sozialisationsprozessen aus. Dabei ist die Teilhabe des Individuums an Kommunikation und sozialen Situationen maßgeblich, denn als sozialer Ordnungsparameter wird Gedächtnis erst durch die Interaktion mit anderen vermittelt. Der organische Träger von Erinnerung und Gedächtnis ist das Individuum, soziale Rahmen ordnen und formen jedoch die Erinnerungen und das Gedächtnis des Individuums:
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Es würde in diesem Sinne ein kollektives Gedächtnis und einen gesellschaftlichen Rahmen des Gedächtnisses geben, und unser individuelles Denken wäre in dem Maße fähig sich zu erinnern, wie es sich innerhalb dieses Bezugsrahmens hält und an diesem Gedächtnis partizipiert.
Ein solches Gedächtnis ist geprägt und geformt durch (kollektive) gesellschaftliche Akteure und wird erst durch sie hergestellt. Das Individuum erinnert sich an das, was von anderen mit Bedeutung versehen wird, also im Zusammenhang mit sozial bestimmten Bedeutungsrahmen (Assmann, Jan 1999, S. 36; Oexle 1995, S. 23). Diese Rahmen legen soziale Gruppen durch Selektion und Rekonstruktion fest, wodurch ein soziales Konstrukt entsteht, welches Halbwachs als kollektives Gedächtnis bezeichnet (1967, S. 63). Demnach ist das kollektive Gedächtnis aber nicht als eine Vergegenwärtigung faktischer Ereignisse zu verstehen, sondern als eine soziale Rekonstruktion, die aus den Bedürfnissen sozialer Gruppen in der jeweiligen Gegenwart entsteht und in dem sich Identität und Selbstbild von Gesellschaften widerspiegeln (Miller 1990, S. 89ff.; Halbwachs 1966, S. 22f. & 1967, S. 55).
Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis
Der rekonstruktive Charakter des kollektiven Gedächtnisses nach Halbwachs verweist darauf, dass weder Auswahl noch Deutung individuelle Leistungen sind, sondern dass
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das Gedächtnis (...) einer Gruppe [entwächst], deren Zusammenhalt es stiftet (…); das Gedächtnis ist (…) kollektiv, vielheitlich und doch individualisiert. (...) Das Gedächtnis haftete am Konkreten, im Raum, an der Geste, am Bild und Gegenstand.
Mit den Konzepten des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses haben Aleida und Jan Assmann zwei Bereiche der Außendimensionen sowie zwei Modi Memorandi des kollektiven Gedächtnisses ausgearbeitet, um die Formen kommunikativer und kultureller Vergegenwärtigung von Vergangenheit darzustellen (Assmann, Aleida 2003a; Assmann, Jan 1999, S. 20f. & S. 48).
Das kommunikative Gedächtnis: Individuum und Generation
Sprache und Kommunikation werden als ein Bereich der Außendimension des menschlichen Gedächtnisses bezeichnet (Assmann, Jan 1999, S. 20). Jan Assmann zufolge ist das kommunikative Gedächtnis gekennzeichnet "durch ein hohes Maß an Unspezialisiertheit, Rollenreziprozität, thematischer Unfestgelegtheit und Unorganisiertheit" (Assmann, Jan 1988, S. 10) und existiert durch die interaktive Beziehung zwischen Individuum und sozialen Gruppen bei der Vergegenwärtigung von Vergangenem. Die im kommunikativen Gedächtnis enthaltenen Erinnerungen beziehen sich auf die rezente Vergangenheit und werden vom Individuum mit seinen Zeitgenossen geteilt. "Dieser allein durch persönlich verbürgte und kommunizierte Erfahrung gebildete Erinnerungsraum" (Assmann, Jan 1999, S. 50) umfasst drei bis vier Generationen. Dieses Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft ist an lebendige Träger gebunden, wächst der Gruppe historisch zu und weicht einem neuen kommunikativen Gedächtnis, wenn die Träger gestorben sind. Sein Zeithorizont bewegt sich entsprechend der jeweiligen Gegenwart und es "kennt keine Fixpunkte, die es an eine sich mit fortschreitender Gegenwart immer weiter ausdehnende Vergangenheit binden würden" (Assmann, Jan 1988, S. 11). Erst wenn mit dem Ende eines Generationengedächtnisses Erinnerungen verloren zu gehen drohen, die bewahrenswert scheinen, wird es historisch bedeutsam: Lebendige, kommunizierte Erinnerung des informellen kommunikativen Gedächtnisses muss in erinnerte Erinnerung des institutionellen kulturellen Gedächtnisses transformiert werden. Denn nur eine organisierte und zeremonielle Kommunikation über die Vergangenheit – also deren kulturelle Formung – ermöglicht eine dauerhafte Fixierung der Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses und deren Weitergabe (Assmann, Jan 1991).
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In diese Situation kommt seit ungefähr 10 Jahren jene Generation für die (...)[der Holocaust] Gegenstand persönlicher traumatischer Erfahrung ist. Was heute noch lebendige Erinnerung ist, wird morgen nur noch über Medien vermittelt sein.
Das kulturelle Gedächtnis: Institutionen, Medien, Deutungen
Jan Assmann greift Halbwachs Konzeption des kollektiven Gedächtnisses als soziale Konstruktion und kulturelle Schöpfung auf und führt sie mit Aspekten des sozialen Gedächtnisses von Aby Warburg zusammen. Nach Warburg wird gemeinsam erinnertes Wissen in Gestalt kultureller Formen objektiviert. Diese Handlungen (z.B. Rituale) und Objekte (z.B. Denkmäler) erfüllen nicht nur einen instrumentellen Zweck, sondern verweisen darüber hinaus auch auf eine Sinnbedeutung (Assmann, Jan 1999, S. 21 & S. 58ff.; Oexle 1995, S. 25). Jan Assmann entwickelt vor dem Hintergrund dieser Konkretisierung den Terminus des kulturellen Gedächtnisses. Darunter versteht er den
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jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümliche[n] Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und Riten (...) in deren 'Pflege' sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt (…) [Das kulturelle Gedächtnis ist] ein kollektiv geteiltes Wissen, vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das die Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.
Während für das kommunikative Gedächtnis ein enger Zeithorizont und Alltagsnähe charakteristisch ist, bezieht sich das kulturelle Gedächtnis auf als bedeutend gekennzeichnete Fixpunkte, die durch institutionalisierte Kommunikation und kulturelle Formung in das kollektive Erinnerungsgebäude eingefügt und wach gehalten werden. Das kulturelle Gedächtnis – verstanden als Erinnerungsfiguren und Wissensbestände mit wesentlicher Bedeutung für die Ausbildung einer Identität der Wir-Gruppe – bezieht sich immer auf die jeweilige Gegenwart, die "sich dazu in aneignende, auseinandersetzende, bewahrende und verändernde Beziehung" (Assmann, Jan 1988, S. 13) setzt. Es ist ein Gedächtnis der kalkulierten Auswahl und beruht auf symbolischen Formen. Diese konservieren, generalisieren und vereinheitlichen die Erinnerungen und ermöglichen deren Tradierung über die Grenzen der Generationen. Das kulturelle Gedächtnis ist ein Gedächtnis mit geformten, kodifizierten und verbindlichen Erinnerungsgehalten (Assmann, Aleida 2000, S. 22) und es "zählt nicht faktische, sondern nur erinnerte Geschichte" (Assmann, Jan 1999, S. 52).
Folgt man der Konzeption des kulturellen Gedächtnisses von Aleida und Jan Assmann (1994), so ist dessen Funktion auf die Sicherung einer kollektiven Identität ausgerichtet. Dessen Vergangenheitsaneignung ist dynamisch, weil es rekonstruktiv und selektiv bestimmte Aspekte als bedeutsam und sinnvoll für das Identitätskonzept bestimmter Kollektive definiert und "es ist verbindlich, indem es eine klare Wertperspektive (…) etabliert" (Bering 2001, S. 331).
2.2 Medien der Erinnerungskultur
Während die Medien des kommunikativen Gedächtnisses vorrangig interpersonale Kommunikation und Interaktion sind, basiert das kulturelle Gedächtnis auf einer Fülle medialer Repräsentationen und künstlerischer Objektivationen (Assmann, Jan 1999, S. 20ff. & S. 50ff.), es ist also ein geformtes, externalisiertes und mediengestütztes Gedächtnis. Diese Medien erweitern den Radius der Zeitgenossenschaft, weil nachgeborene Generationen durch sie mit historischen Ereignissen konfrontiert werden können (Assmann, Aleida & Frevert 1999, S. 49ff.; Assmann & Assmann 1994, S. 120).
Versteht man, wie Erll (2004, S. 12) im Anschluss und als Erweiterung der Konzeption von Medien des Gedächtnisses von Jan und Aleida Assmann, ein Medium grundlegend als etwas, das etwas vermittelt, dann spielen bei der Untersuchung von Medien aus erinnerungskultureller Perspektive Aspekte wie Kommunikationsinstrumente, Medientechnologien, Institutionalisierung und konkrete Medienangebote eine Rolle. Denn "erst in dem Zusammenspiel von solchen (…) medialen und sozialen Phänomenen konstituiert sich ein Medium des kollektiven Gedächtnisses" (Erll 2004, S. 13). Dabei kann mit einer sozialen Institutionalisierung eines Medienangebots dessen Funktionalisierung als Erinnerungsangebot einhergehen (Schmidt 2000, S. 109f.). Entscheidend ist letztendlich der Verwendungszusammenhang, denn nur durch die Zuschreibung einer erinnerungskulturellen Funktion kann ein spezifisches Medienangebot als ein Medium des kollektiven Gedächtnisses bezeichnet werden. Diese Zuschreibung kann von Produzenten- und/oder von Rezipientenseite aus erfolgt, die aktiv an der Konstruktion und Verbreitung spezifischer Vergangenheitsversionen beteiligt sind. Diese Rekonstruktionen vollziehen sich immer in spezifischen historischen und kulturellen Kontexten und das Aufeinanderbezogensein der verschiedenen Medienangebote trägt zur Konstituierung des jeweiligen Erinnerungsdiskurses bei (Erll 2004, S. 17f.).
Film und Fernsehen als Medien der Erinnerungskultur
Zu den wichtigsten Medien des kulturellen Gedächtnisses zählen Aleida Assmann und Ute Frevert (1999, S. 49f.) neben literarischen Texten und Kunstwerken auch Filme und das Fernsehen. Die Bedeutung von Film und Fernsehen für die Konstruktion von Geschichte, die Erinnerungskultur und die Herausbildung eines historischen Bewusstseins gerät zunehmend in den Blick, weil davon ausgegangen wird, dass sie die Wahrnehmung, Deutung und Erinnerung historischer Ereignisse prägen und strukturieren sowie als Vermittler zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fungieren (Kansteiner 2003; Wende 2002b; Hickethier 1997). Vor allem bei der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit müssen die Massenmedien seit 1945 als eigenständige Akteure der Erinnerungskultur verstanden werden und insbesondere populärkulturelle Holocaust-Filme bilden aufgrund des Fehlens eigener Erfahrungen einen wichtigen Bezugspunkt für die nach 1945 Geborenen (Wilke 1999; Riederer 2003, S. 90).
Filme und Fernsehbeiträge über historische Ereignisse können als Erinnerungsangebote verstanden werden, denn sie haben neben ihrer Informations-, Bildungs- und Unterhaltungsfunktion auch eine Erinnerungsfunktion (Assmann & Assmann 1994, S. 140): Sie sind sowohl Speicher- als auch Verbreitungsmedium, fungieren als öffentliche Träger von Diskursen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und wirken so als Schwelle zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis (Jackob 2004, S. 20; Koch, Gertrud 2002, S. 412). Dabei sind sie keine neutralen Vermittler der Vergangenheit, sondern sie konstruieren "einen Wahrnehmungs- und Deutungsrahmen, innerhalb dessen Menschen Geschichte wahrnehmen und sozialen Sinn konstruieren" (Riederer 2003, S. 94).
Die herausragende Stellung von Film und Fernsehen als Medien des kulturellen Gedächtnisses wird vor allem damit begründet, dass die "Präsentation historischer Stoffe in Tönen und bewegten Bildern (…) bestechende Möglichkeiten [bietet], die kein gedruckter Text erreichen kann" (Hockerts 2002, S. 66) und beruht insbesondere auf der Wirkmächtigkeit der Film- und Fernsehbilder (Winter 1992, S. 59ff.). Die Besonderheit des Fernsehens als televisuellem Medium liegt in seiner hohen Wirklichkeitsillusion und in seinem Live-Charakter begründet. Diese lassen die dargestellten Ereignisse authentisch wirken und erwecken den Eindruck der mehr oder weniger direkten Teilnahme. Authentizität als Funktion des Bildes begründet die hohe Glaubwürdigkeit der audiovisuellen Medien und insbesondere des Fernsehens (Schulze 2004, S. 62). Weiterhin wird davon ausgegangen, dass Bilder die affektive Beteiligung steigern und so Interesse geweckt wird (Brosius 1995, S. 123ff.).
Die Funktionalität von Film und Fernsehen für die Erinnerungskultur liegt nach Hockerts darüber hinaus in ihrer immanenten Struktur, denn gegeben sei hier die
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Tendenz zur Emotionalisierung (…). Bilder und Töne (…) haben eine große sinnliche Evidenz (…). Zur Emotionalisierung gesellt sich Personalisierung. Das bewegte Bild braucht Aktion, und da Strukturen nicht handeln können, sieht man handelnde Personen.
Darüber hinaus sprechen drei weitere Gründe dafür, Film und Fernsehen als Medium des kulturellen Gedächtnisses und damit als Geschichtsmedium zu berücksichtigen. Erstens hält insbesondere das Fernsehen durch Wiederholungen von televisuellen Geschichts(re)konstruktionen historische Ereignisse im kollektiven Gedächtnis lebendig, zweitens erreicht es eine breite Bevölkerung und drittens kann es als die wichtigste Quelle für Informationen über historische und zeitgeschichtliche Themen für alle Altersgruppen gelten (Kansteiner 2004a; Klinger et al. 1999).
Erinnerungskulturelle Akteure
Aufgrund der den Film- und Fernsehbildern zugeschriebenen Wirkmächtigkeit wurde die These aufgestellt, dass Geschichtsfilme "für breite Bevölkerungsmassen nationale Geschichte [interpretieren], sie organisieren das öffentliche Gedächtnis und homogenisieren die Erinnerung" (Kaes 1987, S. 207). Kritisch zu bemerken ist jedoch, dass so zu verallgemeinernd und zu kurz greifend von Repräsentationen des kulturellen Gedächtnisses auf die Inhalte eines kollektiven Gedächtnisses geschlossen wird bzw. Film- und Fernsehinhalte als Inhalte eines kollektiven Gedächtnisses gelesen werden. Dabei werden die vielschichtigen Rezeptionsprozesse – einerseits der Presse, die durch ihre Berichterstattung als Multiplikator von Deutungen verstanden werden kann, andererseits der Zuschauer und der sie leitenden Faktoren – nicht berücksichtigt. Vielmehr wird aus der ausschließlichen Fokussierung auf die Wirkmächtigkeit von Film- und Fernsehbildern die implizite Annahme ersichtlich, dass eine unmittelbare Beziehung zwischen Darstellung und Rezeption besteht (Kansteiner 2004, S. 132; von Hugo 2003, S. 455f.; Brandt 2001, S. 260f.). Anzumerken ist, dass neben den komplexen Rezeptions- auch die Produktionsprozesse in ihren spezifischen historischen Kontexten häufig vernachlässigt werden und es erscheint notwendig, die "Entstehung, Vermittlung und (…) Aneignung der so tradierten Vergangenheitsdeutungen einer eingehenden (…) Untersuchung" (Wierling 2001, S. 3) zu unterziehen. Dies scheint geboten, denn wie Heinrich (2000) am Beispiel der Erinnerung an den militärischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus zeigen kann, sind die Vergangenheitsrekonstruktionen des kulturellen Gedächtnisses und individuelle Vergangenheitsvorstellungen nicht kongruent. Gerade weil die Konzeption des kulturellen Gedächtnisses von Aleida und Jan Assmann (1994) dessen rekonstruktiven und perspektivischen Charakter aus der jeweiligen Gegenwart betont, erscheint es notwendig, den Blick auf die Akteure in der Erinnerungskultur zu richten: Denn Produzenten und Rezipienten von Erinnerungsangeboten sind die Hauptakteure in dem sozialen Prozess der Rekonstruktion und Deutung von Vergangenheit (Kramer 2003, S. 9; Assmann, Aleida 2002,S. 234; Giesen 2002).
2.3 Untersuchung erinnerungskultureller Rekonstruktionen des Holocaust
Unter dem herausgestellten Aspekt, dass die Vergegenwärtigung der Vergangenheit eine zeitabhängige Rekonstruktionsarbeit ist, die sowohl von den Produzenten als auch den Rezipienten der Erinnerungsangebote aktiv geleistet wird, bieten die Arbeiten von James E. Young (1997 & 1992a & 1992b) eine grundsätzliche Orientierung zur Betrachtung der Erstausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust in der Bundesrepublik im Jahre 1979. Young beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit der Frage, welche Akteure in welcher Darstellungsform aufgrund welcher Motivationen den Holocaust künstlerisch bearbeiten. Da das reale Geschehen letztlich nur in kulturellen Rekonstruktionen vorhanden ist, ist die Erinnerung an den Holocaust auf Repräsentationen angewiesen (Young 1992a, S. 14ff.). Um den Konstruktionsprozess von Erinnerung beschreiben zu können, hat Young den Begriff "Textur der Erinnerung" entwickelt und ihn auf literarische, dokumentarische und biographische Texte sowie auf Denkmäler, Gedenkstätten und Filme angewendet (Young 1992a). Er demonstriert, dass immer spezifische politische und nationale, religiöse und ästhetische Koordinaten die Formen der Erinnerung bestimmen und dass sich die kulturellen Rekonstruktionen als Einzelphänomene erst aus ihrer Einbettung in einen größeren kontextuellen Zusammenhang erkennen lassen (Young 1992b, S. 214.). Vier Dimensionen der Textur der Erinnerung sind demnach für die Betrachtung einer kulturellen Rekonstruktion des Holocaust von Bedeutung:
Die erste Dimension besteht im Kontext von Ort und Zeit ihrer Entstehung. Als Repräsentation des kulturellen Gedächtnisses ist sie Ausdruck eines Zeitgeists und steht in ihrem spezifisch historischen Entstehungszusammenhang der jeweiligen Gegenwart. Der Entstehungsprozess kann Hinweise auf das spezifische Verständnis der realen Geschehnisse und die daraus folgende kulturelle Rekonstruktion liefern (Young 1992a, S. 282 & 1992b, S. 214ff.). Ihre Stellung in der Konstellation der nationalen Erinnerung als zweite Dimension der Textur der Erinnerung ist von Bedeutung, denn diese beeinflusst die Motivationen der Akteure und die Darstellungsformen. Die Akteure müssen demnach ihre Position im zeitgenössischen Diskurs über die ästhetischen Strategien der Rekonstruktion des Holocaust bestimmen, denn jede Repräsentation ist nur als Teil einer komplexen Erinnerungskultur zu verstehen und steht in Relation zu bereits vorher erfolgten Vergegenwärtigungen des Holocaust (Young 1992a, S. 268 & 1992b, S. 214ff.). Als dritte Dimension ist ihre Präsentation und Diskussion unter spezifischen zeitgeschichtlichen und politischen Realitäten zu nennen. Es lässt sich beschreiben, woran genau hier erinnert wird, was der historische Kontext ist und was die Vergangenheit heute hier bedeutet (Young 1997, S. 45). Da politische und administrative Entscheidungsträger die Entscheidungen darüber treffen, welche potentiellen Vergegenwärtigungen der Vergangenheit realisiert werden, kann gefragt werden, aufgrund welcher Motive und Intentionen sie spezifische Erinnerungswerte zum Inhalt öffentlicher Geschichtserinnerung bestimmen und diese historisch-politisch für das Gemeinwesen manifestieren (Zifonun 2004). Als vierte Dimension kann die Rezeption verstanden werden. Das Rezeptionsangebot wird von den Rezipienten jeweils neu interpretiert und die Vergegenwärtigung der Vergangenheit wird zwangsläufig erst durch den Rezipienten vollendet (Young 1992, S. 279). Eine Vergegenwärtigung der faktischen Ereignisse durch den Rezipienten lässt sich jedoch nicht von seinen spezifisch historischen und sozialen Rahmensetzungen lösen, durch die seine Wahrnehmungen und Erinnerungen erst eine Form erhalten (Young 1992b).
Film und Fernsehen als soziale Erzeugnisse
Die Arbeiten von Young bieten für die Betrachtung der deutschen Erstausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust eine erste Orientierung, weil er sich grundsätzlich mit allen künstlerischen Rekonstruktionsformen des Holocaust beschäftigt. Bei Holocaust handelt es sich um eine audiovisuelle Repräsentation und so werden weiterhin medientypische Spezifizierungen vorgenommen. Diese erfolgen in Anlehnung an theoretische Modelle der Filmanalyse von Korte (1997), der ein Modell zur zeitgenössischen Wahrnehmung und Wirkung von Filmen liefert, und Dörner (1998), der im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Filmanalyse den Film nicht als ein ästhetisches Objekt, sondern vielmehr als ein komplexes soziales Produkt betrachtet. Sowohl Korte als auch Dörner schlagen drei Untersuchungsdimensionen von Filmen vor:
(1) Den zeitgenössischen Wahrnehmungshintergrund. Ein Film oder ein Fernsehbeitrag soll grundsätzlich nicht isoliert betrachtet werden, da er kein unabhängiges kulturelles Produkt ist, sondern in ein mediales Gesamtgefüge eingebettet ist und in einer spezifischen Beziehung zu anderen Filmen mit gleicher Thematik steht. Zu fragen ist, welche Bezüge sich zwischen diesem medialen Kontext und dem Untersuchungsobjekt feststellen lassen, denn erst die Berücksichtigung des thematischen Gesamtgefüges lässt Schlüsse über die Bedeutungen des jeweiligen Beitrags in seinem medialen Kontext zu (Korte 1997; Dörner 1998; Winter 1992, S. 80f.).
(2) Die Produktion und das Produkt. Produzenten und Distributoren von Filmen und Fernsehbeiträgen sind zu beachten, da sie Hersteller von Öffentlichkeit sind. Als eine Funktion von Filmen und Fernsehsendungen gilt die Bedeutungsproduktion für die Rezipienten (Ferro 1991; Mikos 2003, S. 53ff.). Die Kommunikation des Fernsehens ist durch seine Adressierung an ein bestimmtes Publikum oder mehrere Publika bestimmt und während des Produktionsprozesses von Filmen und Fernsehsendungen werden die Intentionen der Produzenten und Distributoren wirksam, die ihre Produkte für ein bestimmtes Publikum mit bestimmten sozialen Eigenschaften herstellen (Mikos 2003, S. 53ff.; Dörner 1998, S. 201ff.). Filmen und Fernsehsendungen sind demnach "Sinngehalte zu entnehmen, die ihre Produzenten – im Blick auf ihre Publika – in sie 'hineingesteckt' haben" (Willems 2000, S. 219). Ermittelt werden soll also das zeitgenössisch dominante Rezeptionsangebot.
(3) Die Rezeption. Jeder Film und jede Fernsehserie hat nur potentielle Bedeutungen und wird letztendlich erst durch die Rezeption vervollständigt (Korte 1997; Dörner 1998; Winter 1992, S. 69ff.). Wichtig ist es, grundlegend von einem aktiven Rezipienten auszugehen. Den Printmedien als Mittler zwischen dem Medium Fernsehen und dem Publikum kommt eine besondere Rolle zu: Zum einen bieten sie ihren Lesern Orientierungshilfen und zum zweiten besitzen sie die Möglichkeit, die Entwicklung der Meinungsbildung durch ihre Thematisierungsfunktion gemäß des Agenda-Setting-Ansatzes zu beeinflussen (Bonfadelli 2004, S. 237ff.; Böhme-Dürr 1999.). So wird hier davon ausgegangen, dass das Medium Presse als ein Teilsystem im Gesamtsystem Massenkommunikation zu den Gesprächs- und Zeitthemen einer Gesellschaft beiträgt und journalistische Akteure dementsprechend als Multiplikatoren von Meinungen und Deutungen verstanden werden können (Kramer 2003).
Festgehalten werden soll, dass audiovisuelle Vergangenheitsrekonstruktionen visuelle Fiktionen und immer zeitabhängige Deutungen der Vergangenheit sind (Paul 2003, S. 4). Deshalb erhalten die zeitgenössischen Produktionsberichte, Pressereaktionen und Rezeptionsdokumente eine Bedeutung für die Rekonstruktion der spezifischen Vergangenheitskonstitution zum Entstehungszeitpunkt des jeweiligen Films. Ausgehend von diesen Annahmen kann weiterhin festgehalten werden, dass "Film [und] Publizistik im weitesten Sinne Geschichte [schreiben], die Bilder und Argumente [liefern], die unser individuelles Erinnern ebenso bestimmen wie das, was wir inzwischen als das kollektive Gedächtnis (...) bezeichnen" (Thiele 2001, S. 60).
3. Der Wahrnehmungskontext von Holocaust
Wie herausgestellt, steht eine kulturelle Repräsentation des Holocaust in einem spezifisch historischen Entstehungszusammenhang. Dieser ist zunächst geprägt durch die allgemeine gesellschaftliche Vergegenwärtigung von Nationalsozialismus und Holocaust. Bei der audiovisuellen Rekonstruktion des Holocaust spielen Debatten um die ästhetischen Strategien und Fragen nach der Darstellbarkeit des Holocaust eine Rolle. Zusätzlich wirken vorher erfolgte kulturelle Rekonstruktionen auf die Wahrnehmung und Bewertung der spezifischen Rekonstruktion ein.
3.1 Gesellschaftliche Vergegenwärtigung von Nationalsozialismus und Holocaust in der Bundesrepublik
Die deutsche Erinnerungsgeschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust lässt sich in mehrere idealtypische Phasen einteilen (König 2003, S. 23ff.).
Die erste Phase zwischen dem Ende des Interner Link: Zweiten Weltkrieges und der Interner Link: Gründung der Bundesrepublik 1949 war zunächst durch die alliierte Herrschaft gekennzeichnet, welche die deutsche Bevölkerung mit der Frage nach ihrer Verantwortung für die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen konfrontierte. Unter ihr fanden die Interner Link: Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozesse statt und in den Interner Link: Nachfolgeprozessen waren auch die Eliten aus Militär, Wissenschaft und Wirtschaft angeklagt (Reichel 2001, S. 42ff.). Die Beteiligung von breiten Bevölkerungskreisen in Militär und Verwaltung, in Osteuropa und in den Konzentrations- und Vernichtungslager am Holocaust kam kaum in den Blick, Verantwortung und Schuld der Deutschen wurden nur vage thematisiert. Dennoch ist diese Phase durch eine Schuld-Debatte charakterisiert, da der Interner Link: Begriff der Kollektivschuld kursierte (König 2003, S. 23; Kufeke 2002, S. 239).
In der zweiten Phase, die sich über die 1950er Jahre erstreckte, war die Vergangenheitspolitik zum einen gekennzeichnet durch Interner Link: Amnestie und Integration der Täter und Parteimitglieder der NSDAP, zum anderen grenzte sich die Bundesrepublik in ihrer offiziellen Selbstdarstellung deutlich vom Nationalsozialismus ab (Frei 2005, S. 30ff.; Reichel 2001, S. 108ff.). Im offiziellen Diskurs der Erinnerungsgeschichte spielten Begriffe wie Verantwortung, Schuld und Scham eine wichtige Rolle, die von der Bevölkerung jedoch weitestgehend externalisiert wurden (Assmann, Aleida 2003b, S. 135; Reichel 2001, S. 66ff.). Innerhalb der Bevölkerung dominierte eine Interner Link: Opferperspektive, die vor allem auf die Erfahrungen des Krieges – zumal bei Vertriebenen und Flüchtlingen – zurückging (van Laak 2002, S. 176f.).
Die dritte Phase leitete zu Beginn der 1960er Jahre mit dem Interner Link: Eichmann-Prozess (1961), dem in deutscher Verantwortung liegenden Interner Link: Auschwitz-Prozess (1963-65) sowie dem Heranwachsen einer jüngeren Generation die Phase der familialen, juristischen und historischen Aufklärung ein (Assmann, Aleida 2003b, S. 135; Kufeke 2002, S. 241). Durch die Prozesse wurden das Ausmaß der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, die Verwicklung der Eliten und weiter Teile der Bevölkerung in größerem Maße wahrgenommen und diese gerieten in das öffentliche Bewusstsein: Auschwitz wurde so zum Symbol und Inbegriff der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen (van Laak 2002, S. 182). Die bisherige Auseinandersetzung mit der Verantwortung der Deutschen für die nationalsozialistischen Verbrechen wurde als gesamtgesellschaftliches Problem begriffen und es gerieten zum einen die personellen Kontinuitäten in Politik, Verwaltung und Wissenschaft sowie die Integration der Täter und Parteigänger in die Kritik, zum anderen wurde die Frage nach dem individuellen Verhalten im Nationalsozialismus politisiert (König 2003, S. 31ff.; Kufeke 2002, S. 240).
Blieb die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bis in die späten 1970er Jahre auf die Tätergesellschaft fokussiert, in der aber wegen der Dominanz von allgemeinen Totalitarismus- und Kapitalismustheorien in der Analyse des Nationalsozialismus "die Frage nach der deutschen Gesellschaft und ihrer Rolle bei der Ingangsetzung der großen Massenverbrechen (…) keine Rolle" (Herbert 2003, S. 103) spielte, standen seit 1979 und der Fernsehserie Holocaust in dieser dritten Phase der bundesdeutschen Erinnerungsgeschichte die jüdischen Opfer für ein Jahrzehnt im Mittelpunkt. In den 1980er Jahren nahm sich die Bundesrepublik des Opfergedenkens an und neben der Personalisierung der Opferschicksale setzte eine stärkere Beschäftigung größerer Teile der deutschen Bevölkerung mit jüdischer Geschichte in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld ein (Kufeke 2002, S. 242f.).
Die vierte Phase ab 1989 lässt sich durch die Nationalisierung, die Mediatisierung und die Universalisierung bzw. Globalisierung der Erinnerung an den Holocaust charakterisieren (Assmann, Aleida 2003b, S. 135f.). Mit der Interner Link: deutschen Einheit 1990 kehrte der nationalstaatliche Referenzrahmen zurück und die Auseinandersetzungen wurden nun darum geführt, welcher Stellenwert und welche Gegenwartsrelevanz dem Nationalsozialismus und dem Holocaust zugesprochen werden (Kirsch 2000, S. 138). Am Ende der Zeitzeugenschaft muss die Vermittlung der Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust ohne direkte Begegnung mit Zeitzeugen auskommen und die Massenkultur wird endgültig zur Trägerin der Erinnerung (Levy & Sznaider 2001, S. 157). Den Massenmedien kommt eine auch entscheidende Bedeutung bei der Universalisierung und Globalisierung der Holocausterinnerung zu: So gilt die globale Ausstrahlung und Rezeption der Fernsehserie Holocaust als deren Meilenstein (Levy & Sznaider 2001, S. 131), da sie dem nationalsozialistischen Massenmord einen eigenen Namen gab und dieser neue Begriff "das Potential für transnationale, universale Bezugsrahmen" (Marchart et al. 2003, S. 309) eröffnete.
3.2 Darstellungsproblematik des Holocaust
Als zentrale Frage bei der kulturellen Rekonstruktion des Holocaust gilt die nach der generellen Darstellbarkeit der faktischen Ereignisse. Diese betrifft sowohl die künstlerischen Möglichkeiten als auch die moralische Achtung der Opfer (Bannasch & Hammer 2004, S. 9f.; Berg et al. 1996, S. 7ff.). Zwei zentrale Positionen stehen sich gegenüber. Zum einen die Forderung nach einem grundsätzlichen Bilderverbot, da durch die Erfahrung des Holocaust die Grenzen der Ausdrucks- und Verstehensmöglichkeit erreicht worden sind. So hält z.B. Claude Lanzmann die Erzählungen von Zeitzeugen als die einzig zulässige Form der Darstellung, weil jede andere Darstellungsform eine Trivialisierung und Verfälschung der faktischen Ereignisse nach sich zieht und somit die Singularität des Holocaust in Frage stellt. Gegner des Bilderverbotes vertreten dagegen die Überzeugung, dass Bilder für die Zuschauer eine große Glaubwürdigkeit besitzen und halten es für notwendig, mit kulturellen Repräsentationen wie Texten und Filmen die faktischen Ereignisse zu vermitteln (Oster & Uka 2003, S. 249f.; Thiele 2001, S. 33; Köppen & Scherpe 1997, S. 4).
Inzwischen tritt aber an die Stelle einer grundsätzlichen Problematisierung der generellen Darstellbarkeit des Holocaust eine verstärkte Reflexion über verschiedene Darstellungsformen, deren Rekonstruktion der faktischen Ereignisse sowie deren Konsequenzen (Schulz 2002, S. 173ff.; Krankenhagen 2001, S. 163ff.). Bei der Frage nach der Darstellungsform des Holocaust geht es um die Angemessenheit der Rekonstruktion im Hinblick auf die Opfer, wobei Angemessenheit und Authentizität als Maximen der Darstellung gelten (Martinez 2004, S. 8ff.; Köppen 2002, S. 310). Eine dokumentarische Darstellung scheint diese Maximen eher zu erfüllen als eine fiktionale, da sie scheinbar authentischer von den faktischen Ereignissen berichtet, vor allem wenn Zeitzeugen über ihre Erlebnisse berichten. Jedoch können auch Bilddokumente nicht als 'wahrhaftige' Zeugnisse vergangener Ereignisse gelten, die diese neutral wiedergeben, denn auch sie sind das Ergebnis von Inszenierungen und übermitteln den Blick desjenigen, der sie produziert hat (Schulz 2002, S. 166).
Die Diskussion um dokumentarische und fiktionale Darstellungen des Holocaust lässt sich auf zwei entgegen gesetzte Positionen zuspitzen: Zum einen können auf Emotionalisierung und Identifikation angelegte fiktionale Darstellungen – vermeintlich triviale massenmediale Repräsentationen – nicht an das Grauen der faktischen Ereignisse heranreichen, banalisieren diese somit unweigerlich und stellen die Singularität des Holocaust in Frage (Reichel 1999, S. 26ff.). Zum anderen haben Emotionalisierung und Identifikation aber das Potential, affektive Reaktionen wie Empathie, Sympathie und Trauer hervorzubringen und so gehört "insbesondere der Film zu den Massenmedien (…), der mit seinen neu erschaffenen Bildern, (…) unser kulturelles Gedächtnis bereichert und modifiziert" (Oster & Uka 2003, S. 253).
3.3 Vergegenwärtigung von Nationalsozialismus und Holocaust in Film und Fernsehen vor 1979 in der Bundesrepublik
Nach 1945 haben Film und Fernsehen als Medien der Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus und den Holocaust drei Entwicklungsphasen durchlaufen. Von 1945 bis ca. 1960 sieht Reichel (2004, S. 25) eine Entwirklichung der nationalsozialistischen Vergangenheit durch Abspaltung vom und einer Dämonisierung des Nationalsozialismus, ab 1960 eine Politisierung des Umgangs mit dem Thema in Film und Fernsehen gegeben. Die US-amerikanische Fernsehserie Holocaust ist für ihn der Marker für die ab Ende der 1970er Jahre einsetzende Emotionalisierung des Umgangs mit dem Nationalsozialismus und der ab dann als Holocaust bezeichneten Massenermordung der europäischen Juden, die sich vor allem durch die Fokussierung auf die individuellen Lebens- und Leidengeschichten der Opfer ausdrückt.
Dokumentarfilm in der unmittelbaren Nachkriegszeit
Die ersten öffentlich zugänglichen visuellen Zeugnisse der Massenermordung der europäischen Juden waren Fotografien. Nach der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager 1944 und 1945 durch die Alliierten veröffentlichte die Weltpresse Bilder von Massengräbern, Unmengen von Leichen und zu Skeletten abgemagerten Überlebenden, die eine Vorstellung von der großen Anzahl der Getöteten vermittelten (Brink 1998).
Ab Winter 1945 wurde die filmische Dokumentation der Massenermordung der europäischen Juden ein Bestandteil der Reeducation-Maßnahmen der Alliierten. In amerikanischen Wochenschauen wie Welt im Film wurde über die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und die Nürnberger Prozesse berichtet. Durch den ersten Dokumentarfilm der Amerikaner über die Konzentrations- und Vernichtungslager – Die Todesmühlen (1945) –, der im Winter 1945/46 mit über hundert Kopien in der amerikanischen und britischen Zone und in Berlin in die Kinos kam, wurde die deutsche Bevölkerung mit Bildern der Gewaltverbrechen konfrontiert (Reichel 2004, S. 162ff.; Hahn 1997). Dass die Deutschen die Verbrechen organisiert, durchgeführt und geduldet haben, spart der Film nicht aus, jedoch wird das Stichwort Antisemitismus vermieden und es wird auch nicht zwischen den einzelnen Opfergruppen differenziert (Hahn 1997, S. 102ff.). Obwohl die Authentizität und Glaubwürdigkeit der Bilder vom deutschen Publikum nicht bezweifelt wurden, überwiegen die Berichte über abwehrende Publikumsreaktionen, wobei vor allem auf die Leiden und Toten der Deutschen durch die alliierten Bombardierungen und während der Vertreibungen hingewiesen wurde. Eine kollektive Verantwortung der Deutschen für die Gewaltverbrechen wurde ebenso abgelehnt wie eine individuelle Schuld (Reichel 2004; S. 165; Hickethier 2003, S. 117; Hahn 1997, S. 110ff.).
Westdeutscher Film 1945 bis 1960
In den westdeutschen Spielfilmproduktionen der Jahre 1945 bis ca. 1960 dominiert die Selbst-Viktimisierung der Deutschen, die vor allem durch die Fokussierung auf das Individuum und seine individuellen Entscheidungen sowie die Darstellung von Nationalsozialismus und seinen Verbrechen aus der Perspektive der vom Krieg betroffenen deutschen Bevölkerung und Soldaten ermöglicht wird.
Trotz der dominierenden Darstellung individueller Schicksale und des privaten Bereichs, der ungeachtet aller Schwierigkeiten – wie z.B. der Heimkehrersituation, den Kriegserlebnissen und der wirtschaftlichen Situation der Nachkriegszeit – als Zufluchtsstätte erscheint, kann für die Spielfilmproduktionen der Jahre 1945 bis 1949 aber nicht festgestellt werden, dass sie grundsätzlich dem Nationalsozialismus ausgewichen wären. Dabei werden die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen aber höchstens am Rande thematisiert und bleiben schemenhaft. Sowohl die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen als auch die Täter bleiben anonym, wodurch die Deutschen als Opfer anonymer Mächte rehabilitiert werden können. So wurde vor allem das Bild der Deutschen als Schicksalsgemeinschaft vermittelt, über die Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust als Schicksal und Tragödie hereingebrochen ist (Hake 2002, S. 166ff.; Thiele 2001, S. 91f.; Pleyer 1965, S. 148ff.). Wenn in den Spielfilmproduktionen der Jahre 1945 bis 1949 jüdische Protagonisten auftreten, Antisemitismus und Verfolgung explizit thematisiert werden, lassen sich drei Topoi ausmachen: Erstens werden deutsche Figuren zur Identifikation angeboten, die sich durch ihre Menschlichkeit und Anständigkeit auszeichnen und weder Mitläufer oder gar Täter sind. Zweitens wird bei der Thematisierung von Verfolgung und Ermordung aus der Perspektive der Opfer für Versöhnung und Völkerverständigung plädiert und eine Kollektivschuld abgelehnt. Drittens sind in den DEFA-Produktionen Antisemitismus, Verfolgung und Ermordung der Juden nicht zentrale Handlungsmotive, sondern im Mittelpunkt steht die antifaschistische Tradition der Arbeiterbewegung (Thiele 2001, S. 94f.; Assmann, Aleida & Frevert 1999, S. 163ff.; Gallwitz 1999).
Im Kriegsfilm – neben dem Heimatfilm das dominante Filmgenre der 1950er Jahre – lassen sich zwei Stränge ab Mitte der 1950er Jahre ausmachen: zum einen die Thematisierung des militärischen Widerstands, zum anderen die 'Geschichte des jungen Wehrmachtssoldaten'. Ungeachtet ihrer spezifischen Darstellungsweise wird in diesen Spielfilmen der individuelle Konflikt der Protagonisten zwischen Befehlsgehorsam und Befehlsverweigerung thematisiert, wodurch der Gegensatz von der 'guten' Wehrmacht und den 'bösen' Nationalsozialisten angelegt sowie vom Krieggeschehen abstrahiert und dem Militärischen Menschlichkeit abgewonnen werden kann (Classen 2005; von Hugo 2003). Die Trennung zwischen den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen einerseits und den Soldaten andererseits ermöglicht die Darstellung der Soldaten als Opfer Hitlers, so dass der aus vielen Quellen entstandene Mythos von einer 'sauberen' Wehrmacht auch von den kulturellen Deutungen dieser Kriegsfilme mitgestaltet wurde (Reichel 2004, S. 36f.). 1959 erschien der erste westdeutsche Antikriegsfilm: Die Brücke von Bernhard Wicki. Die Geschichte um eine Gruppe 16-jähriger Schüler prägte aber vor allem das Bild einer verlorenen und verführten Kriegsjugend, da über die politischen Ursachen des Krieges kein Wort verloren wird. Diese Selbst-Viktimisierung verhinderte wiederum die Anerkennung der anderen Opfergruppen (Reichel 2004, S. 119ff.; Tschirbs 2003, S. 593). Ob nun Kriegs- oder Antikriegsfilm, im westdeutschen Kino der 1950er Jahre wurde die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg nicht thematisiert bzw. einer Clique führender Nationalsozialisten oder der SS zugeschrieben, deren Opfer die deutschen Soldaten waren. Der Zweite Weltkrieg wurde als Schicksal und Tragödie inszeniert, von den deutschen Soldaten nicht zu beeinflussen. So wurde in den westdeutschen Produktionen "insbesondere der Charakter des Vernichtungskrieges als Inkarnation nationalsozialistischer Politik (…) ausgeblendet" (von Hugo 2003, S. 472). Darüber hinaus durften viele ausländische Filme, die die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden thematisierten, in der Bundesrepublik nicht gezeigt werden oder wurden gekürzt. Auch Alain Resnais Dokumentarfilm Interner Link: Nacht und Nebel (Nuit et Bruillat 1955) durfte in der Bundesrepublik zunächst nicht gezeigt werden, wurde dann aber im Juli 1956 während der Berliner Filmfestspiele in der Bundesrepublik erstmals vorgeführt (Hickethier 2003, S. 118). In der halbstündigen Dokumentation werden Filmaufnahmen der Alliierten, die kurz nach der Befreiung der Konzentrationslager 1945 gefilmt wurden, mit dokumentarischen Bildern der zehn Jahre später verlassenen Lager verknüpft, wobei der Kommentar einen Überblick der Verfolgungs- und Lagergeschichte referiert (van de Knaap 2002). Täter und Opfer der Gewaltverbrechen werden in diesem einzigen Filmdokument der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in den westdeutschen Kinos der 1950er Jahre aber nicht eindeutig genannt, wodurch eine Tendenz zur Universalisierung der historischen Ereignisse gegeben ist, die "den Rezeptionsbedürfnissen in Deutschland durchaus entgegen" (Reichel 2004, S. 10) kam.
Fernsehen vor 1979
Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann unter der Administration der alliierten Siegermächte der Wiederaufbau des Rundfunks, Interner Link: aus dem in den 1950er Jahren das öffentlich-rechtliche Fernsehen hervorging (Hickethier 1998). Ähnlich wie im Kino dominierte im westdeutschen Fernsehen der 1950er Jahre die Selbst-Viktimisierung der Deutschen. Aufgrund seiner öffentlich-rechtlichen Organisation wird dem westdeutschen Fernsehen aber eine bedeutende Rolle in den Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus seit den 1960er Jahren zugeschrieben. Durch seine Nicht-Kommerzialität war das westdeutsche Fernsehen nicht wie die Filmwirtschaft auf den (Publikums-) Erfolg angewiesen und musste so weniger Rücksichten auf Befindlichkeiten des Publikums nehmen. Das Fernsehen wurde nun grundlegend als eine unabhängige und aufklärende Macht im Staat verstanden (Hickethier 1998, S. 64ff.; Keilbach 1999, S. 136).
In den 1950er Jahren wandte sich das Fernsehen dem Nationalsozialismus nur am Rande zu (Hickethier 2000, S. 98). Aufgrund der Anknüpfung an Darstellungsformen des Radios und Theaters sowie technischer Restriktionen standen lediglich einzelne Protagonisten im Mittelpunkt der Handlung und es wurden vor allem private und innere Konflikte widergespiegelt (Classen 2005; Keilbach 1999). Im Zusammenhang mit der Kriegserinnerung als zentralem Bezugspunkt der Erinnerungskultur in der Bundesrepublik der 1950er Jahre sieht Classen (2004) zwei Topoi in den Beiträgen des Fernsehens gegeben, die sich auch schon im Kriegsfilm der 1950er Jahre herauskristallisierten: Zum einen wurden mit der Figur des schuldig-unschuldigen Kriegsheimkehrers bzw. des in Kriegsgefangenschaft geratenen Soldaten die deutschen Soldaten als Opfer inszeniert. Zum anderen gestaltete sich die Frage nach Schuld und Widerstand als ein individueller Konflikt zwischen militärischem Gehorsam und Gewissen, in dem der Zusammenhang von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg nicht thematisiert wurde. Gegeben ist die Selbst-Viktimisierung der Deutschen und das gleichzeitige Bemühen um eine Distanzierung vom Nationalsozialismus, was in hohem Maße den mentalen und politischen Bedürfnissen der Bevölkerungsmehrheit entsprach. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden bleibt im bundesdeutschen Fernsehen eine Leerstelle, einzig explizit thematisiert wird sie wiederum durch Alain Resnais Dokumentarfilm Nacht und Nebel, der am 18.4.1957 im Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt wird (Classen 2005 & 1999).
Das deutsche Fernsehpublikum wurde dann im März 1960 erstmals im Rahmen des fiktionalen Fernsehmehrteilers Am grünen Strand der Spree (Fritz Umgelter, ARD) mit der Massenermordung der europäischen Juden konfrontiert. In der ersten Episode des Mehrteilers – Das Tagebuch des Jürgen Wilms – wird filmisch eine Massenerschießung osteuropäischer Juden gezeigt, die heftige und emotionale Reaktionen in der Presse hervorriefen, insbesondere aber die aufklärerischen Aspekte des Fernsehfilms guthießen (Hickethier 1980, S. 193f.; Koch, Lars 2002, S. 79f.; Seibert 2001). Diese Episode unterschied sich von den zu diesem Zeitpunkt dominanten Soldatenerinnerungen, weil sie in "bemerkenswerter Direktheit über die Verwicklung, Zeugen- und Mittäterschaft der deutschen Wehrmacht an Massenerschießungen und Pogromen gegen die osteuropäische jüdische Zivilbevölkerung" (Koch, Lars 2002, S. 79) berichtete. Letztendlich wird die eindringliche Darstellung der Massenermordung der Juden jedoch relativiert, eine Differenzierung zwischen Wehrmacht und SS vorgenommen, die die Opferrolle der Wehrmacht betont und die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen einer kleinen und fest umrissenen Tätergruppe zuschreibt (Hickethier 2003; Koch, Lars 2002).
Die verstärkte Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im bundesdeutschen Fernsehen in den 1960er Jahren stand in einem umfangreichen Zusammenhang mit der Thematisierung des Nationalsozialismus aufgrund tagespolitischer Aktualität sowie mit seiner in diesem Zeitraum vollzogenen Pädagogisierung und Politisierung. Das Fernsehen wandelte sich in seinem Selbstverständnis zu einem Medium, dass einen Bildungsauftrag gegenüber der bundesdeutschen Bevölkerung besaß und sich als ein Instrument der demokratischen Öffentlichkeit verstand. Insbesondere in den neu entstandenen politischen Magazinen wie Panorama (NDR) wich die eindimensionale Beschreibung der nationalsozialistischen Vergangenheit in Form von Geschichten über den Widerstand und Kriegserlebnissen einer kritischeren Betrachtungsweise und war eines der häufig wiederkehrenden Themen (Classen 2005, S. 114f. & 1999, S. 24ff.; Hickethier 1998, S. 171ff. & S. 216ff.). In den 1960er Jahren stellten Dokumentarfilme mehr als die Hälfte der Beiträge über den Nationalsozialismus (Classen 1999, S. 44). Insbesondere die 1960/61 ausgestrahlte 14-teilige Fernsehdokumentation Das Dritte Reich (SDR & WDR) trug nach Hickethier dazu bei, "dass sich (…) eine neue Haltung der deutschen Vergangenheit gegenüber durchzusetzten begann" (1998, S. 175). Diese erste Dokumentation stellt die wichtigsten Stadien der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs dar. Als ein "Meilenstein" (Lersch 2005, S. 76) gilt insbesondere die 8. Folge der Reihe, Der SS-Staat, die am 24.2.1961 erstmals im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Diese 55-minütige Folge behandelt zwar explizit die Judenverfolgung und -ermordung, setzt sich jedoch insbesondere ausführlich mit SS und SA auseinander. Diese erscheinen wiederum als kleine und fest umrissene Tätergruppen, wodurch die Frage um die Mitverantwortung der deutschen Bevölkerung umgangen wird (Lersch 2005; Zimmermann 2000, S. 64; Classen 1999, S. 89 & S. 115).
Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg wurden in den 1960er Jahren auch in fiktionalen Formen, vor allem dem Fernsehspiel, thematisiert. Hier standen allerdings nicht der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg selbst, sondern deren Folgen für die Gegenwart anhand individueller Geschichten im Mittelpunkt. Diese ermöglichten eine emotionale Darstellung, ignorierten aber die Darstellung von sozialen und politischen Voraussetzungen der historischen Ereignisse. Diese Fernsehspiele lassen sich fünf Gruppen zuordnen, die folgende Schwerpunkte bei der Thematisierung des Nationalsozialismus behandeln: 1. Folgen des Krieges, 2. Konservativer Widerstand, 3. Widerstand als Hilfe für verfolgte Juden, 4. Frage der Söhne nach der Schuld der Väter, 5. Politisch Verfolgte und Emigranten (Hickethier 2003 & 2000 & 1980, S. 271ff.). Der Widerstandsdiskurs und der Generationenkonflikt waren die dominanten Perspektiven in der Darstellung des Nationalsozialismus im Fernsehen bis Mitte der 1970er Jahre, wobei der Widerstand innerhalb des Militärs und der Kirche überbetont wurden (Kansteiner 2004a; Geisler 1994, S. 15ff.). Einzig Egon Monks und Gunther R. Lys Fernsehspiel Ein Tag. Bericht aus einem Konzentrationslager 1939 (ARD 1965) bringt das als undarstellbar geltende Konzentrationslager zur Darstellung. Ein Tag wurde von der Kritik euphorisch und von der Mehrheit der Zuschauer positiv aufgenommen. Der Gegenstand von Monks Fernsehspiel ist der sich in den 1930er Jahren etablierende Terror, wobei nicht die Massenermordungen in den Vernichtungslagern gezeigt werden sollen, sondern ein Konzentrationslager in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg (Prümm 2002; Monk 1999). So will Monk den immer wieder aufgestellten Gegensatz von der 'guten Zeit' 1933 bis 1939 und dem Zweiten Weltkrieg mit seiner „"Vernichtungsmaschinerie als historisch unhaltbar darstellen" (Hickethier 2003, S. 129). Im Fernsehspiel und Fernsehfilm der späten 1960er und der 1970er Jahre gab es für Ein Tag praktisch keinen Nachfolger. So musste Karl-Heinz Bohrer im Rahmen der Berichterstattung zu Holocaust einräumen, dass die deutschen Fernsehzuschauer
Zitat
vor zehn Jahren Egon Monks dokumentarisch wie atmosphärisch überzeugenden Fernsehfilm "Ein Tag" sehen [konnten]. Aber das war schon die Summe von zwanzig Jahren 'Vergangenheitsbewältigung' , betrieben nur von einer intellektuellen Minorität.
In den späten 1960er und 1970er Jahren floss die Thematik der Massenermordung der europäischen Juden nun zwar häufiger ein und wurde erwähnt, aber letztlich nur als Andeutung und Verweis. Die wenigen Sendungen der 1970er Jahre stellten vor allem die gelungene Rettung von verfolgten Juden in den Mittelpunkt, so dass die Massenermordung der europäischen Juden in den Vernichtungslagern keine Darstellung fand (Kansteiner 2003, S. 269; Assmann, Aleida & Frevert 1999, S. 266f.; Classen 1999, S. 89). Dies hält Hickethier für den Grund dafür, dass "die Kritik und weite Teile des Publikums der Meinung waren, mit Holocaust werde erstmals im deutschen Fernsehen der Massenmord an den europäischen Juden gezeigt" (2003, S. 130).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden im bundesdeutschen Fernsehen allenfalls durch Alain Resnais Dokumentarfilm Nacht und Nebel (1957) und die 8. Folge der 14-teiligen Dokumentation Das Dritte Reich mit dem Titel Der SS-Staat (1961) explizit thematisiert wurde (Classen 1999). In diesen Dokumentationen wird anhand der Bilder von unzähligen Toten das Ergebnis der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, nicht aber deren Prozesshaftigkeit dargestellt. Die Opfer verschwimmen hier zu einer anonymen, entindividualisierten Masse und gleichen nicht einzelnen Individuen mit je eigenen Lebensgeschichten. Im Gegensatz zu diesen Dokumentationen nahm Holocaust eine völlig andere und neue Perspektive auf die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen ein: Anhand einer fiktionalen Familiengeschichte werden in einer dramatischen Handlungsstruktur die Lebens- und Leidensgeschichten der Opfer durch die einzelnen Mitglieder der Familie Weiss personalisiert und so wird gleichzeitig die Prozesshaftigkeit der historischen Ereignisse vergegenwärtigt.
4. Die Produktion der deutschen Version von Holocaust
Nachdem die amerikanische Fernsehgesellschaft ABC mit dem Sklavenepos Roots einen großen Erfolg erzielen konnte, gab ihr Konkurrent NBC 1976 die Herstellung einer Miniserie in Auftrag, die den Massenmord an den Juden im nationalsozialistischen Deutschland behandeln sollte. 1977 wurde Holocaust in Europa unter der Regie von Martin Chomsky nach einem Drehbuch von Gerald Green gedreht und im April 1978 in den USA ausgestrahlt, wo die Serie ca. 120 Millionen Zuschauer erreichte (Doneson 2002: 189; Thiele 2001: 298). In annähernd sieben Stunden behandelt die Fernsehserie das Leben und Schicksal von drei fiktiven deutschen Familien zwischen 1935 und 1945. Anhand der einzelnen Familienmitglieder soll der Holocaust exemplarisch dargestellt werden. Die jüdische Familie Weiss repräsentiert den kompletten jüdischen Leidensprozess. Mit ihr verbunden ist die Familie Helms, deren Tochter mit dem ältesten Sohn der Familie Weiss verheiratet ist. Die Familie Dorf – der arbeitslose Jurist Erik Dorf macht Karriere im Reichssicherheitshauptamt und ist unter anderem verantwortlich für die Planung und Verschleierung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen – repräsentiert die Familie eines Täters.
4.1 Ankauf und Ausstrahlung von Holocaust
Der Programmdirektor des WDR, Heinz Werner Hübner, der Leiter des Programmbereichs Fernsehspiel, Externer Link: Günther Rohrbach, und der Fernsehdramaturg Externer Link: Peter Märthesheimer sahen eine Woche vor ihrer Ausstrahlung in den USA Videokassetten der Serie Holocaust. Sie nahmen unverzüglich Verhandlungen mit den Lizenzgebern auf und erwarben die Senderechte für rund 1 Million DM.
Die Verantwortlichen des WDR mussten sich unmittelbar nach dem Ankauf der Rechte mit dem Vorwurf auseinandersetzen, sie hätten unter politischem Zwang durch die SPD gehandelt. Die drei SPD-Politiker Horst Ehmke, Georg Leber und Dietrich Stobbe erlebten die Ausstrahlung von Holocaust vom 16. bis 19.4.1978 und die daraufhin einsetzenden Reaktionen der Presse und der Zuschauer vor Ort in den USA. Die nicht erwartete Intensität der Zuschauerreaktionen und das große Ausmaß an Betroffenheit machten die Ausstrahlung von Holocaust in den USA zum "bedeutendsten Ereignis in der Präsentation des Holocaust im amerikanischen Fernsehen [und zu einem] Meilenstein des Holocaust-Bewusstseins in Amerika" (Shandler 1999, S. 155).
Auf einer Vorstandssitzung der SPD am 24.4.1978 setzten die drei Politiker ihre Partei davon in Kenntnis und das SPD-Präsidium forderte daraufhin alle Parteimitglieder in den Aufsichtsgremien der Sender auf, sich dafür einzusetzen, "dass das deutsche Fernsehen sich diesen Film doch beschaffen möge". Heinz Werner Hübner wies den Vorwurf der politischen Einflussnahme auf die Entscheidung des WDR entschieden zurück und erklärte, dass es vielmehr Abgeordnete gab, "die sehr intensiv und zum Teil sogar massiv zu erreichen versuchten, dass dieser Film in der Bundesrepublik nicht ausgestrahlt wird".
Die Kritik an dem Erwerb der Senderechte war groß und auch in der ARD gab es Befürworter und Gegner der Sendung. Bei der Abstimmung der ARD-Fernsehdirektoren im Sommer 1978 über den Sendeplatz von Holocaust stimmte nur eine knappe Mehrheit – 5 zu 4 Stimmen – für eine Ausstrahlung im Ersten Programm. Bei diesem knappen Votum war zu befürchten, dass sich einzelne Anstalten aus dem ARD-Gemeinschaftsprogramm ausblenden würden. So drohte z. B. der Direktor des Bayerischen Rundfunks, Helmut Oeller, mit der Ausblendung seiner Anstalt, wenn Holocaust im Ersten Fernsehprogramm ausgestrahlt werden sollte. Die Programmdirektoren der ARD kamen auf der Fernsehprogrammkonferenz in Bremen am 28. Juni 1978 schließlich zu einer Kompromiss-Lösung, die verhindern sollte, dass nur der WDR Holocaust ausstrahlen würde:
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Der Film "Holocaust" [wird] – wahrscheinlich Anfang 1979 – innerhalb von zehn Tagen im Dritten Programm des WDR gesendet. Der WDR bietet den Landesrundfunkanstalten an, den Film "Holocaust" zeitgleich mit dem WDR in ihren Dritten Programmen auszustrahlen.
Als die ARD Ende Oktober 1978 die Termine für die Ausstrahlung bekannt gab und deren Rahmenprogramm veröffentlichte, wurde in der Presse der Vorwurf laut, Holocaust würde in den Dritten Programmen und somit in der 'intellektuellen Ecke' versteckt. Der Kritik an der Ausstrahlung in den Dritten Programmen begegnete Heinz Werner Hübner mit dem ausdrücklichen Bezug auf die Ausstrahlung in Israel und die angenommenen Erwartungen an Deutschland aus dem Ausland. Die Verantwortlichen des WDR hielten es für sinnvoll, Holocaust in den Dritten Programmen zu platzieren, weil die Serie dort zum einen durch ein Rahmenprogramm angemessener präsentiert werden könne als im Ersten Programm, sie den Charakter einer Zwangsveranstaltung verliere und so leichter in die öffentliche Debatte gelangen könne (Märthesheimer 1979a, S. 50).
4.2 Motive des WDR für Ankauf und Ausstrahlung von Holocaust
Die Motive des WDR für Ankauf und Ausstrahlung von Holocaust waren vielschichtig. Die grundlegende Frage, die sich den Verantwortlichen stellte, formulierte Günther Rohrbach: "in dem Augenblick, in dem Holocaust auf uns zukam (...) hatten [wir] nur die Wahl zu sagen: Wollen wir diesen Film aus Deutschland fernhalten oder wollen wir uns ihm (...) in irgendeiner Form doch stellen?" . Die Verantwortlichen entschieden sich für den Ankauf der Senderechte, weil Deutschland als Land des Holocaust als letztes die Berechtigung habe, an der Serie vorbeizugehen (Märthesheimer 1979b, S. 5).
Holocaust wurde in über dreißig Länder verkauft und bereits im Herbst 1978 in Großbritannien, Israel und Belgien ausgestrahlt (Knilli & Zielinski 1982, S. 341). Der Europapremiere von Holocaust in Großbritannien schreiben Knilli und Zielinski (1982, S. 129) eine besondere Bedeutung für den weiteren Umgang mit der Serie in der Bundesrepublik zu, da sie sowohl von der deutschen Presse als auch von den Rundfunkanstalten aufmerksam beobachtet wurde. In Großbritannien und auch in Israel "fiel der Film bei der Fachkritik und einem Teil des Fernsehpublikums zwar durch, wurde aber wegen seiner erinnerungskulturellen (…) Relevanz überwiegend positiv aufgenommen" (Reichel 2004, S. 254). Die Verantwortlichen des WDR gelangten zu der Überzeugung, dass Deutschland bei der Ausstrahlung des weltweit vertriebenen Medienprodukts nicht abseits stehen könne, da gerade die Auseinandersetzung in der Bundesrepublik mit der Serie im Ausland registriert werden würde. So zeigte die amerikanische, britische und israelische Presse ihr Interesse an den Reaktionen in Deutschland bereits zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung in ihren Ländern (Marchart et al. 2003, S. 313). Nach Ansicht von Heinz Werner Hübner war eine Entscheidung gegen den Ankauf nicht zu begründen, denn
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man würde uns sicherlich nicht nur im Ausland (...) Feigheit vorwerfen, (…) der Auseinandersetzung auszuweichen, die Vergangenheit verdrängen (...), dass wir (…) über KZ-Prozesse (...) eigentlich mehr oder weniger hinweggegangen sind; dass man (…) nicht in der Lage ist und offenbar auch nicht allzu stark daran interessiert ist, einer größeren Schicht der Bevölkerung, einer größeren Zahl der Zuschauer bewusst zu machen.
Diese Aussage deutet an, dass der Kauf der Senderechte und die Ausstrahlung eine Notwendigkeit gewesen zu sein scheint, um dem Vorwurf aus dem Ausland entgegenzutreten, die Deutschen wollten ihre Vergangenheit verdrängen und somit zunächst aus ihrem bloßen Vorhandensein und weltweiten Verkauf entstanden ist. Den antizipierten Vorwurf, dass das deutsche Fernsehen die nationalsozialistische Vergangenheit zu wenig thematisiert habe, wollte der Programmdirektor des WDR für sein Haus nicht akzeptieren. Günther Rohrbach, der Leiter des Programmbereichs Fernsehspiel des WDR, musste allerdings die Einschränkung machen, dass der Nationalsozialismus zwar in Hunderten von Fernsehbeiträgen in Einzelaspekten, nicht aber "in dieser Totalität" wie in Holocaust behandelt worden sei. Aus dieser Aussage lässt sich folgern, dass den WDR-Verantwortlichen bewusst war, dass das deutsche Fernsehen mit seinen Fernsehspielen und Dokumentationen bisher nicht das erreicht hatte, was die fiktionale Geschichte der Familie Weiss in den USA erreicht hat: und zwar ein Bewusstsein für die nationalsozialistischen Verbrechen zu schaffen.
Für die WDR-Verantwortlichen war der Erwerb der Senderechte weiterhin sowohl eine politische als auch eine programmpolitische Entscheidung. Der Programmdirektor erklärte, sie hätten nicht den Anspruch "gewissermaßen stellvertretend so was wie die Vergangenheit aufzuarbeiten". Für Hübner und auch den Intendanten des WDR, Friedrich Wilhelm von Sell, erfüllte der WDR mit dem Erwerb der Senderechte und der Ausstrahlung von Holocaust vor allem den Informations- und Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten: Insbesondere junge Leute, die von den Ereignissen nichts oder wenig wissen und auch in der Schule kaum etwas darüber lernen, sollten informiert werden. Das Fernsehen könne dabei eine wichtige Rolle spielen, da es mit seinen Themen ein prinzipiell unendliches, disperses Publikum erreicht:
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Man muss es ["Holocaust", S.S.] beurteilen an der Ausstrahlung, die eine solche Serie weltweit hat, und man muss es in Beziehung setzen zu den Möglichkeiten, die die Massenmedien haben, mit ihren Filmen an die Massen, mit denen sie kommunizieren, heranzukommen. Insofern, würde ich sagen, müssen wir den Wert von "Holocaust" messen, an dem, was es an Anregungen, an Initialzündungen für eine Diskussion zu leisten in der Lage ist.
Die Verantwortlichen des WDR verheimlichten aber auch nicht ihre Kritik an der US-amerikanischen Fernsehserie. Sie verwiesen darauf, dass sie einen Film über die nationalsozialistischen Verbrechen "vermutlich spröder, dokumentarischer, realistischer, genauer, kritischer und mit einem primär aufklärerischen Ziel produziert" hätten. Die amerikanische Produktion wurde kritisiert, weil sie den Holocaust in Form einer Spielfilmhandlung thematisiert und so Fakten und Fiktion vermische. Die Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus wurden bis zu diesem Zeitpunkt vorwiegend in Dokumentationen oder in Fernsehspielen bearbeitet, da vor allem diesen Fernsehformaten sowohl eine authentische und angemessene Darstellung der Ereignisse als auch eine aufklärerische Wirkung zugesprochen wurde. Die inhaltliche und ästhetische Kritik an Holocaust bezog sich auf die trivialisierte, personalisierte und dramatisierte Behandlung der geschichtlichen Ereignisse in Form einer Familiengeschichte, die von Günther Rohrbach als eine 'typisch amerikanische' identifiziert wurde und der er nicht zutraute, das geschichtliche Ereignis in seiner Komplexität abbilden und vermitteln zu können. Peter Märthesheimer sah dagegen das als 'typisch amerikanisch' bezeichnete Erzählmuster – Personalisierung der historischen Ereignisse und emotionale Darstellung ohne Berücksichtigung der Komplexität des Kontextes – in Holocaust durchbrochen, denn
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Autor, Regisseur und Produzent von Holocaust (...) machen nicht das individuelle Schicksal, sondern die historischen Etappen der Judenvernichtung zum Schwerpunkt des jeweiligen Films (…) und ordnen die Individuen gewissermaßen erst nachträglich der Veröffentlichung des Verbürgten zu.
Die Verantwortlichen des WDR sahen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, die Serie verfälsche historische Tatsachen, und Peter Märthesheimer beklagte daraufhin, dass gegen die Darstellung der geschichtlichen Ereignisse in der Serie ein "ästhetischer Rigorismus ins Feld geführt" (1979a, S. 49) werde. Der verantwortliche Redakteur des WDR vertrat nicht nur die Ansicht, dass die Darstellung der Verbrechen des Nationalsozialismus in Holocaust den geschichtlichen Tatsachen entspräche, sondern auch, dass die Fernsehserie eine 'höhere Wahrheit' vermittle. Die ästhetische Kritik wurde von ihm als Ausweichmanöver vor der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gewertet, da Holocaust so als Ganzes in Frage gestellt werde. Sein Betrachtungsschwerpunkt lag also auf der von Holocaust geleisteten Darstellung des ganzen Komplexes nationalsozialistischer Gewaltverbrechen. In dieser Position traten die historischen und ästhetischen Mängel hinter die "historische Wahrhaftigkeit" (Märthesheimer 1979a, S. 49) von Holocaust als weniger bedeutend zurück.
Die Verantwortlichen sahen in dem Erwerb und in der Ausstrahlung also die Erfüllung des Informations- und Bildungsauftrags der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, da so die historischen Ereignisse kommuniziert werden könnten. Hübner erklärte, dass dieser Film dem deutschen Publikum zugemutet werden könne und müsse, weil er trotz seiner Mängel deutlich mache, "dass sich niemand aus der Verantwortung und aus der Geschichte seines Volkes stehlen kann". Diese Aussage zeigt, dass gesellschafts- und bildungspolitische Überlegungen ein wichtiges Motiv für die Entscheidung zur Ausstrahlung von Holocaust waren und bestimmte Erwartungen an diese geknüpft wurden. Die im Sommer 1978 beginnende Zusammenarbeit zwischen dem WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung kann als ein weiteres Indiz für vorhandene gesellschafts- und bildungspolitische Motive und Erwartungen der Verantwortlichen gewertet werden, denn Holocaust sollte nach deren Auffassung "kein Lehrstück, sondern [zum] Lernstück" für das deutsche Fernsehpublikum werden.
4.3 Zusammenarbeit von WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung
Auch die Verantwortlichen der Bundeszentrale für politische Bildung erörterten im August 1978 die negativen und positiven Aspekte von Holocaust hinsichtlich ihrer politischen Bildungsarbeit. Ihre Bewertung entsprach im Wesentlichen derjenigen der WDR-Verantwortlichen: Die kritischen Aspekte wurden zum einen darin gesehen, dass die Serie eine kommerziell motivierte Produktion für das amerikanische Fernsehen sei und nicht vorrangig Ziele der politischen Bildung verfolge. Zum anderen wurde auch die Personalisierung der historischen Ereignisse kritisch bewertet, da so die Hintergründe und Gesamtzusammenhänge des historischen Ereignisses ausgespart würden. Als positiver Aspekt wurde vor allem die Ausstrahlung via Fernsehen hervorgehoben. Die Bundeszentrale für politische Bildung rechnete damit, dass dieser Film über den Holocaust ein breites Publikum erreichen würde (Interner Link: Ernst 1980a, S. 509). So wurden unter Hinweis auf die erwartete Breitenwirkung ästhetische und bildungspolitische Ansprüche relativiert. Tilman Ernst, Referent der Bundeszentrale für politische Bildung und vom WDR mit der Holocaust begleitenden Bildungsarbeit betraut, äußerte sich vor der Ausstrahlung dementsprechend optimistisch:
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Von meinem Standpunkt aus ergibt sich aber durch die enorme Popularität, die die Sendereihe (...) haben wird, eine geradezu unschätzbare Chance für pädagogisch verantwortliche Personen und Institutionen, das Bewusstsein für die damaligen Geschehnisse zu schärfen und aus ihnen auch für die heutige Situation zu lernen.
Holocaust als 'Medienereignis'
Die Fernsehverantwortlichen standen im Rahmen der Ausstrahlung von Holocaust unter einem nicht geringen Erfolgsdruck. Die Serie hatte viel Geld gekostet, sie ist in den USA die erfolgreichste Fernsehserie des Jahres 1978 gewesen und hatte dort trotz intensiver Informations- und Promotions-Kampagnen eine nicht vorhergesehene Intensität an Zuschauerreaktionen sowie ein nicht erwartetes Ausmaß an Betroffenheit ausgelöst (Marchart et al. 2003, S. 310). In der Bundesrepublik wurde "die ereignishafte Reaktion als das wesentliche Ereignis [wahrgenommen, die es] fortan zu wiederholen galt" (Marchart et al. 2003, S. 312). Für die Verantwortlichen bedeutete dies, dass sich der Erfolg der Serie in der Bundesrepublik auch an den Zuschauerzahlen, aber vor allem an dem Ausmaß der Zuschauerreaktionen würde messen lassen müssen. Dementsprechend standen erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Reaktionen der Zuschauer bei einer öffentlichen Thematisierung von Nationalsozialismus und Holocaust im Mittelpunkt des Interesses (Bergmann 1997, S. 361). Die Zuschauerreaktionen waren auch das Kriterium, das die Bundeszentrale für politische Bildung zum Ausgangspunkt ihrer Bewertung der Serie machte und an das sie ihre gesellschafts- und bildungspolitischen Überlegungen knüpfte, denn sie wollte nicht den
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Film "Holocaust" selbst, doch die Reaktionen breiter Teile der Bevölkerung auf ihn – und damit das Thema 'Vergangenheitsbewältigung' – [zur] Aufgabe begleitender Maßnahmen von Seiten [der] politischen Bildung [machen].
Der WDR entwickelte für die Holocaust-Ausstrahlung ein für das deutsche Fernsehen beispielloses Begleit- und Rahmenprogramm, das die Serie didaktisch begleiten sollte (Märthesheimer 1979a, S. 50), und inszenierte sie so als ein umfassendes Medienereignis. Zwei eigens produzierte dokumentarische Features gingen der Ausstrahlung voraus, die das Erste Deutsche Fernsehen am 11.01.1979 und am 18.01.1979 jeweils um 20.15 Uhr ausstrahlte: Die 45-minütige Dokumentation Antisemitismus von Erhard Kloess, die die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland und Österreich vor 1933 behandelte und die 90-minütige Interner Link: Dokumentation Endlösung von Paul Karalus, die das Schicksal der Juden zwischen 1933 und 1945 thematisierte. Darüber hinaus berichtete diese Dokumentation über das Echo und die Wirkung der Serie in den USA, über die Betroffenheit der amerikanischen Zuschauer und zeigte bereits Ausschnitte aus Holocaust, welche durch Zeitzeugeninterviews ergänzt wurden. Die beiden Features sollten offensichtlich in ihrer dokumentarischen Art der Darstellung und Zeugenbefragung die Zuschauer über den historischen Hintergrund von Holocaust aufklären und somit den Bedenken gegenüber der folgenden individualisierten und emotionalen Fiktion entgegenwirken (Wilke 2005, S. 14; Weiß 2001, S. 78). Im Anschluss an jede Folge von Holocaust sollte eine Fernsehdiskussion stattfinden, um die Zuschauer – so Ivo Frenzel, Redakteur dieser Fernsehdiskussion – denen "ein hohes Maß an emotionaler Erschütterung zugemutet wird, zu so später Stunde nicht alleine zu lassen". In diese 'Anruf erwünscht'-Sendungen waren Historiker eingeladen, die zu historischen Fakten Stellung nehmen sollten, sowie bekannte Zeitzeugen, Soziologen und Psychologen, die darüber Auskunft geben sollten, "wie es möglich war, dass ein Volk wie das Deutsche diese Vorgänge so gründlich verdrängt hat". Die Zeitzeugen und Experten diskutierten über das Gesehene untereinander und mit Zuschauern, die per Telefon Fragen, Kommentare und Kritik einbringen konnten. So sorgte der WDR dafür, dass die einseitige Kommunikation zwischen Fernsehen und Zuschauern aufgehoben wurde. Dies ermöglichte vor allem, dass zum einen überhaupt erfahrbar wurde, wie Zuschauer direkt nach der Ausstrahlung auf Holocaust reagierten, welche Einstellungen und Meinungen sie äußerten und zum anderen, dass über Nationalsozialismus und Holocaust bundesweit öffentlich gesprochen und debattiert werden konnte (Kröll 1989, S. 113ff.).
Notwendigkeit politische Bildungsarbeit
Die Bundeszentrale für politische Bildung und die Landeszentrale Nordrhein-Westfalen produzierten Interner Link: umfangreiches pädagogisches Begleitmaterial, welches zum einen deren bildungspolitischen Absichten und zum anderen den Aspekt, dass die Rezeption von Holocaust nicht unbegleitet von staatlich-politischen Bildungsinstitutionen geschehen sollte, unterstreicht. Gemeinsam mit dem WDR konzipierten sie im Herbst 1978 eine dreistufige Begleituntersuchung; ausführendes Institut war die Marplan GmbH, Offenbach. Die Begleituntersuchung sollte in drei Untersuchungswellen – kurz vor, kurz nach und vier Monate nach der Ausstrahlung – die Reichweite und Wirkungsweise der Fernsehserie erforschen. Sie erhofften sich durch die Begleituntersuchung Aufschluss über bestimmte Wissens-, Meinungs- und Einstellungsstrukturen in der Bevölkerung im Blick auf den Nationalsozialismus, die Judenverfolgung und –ermordung (Magnus 1979a, S. 226). Für die Vertreter der Bundeszentrale für politische Bildung war ein genaueres Bild des Wissensstandes der Bevölkerung hinsichtlich ihrer Bildungsarbeit von großer Bedeutung, "um immer noch notwendig erscheinende Lernprozesse im Hinblick auf die NS-Zeit in Gang setzen zu können" (Interner Link: Ernst 1980a, S. 509).
Sie gingen zum Zeitpunkt der Vorbereitung der Ausstrahlung von Holocaust davon aus, dass es in der Bevölkerung Defizite im Bereich des historischen Wissens über den Nationalsozialismus als auch in den Einstellungen zum Nationalsozialismus gäbe und sie mussten feststellen, dass die Erinnerung an Aspekte wie den Interner Link: Autobahnbau, die Bekämpfung der Interner Link: Arbeitslosigkeit oder die Interner Link: Olympischen Spiele 1936 in Berlin stärker war als die an Kriegsverbrechen und die Massenermordung der europäischen Juden (Ernst 1979a, S. 27 & 1979b, S. 77). Alarmiert durch den Verfassungsschutzbericht aus dem Jahr 1977 waren sie davon überzeugt, dass in der Bundesrepublik ein latenter Antisemitismus und steigende Fremdenfeindlichkeit verbreitet seien (Ernst 1978, S. 77f.). Der im Verfassungsschutzbericht konstatierte Anstieg rechtsextremistischer Straftaten ließ die Verantwortlichen zu dem Schluss kommen, das in der Bundesrepublik ansteigende rechtsextreme Tendenzen, insbesondere unter Jugendlichen, bestünden und dass ein Drittel der Bevölkerung zu rechtsextremen Auffassungen neige (Ernst o. J., S. 2). Ihnen stellte sich die Frage, "wie groß die Gruppe ist, die faschistischen Ideologien anhängen und den Faschismus lebensfähig halten" (Ernst 1979a, S. 26). Mit Besorgnis wurde die Aufsehen erregende Boßmann-Studie aus dem Jahr 1977 aufgenommen, die anhand von Aufsätzen von 10- bis 23-jährigen Schülern und Schülerinnen aller Schularten zeigte, dass die Defizite im Wissen von Jugendlichen über den Nationalsozialismus eine "bildungspolitische Katastrophe" (Boßmann 1977, S. 2) signalisierten. Dieser mangelhafte Wissensstand von Jugendlichen ließ die Verantwortlichen der Bundeszentrale für politische Bildung an der Wirkung des Geschichtsunterrichts und der Effektivität politischer Bildung zweifeln (Interner Link: Ernst 1979c, S. 231) und sie kamen zu dem Schluss, "dass pädagogische Bemühungen Bedingungen vorfinden, die die Vermittlung von historisch-korrektem Wissen nicht nur erschweren, sondern zum Teil sogar konterkarieren" (Ernst o. J., S. 8).
Es war ein gemeinsames Anliegen der Bundeszentrale für politische Bildung und des WDR, das gegenwärtige Bild der nationalsozialistischen Vergangenheit zu korrigieren (Weiß 2001, S. 79). Die Thematisierung einer möglichen Mitschuld der deutschen Bevölkerung am Holocaust war für die erstrebte Etablierung einer veränderten deutschen Perspektive auf die historischen Ereignisse nach Ansicht der Verantwortlichen dringend erforderlich, denn zum politischen Zeitklima ab dem Jahr 1977 gehörte insbesondere die Debatte um die so genannte 'Hitlerwelle' und -nostalgie sowie die um die Nazi- und SS-Vergangenheit einiger deutscher Politiker (van Laak 2002, S. 184). Vor allem die seit Mitte der 1970er Jahre aufgekommene 'Hitlerwelle' habe ihrer Ansicht nach "einen Markt für den Nationalsozialismus durch zum Teil heroisierende und verharmlosende Publikationen, Filme und 'Dokumente' erschlossen, der gerade auch auf Jugendliche zielt" (Interner Link: Ernst 1980a, S. 510). Die Verantwortlichen sahen dagegen mit Holocaust die Chance gegeben, die Opfer der Gewaltverbrechen in den Mittelpunkt der Betrachtung der historischen Ereignisse zu stellen (Ernst 1978, S. 86ff.).
Holocaust als 'Grundreiz'
Die Verantwortlichen sahen mit der Holocaust-Ausstrahlung die Möglichkeit, die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen "sinnlich erfahrbar zu machen" (Interner Link: Ernst 1980a, S. 510) und betrachteten die Ausstrahlung der Serie als eine "wertvolle Chance pädagogischer Breitenwirkung" (Interner Link: Ernst 1979c, S. 230). Sie waren sich sicher, dass ein Anlass nötig war, um der Öffentlichkeit deutlich zu machen, wie wenig sie über den Holocaust wisse (Brandt 2003, S. 262). Besonders von der Zusammenarbeit mit dem Massenmedium Fernsehen versprachen sie sich eine Verbesserung der politischen Bildungsarbeit, da die Ausstrahlung von Holocaust ihrer Ansicht nach
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allen pädagogisch Verantwortlichen die Gelegenheit [gibt], Themen im Zusammenhang mit der Entstehung, den Untaten und den Konsequenzen des Nationalsozialismus aufzugreifen. Für diese Themenbereiche muss politische Bildung [nun] nicht mehr erst mühsam Interesse schaffen.
Interner Link: Interner Link: Tilman Ernst ging davon aus, dass die Serie "millionenfach ablaufende Diskussionen im alltäglichen Bereich" (Interner Link: 1979c, S. 231)hervorrufen würde, da sie durch die Darstellung individueller Lebens- und Leidenswege die historischen Ereignisse für die Zuschauer greifbar mache (Ernst 1978, S. 85f.). Die von der Bundeszentrale für politische Bildung erwarteten Diskussionen in der Bundesrepublik gaben zum einen den Ausschlag für eine positive Bewertung der Ausstrahlung und zum zweiten sollten sie zur Grundlage für die Anstrengungen der politischen Bildungsarbeit gemacht werden. In dieser Hinsicht stellte Holocaust für sie den "exemplarischen Fall eines intensiven thematischen Angebots des Fernsehens [dar], das gesellschaftspolitische Interessen verfolgt" (Ernst 1979b, S. 74). Es wird deutlich, dass die Verantwortlichen von Wirkungen der Serie sowohl auf die Zuschauer als auch auf das Massenmedium Fernsehen ausgingen: Sie waren erstens davon überzeugt, dass trotz aller Detailkritik an der Serie eine Durchschlagskraft der Inhalte zu verzeichnen sei und weniger über den Film als über den Nationalsozialismus diskutiert werden würde. Für Ernst schaffte Holocaust die "unbedingt notwendige Sensibilisierung breiter Teile der Bevölkerung" (Interner Link: 1979c, S. 231), um den Nationalsozialismus und seine Gewaltverbrechen im öffentlichen und privaten Raum zu thematisieren und die Auseinandersetzung über deren Bedeutung für die Gegenwart zu fördern. Zweitens gingen sie davon aus, dass durch die Ausstrahlung von Holocaust historisches Wissen in der Bevölkerung verbreitet werden könne. Und drittens nahmen sie an, dass das Rahmenprogramm und die Ausstrahlung der Serie Konsequenzen für die Konzeption von Produktionen des bundesdeutschen Fernsehens haben würden und so die Grundlage geschaffen würde, gesellschaftlich relevante Themen in Zukunft vermehrt über das Massenmedium Fernsehen transportieren zu können (Ernst 1979a, S. 27 & Interner Link: 1979c, S. 231).
Auch Peter Märthesheimer sah in Holocaust einen Auslöser für einen explosiven Diskurs über die deutsche Vergangenheit in der Bundesrepublik:
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Wenn Einigkeit besteht darüber, dass unsere Gesellschaft ihre Vergangenheit reflektieren und diskutieren sollte, kann "Holocaust" verstanden werden als das, was Soziologen einen 'Grundreiz' nennen: einen Impuls, der Reflexion und Diskussion auslöst, Kontroversen in Gang setzt, in den Menschen etwas auslöst, das über das hinausreicht und vielleicht sogar vergisst, was der Impuls selbst war.
Er erhoffte sich, dass in den Diskussionen weniger die Serie selbst, sondern deren Inhalte thematisiert werden könnten und die Diskussionen sich so den "spezifisch deutschen Bedingungen" (Märthesheimer 1979b, S. 5) der historischen Ereignisse zuwenden würden, um Hintergründe und Gesamtzusammenhänge der dargestellten Ereignisse thematisieren und auf die Folgen des Nationalsozialismus für die Gegenwart hinweisen zu können.
Die Fokussierung der beteiligten Akteure auf die Reaktionen der Zuschauer erscheint hier besonders deutlich. Das Ausmaß der Zuschauerreaktionen nahm den besonderen Stellenwert in der Wirkungseinschätzung der Verantwortlichen ein, weil sie diese zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen hinsichtlich der Gestaltung der zukünftigen Zusammenarbeit zwischen dem Massenmedium Fernsehen und den Institutionen der politischen Bildung bei der Behandlung des Nationalsozialismus machten. Sie gingen zum einen davon aus, dass die Darstellung der historischen Ereignisse anhand der Geschichte von Individuen die "Voraussetzung für höchste Identifikation und höchste Emotion" (Märthesheimer 1979c, S. 16) der Zuschauer sei. Des Weiteren waren sie davon überzeugt, dass eben nur diese emotionale Betroffenheit erstens zu einer Reflexion der deutschen Geschichte führen könne und sie zweitens eine notwendige Voraussetzung für Meinungs- und Einstellungsänderungen hinsichtlich des Nationalsozialismus und seiner Gewaltverbrechen darstelle (Interner Link: Ernst 1979c, S. 236). Diese Annahmen erscheinen bedeutend, da sich in ihnen eine Rezeptions- und Wirkungseinschätzung der Serie in Bezug auf ein Massenpublikum ausdrückt: Die emotionalisierende Wirkung der Serie wird als wichtige Funktion für einen von den Verantwortlichen als notwendig erachteten Reflexionsprozess der Zuschauer über die historischen Ereignisse bewertet.
4.4 Die Veränderungen des US-amerikanischen Originals durch den WDR
Die deutsche Version unterscheidet sich von der internationalen Fassung durch die vom WDR vorgenommenen Veränderungen. Diese betreffen die Vertauschung von Szenenfolgen, die Kürzung einer Erschießungsszene im Warschauer Ghetto und die Kürzung des Schlusses. Welches Bild der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen sollte durch die Veränderungen von Holocaust in der Öffentlichkeit betont werden und welche von den Akteuren für die Bundesrepublik als relevant betrachtete Darstellung des Holocaust sollte so etabliert werden?
Vertauschte Szenenfolgen
Im Verlauf der deutschen Fassung von Holocaust lassen sich im Vergleich mit der US-amerikanischen an drei Stellen Vertauschungen in den Szenenfolgen feststellen, woraus sich zwar keine inhaltlichen Veränderungen, jedoch sinngemäße Verschiebungen ergeben. Zunächst wurden in Folge II Szenen des Warschauer Ghettos vor die Darstellung einer Massenerschießung gesetzt. In Folge III wurde ein Gespräch von Karl Weiss mit einer Künstlerin über die Perfidität des Konzentrationslagersystems vor den Überfall jüdischer Partisanen auf ukrainische Miliz, in dessen Verlauf Rudi Weiss einen Milizionär erschießt, gestellt. Weiterhin wurde in Folge III die Folterung von Karl Weiss durch die SS vor Szenen gesetzt, in denen im Warschauer Ghetto die Erfolgsaussicht des jüdischen Widerstands diskutiert wird. In der deutschen Version sind im Gegensatz zur US-amerikanischen also zuerst die Szenen zu sehen, in denen das Schicksal, die Folterung und Ermordung der jüdischen Protagonisten thematisiert werden. Darauf folgen Sequenzen, in denen der jüdische Widerstand im Warschauer Ghetto diskutiert bzw. explizit gezeigt wird. Der Kontrast zwischen Leid und Ungerechtigkeit einerseits und Widerstand andererseits wird dargestellt, indem auf eine Folterszene eine Widerstandsszene folgt.
Brandt folgert, dass die Verantwortlichen des WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung die Absicht hatten, durch die Vertauschung der Szenen von Folter und Widerstand auch "den Widerstand gegen Hitler und den Nationalsozialismus gerechtfertigt, ja sogar positiv erscheinen zu lassen" (Brandt 1999, S. 90). Dies erschien ihnen notwendig, da sie davon überzeugt waren, dass in weiten Teilen der bundesrepublikanischen Bevölkerung der Widerstand gegen den Nationalsozialismus nicht anerkannt war und sie so dessen Akzeptanz stärken wollten (Brandt 2003, S. 261), auch weil man in der Bundeszentrale für politische Bildung "überzeugt war, dass eine stärkere Akzeptanz des Widerstands gegen Hitler auch die Akzeptanz des demokratischen Systems (…) erhöhen würde" (Brandt 1999, S. 90). Durch diese Vertauschung der Szenenfolgen hätte der WDR somit den Versuch unternommen, mit formalen Veränderungen des US amerikanischen Originals eine von den Verantwortlichen als relevant betrachtete inhaltliche Sinnverschiebung vorzunehmen. Durch die Betonung der Notwendigkeit des Widerstands versuchten sie also den Rahmen der Erinnerung an den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik zu verändern und Bezüge zu aktuellen nationalen politischen Begebenheiten herzustellen (Brandt 1999 & 2003).
Erklärungen und Begründungen für die Modifizierung der Szenenfolgen wurden von den WDR Verantwortlichen nie öffentlich geäußert und auch in den zugänglichen Holocaust-Produktionsakten lassen sich keine Hinweise darauf finden. Wenn davon ausgegangen wird, dass den Zuschauern durch die Modifikationen Leid und Unrecht vorgeführt und ihnen der darauf folgende Widerstand gegen dieses nahe gelegt wird, lässt sich das mit den politischen Bildungsabsichten und den gesellschaftspolitischen Interessen der Verantwortlichen in Einklang bringen. So äußerte sich Tilman Ernst zur Notwendigkeit, gegen den seit Mitte der 1970er Jahre wieder verstärkt aufkommenden Rechtsextremismus einzutreten, im Vorfeld der Holocaust-Ausstrahlung und betont:
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Auch heute müssen wir uns fragen, wie das Bewusstsein der Gesellschaft, insbesondere der Jugendlichen, beschaffen ist (…). [Es] ist die Annahme begründet, dass demokratische Prinzipien und die repräsentative parlamentarische Organisation von Entscheidungen in Zweifel gezogen werden.
Aus dem Filmmaterial ergibt sich zur Begründung der Veränderungen keine näher liegende Erklärung, denn auch ohne die vertauschten Szenenfolgen dürften das Unrecht und die Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus deutlich werden. Allerdings wird der notwendige und mögliche Widerstand gegen diese durch die Modifikationen stärker veranschaulicht und betont (Weiß 2001; Brandt 1999). Es kann demnach hier angenommen werden, dass der WDR mit Hilfe der vertauschten Szenen eine stärkere Bedeutung der Notwendigkeit des Widerstands für die Erinnerung an den Nationalsozialismus und die Massenermordung der europäischen Juden in der Bundesrepublik produziert hat.
Die Erschießungsszene
In Folge II werden Berta und Josef Weiss gemeinsam mit anderen hinter einer Mauer im Warschauer Ghetto Zeugen der Hinrichtung einiger jüdischer Frauen. Vom WDR wurden in dieser Szene Schnitte vorgenommen, die zur Folge haben, dass sich die Erschießung der Frauen zwar aus den Bildern ergibt, jedoch nicht explizit in Bildern zu sehen ist. In der deutschen Version sind im Vergleich zur US-amerikanischen die Männer des Erschießungskommandos, die polnische Armeemäntel tragen, nicht beim Schuss zu sehen.
Gegen die Überlegung, der WDR habe die Zuschauer mit den hier dargestellten Grausamkeiten verschonen wollen, sprechen einige andere Folter- und Erschießungsszenen, die dem Publikum in voller Länge präsentiert werden. Diese Szene ist die einzige, in der Gewaltverbrechen dargestellt werden und die vom WDR geschnitten wurde. Zu der Frage, warum der WDR diese Szene korrigiert und andere monierte Mängel nicht verändert hat, findet sich in den zugänglichen Produktionsakten nur wenig Material. Es ist anzunehmen, dass der WDR dem Vorwurf, die Serie verfälsche historische Tatsachen, entgegenwirken wollte, indem diese Szene gestrichen wurde (Brandt 1999, S. 90). Der WDR ließ Holocaust zur Überprüfung der korrekten Darstellung der historischen Ereignisse vom Münchener Institut für Zeitgeschichte untersuchen (Märthesheimer 1979b, S. 6) und die Szenen, in denen die polnischen Armeemäntel zu sehen sind, wurden als historisch unrichtig gekennzeichnet. So heißt es in einer internen Aktennotiz vom 21.11.1978, dass die Szene "wegen des objektiv unrichtigen und des historisch verfälschenden Charakters" geschnitten worden ist.
Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Betrachtung anderer Exekutionsszenen, an denen Wehrmachtssoldaten beteiligt sind. Es fällt auf, dass die in Holocaust gezeigte Beteiligung der Wehrmacht an der Massenermordung der europäischen Juden, die 1995 im Rahmen der Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der deutschen Wehrmacht 1941-1944 des Hamburger Instituts für Sozialforschung hitzige Debatten und massive Proteste hervorbrachte, in den Jahren 1978 und 1979 gänzlich unkommentiert geblieben und kritiklos hingenommen worden ist. Die Tatsache, dass diese Aussage die Zuschauer nicht empört hat, zeigt, dass Erinnern immer gegenwartsbezogen ist und immer innerhalb der Bedeutungsrahmen der jeweiligen Gegenwart konstruiert wird (Brandt 1999, S. 91). Die Aussage hat die Zuschauer demnach nicht empört, weil im Jahr 1979 erstmals nicht die Befindlichkeit der Mitglieder der 'Tätergesellschaft' im Mittelpunkt einer Darstellung der nationalsozialistischen Vergangenheit stand, sondern das Schicksal der Opfer rassischer Verfolgung (Uhl 2003, S. 160).
Der gekürzte Schluss
Die deutsche Fassung von Holocaust ist im Vergleich zur US-amerikanischen um ca. sieben Minuten kürzer. Die letzten drei Szenen der Originalversion wurden vom WDR geschnitten. In diesen begegnet Rudi Weiss – der einzige Überlebende der Familie Weiss – seiner Schwägerin Inga Helms-Weiss, die nach England auswandern will, und deren Sohn wieder. Rudi Weiss begleitet eine Gruppe griechisch-jüdischer Kinder nach Palästina und die Schlussszene der US-amerikanischen Fassung zeigt einen lachenden Rudi Weiss, der mit den Kindern Fußball spielt. Mit dem Aufbruch Rudis nach Palästina präsentiert die US-amerikanische Fassung die Massenermordung der europäischen Juden "als faktischen Ursprung des Staates Israel" (Weiß 2001, S. 78). Mit dieser Szene endet die internationale Version von Holocaust, die in der Bundesrepublik ausgestrahlte hat dagegen eine andere Schlusssequenz, die durch die Kürzungen des WDR produziert wurde. Wurden die Kürzungen vorgenommen, weil das Ende der Originalversion mit dem Standbild des lachenden Rudi von den Verantwortlichen aus deutscher Perspektive vor allem als "unangemessen empfunden" wurde?
Die Schlussszene der deutschen Fassung zeigt ein Gespräch zwischen Kurt und Marta Dorf, in dem er ihr und ihren Kindern das verbrecherische Handeln Eriks zu vermitteln versucht. Die Rede von Kurt Dorf zeigt den eindringlichen Aufruf an Marta, die Taten ihres Mannes nicht zu verklären und ihn nicht zum Helden zu stilisieren. Für das deutsche Publikum endet Holocaust mit einer Selbstanklage von Kurt Dorf. Dieser hatte in den besetzten osteuropäischen Ländern als Straßenbau-Ingenieur von den nationalsozialistischen Verbrechen profitiert, jedoch gegenüber seinem Neffen Erik auch Kritik an der Behandlung der Juden geäußert. Kurt Dorf sagt in der Schlussszene im Rückblick auf die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen: "Ich habe mit angesehen, was passiert ist, und nichts dagegen getan. Wir müssen erkennen, dass wir uns alle schuldig gemacht haben."
Die Verantwortlichen des WDR waren davon überzeugt, dass die Massenermordung der europäischen Juden von der Bevölkerung der Bundesrepublik bisher weitgehend verdrängt wurde. Das Ende der US-amerikanischen Version wurde unter dem Aspekt der gebotenen Reflexion des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik von ihnen als nicht förderlich empfunden, weil es zu optimistisch sei und so den Gesamteindruck der Serie gefährdet hätte (Brandt 1999, S. 90). Durch die Kürzungen des WDR ist eine neue Schlusssequenz entstanden, in der durch die Selbstanklage Kurt Dorfs eine Einsicht formuliert wird, mit der Holocaust in der Bundesrepublik "offensichtlich rezipiert werden sollte" (Weiß 2001, S. 78). So gibt ein internes Schreiben aus Peter Märthesheimers Sekretariat das entscheidende Motiv der Verantwortlichen für die Kürzung des Schlusses an:
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Die Schlusssequenzen sind vom WDR gestrichen worden, weil wir (…) der Meinung waren, dass die Szene zwischen Onkel Kurt und Marta Dorf, in der ja auch die für unser Land so zentrale Frage der Mitschuld thematisiert wird, das angemessenere und wirkungsvollere Ende sei.
Die Verantwortlichen haben sich aus gesellschafts- und bildungspolitischen Motiven für die Kürzung des Schlusses der US-amerikanischen Version entschlossen und um die dargestellten Ereignisse dem nationalen Rahmen anzupassen. Sie hatten die Absicht, eine von ihnen für die Bundesrepublik als relevant betrachtete Darstellung der historischen Ereignisse anzubieten: Zumindest im Rückblick auf die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen sollte die Schuldfrage auf die "ordinary men in der NS-Zeit" (Uhl 2003, S. 160; Hervorhebung im Original) gerichtet und die Reflexion von Mitschuld und Verantwortung thematisiert werden.
Es wird zum einen deutlich, dass die Ausstrahlung für die Verantwortlichen einen Test darstellte, inwiefern eine emotionale, fiktionale Fernsehserie zur Förderung des erwünschten politischen Bewusstseins der Bevölkerung beitragen kann. Zum zweiten werden nochmals die gesellschafts- und bildungspolitischen Intentionen, die die beteiligten Akteure der Bundeszentrale für politische Bildung und des WDR mit der Holocaust-Ausstrahlung verbunden haben, verdeutlicht: Denn wie Peter Märthesheimer in einem Schreiben an Günther Rohrbach vom 08.05.1978 formulierte, sollte "der Kritik und den Zuschauern immer klar sein, dass es sich hier (Holocaust, S.S.) um ein einzigartiges politisches Programm handelt und nicht um eine übliche, mehr oder weniger gute Fernsehserie".
5. Die Rezeption von Holocaust
In der bundesdeutschen Presse setzte die Ausstrahlung von Holocaust in den USA eine publizistische Kontroverse in Gang. Publizistische Kontroversen über eine ästhetisch-künstlerische Repräsentation des Holocaust können als Wertkonflikte verstanden werden, in denen um die Legitimität widersprüchlicher und kontroverser Vergangenheitsdeutungen gestritten wird. In diesen öffentlichen Auseinandersetzungen wird deutlich, dass Printmedien eigenständige erinnerungskulturelle Akteure sind. (Thiele 2001, S. 138; Naumann 1998, S. 17).
5.1 Presseberichterstattung
Die Berichterstattung zu Holocaust begann in der bundesrepublikanischen Presse mit einigen wenigen Berichten vor deren Ausstrahlung vom 16. bis 19. April 1978 in den USA. Berichtet wurde vor allem über die Begleitmaßnahmen und Informationsmaterialien, die von den jüdischen Gemeinden, Kirchen und Schulen in den USA angeboten wurden. Die ersten Urteile über die Serie waren wohlwollend, gleichwohl wurde auch zum ersten Mal von einem kommerziellen, trivialen Handlungsverlauf der Serie gesprochen. Die ersten Meldungen der Nachrichtenagenturen zur Ausstrahlung von Holocaust in den USA übermittelten positive und negative Zuschauerreaktionen. Am 19. und 20.04.1978 berichteten nahezu alle namhaften deutschen Tageszeitungen über die Ausstrahlung, wobei vor allem die hohen Einschaltquoten, die Kritik an den Werbeunterbrechungen und die von deutschen Diplomaten in den USA und deutschen Politikern befürchteten antideutschen Reaktionen thematisiert wurden. Dabei bleiben diese ersten Meldungen und Berichte im Wesentlichen in ihren Bewertungen der Serie neutral.
Elie Wiesels moralisch-ästhetische Kritik als erster Trendsetter
Im Anschluss an eine – vom Holocaust-Überlebenden und Bostoner Historiker Elie Wiesel am 16.4.1978 in der New York Times formulierte – moralisch-ästhetische Kritik an Holocaust etablierte sich dann allerdings schnell eine negative Beurteilung der Serie. Wiesel erhob den Vorwurf, die Serie beleidige die Opfer und trivialisiere die historischen Ereignisse. Durch die Verknüpfung von Fiktion und historischen Fakten könne die Glaubwürdigkeit des historischen Ereignisses in Frage gestellt werden. Er verneinte die grundsätzliche Frage nach der Darstellbarkeit des Holocaust, da sich dieser jeder Vorstellungskraft entziehe. Seiner Ansicht nach ist Holocaust nicht ausreichend authentisch und wird somit der Singularität des Holocaust nicht gerecht.
Insbesondere Sabina Lietzmanns Artikel in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.4.1978 wird als Trendsetter für die ablehnende Bewertung von Holocaust in der weiteren bundesdeutschen Berichterstattung eingestuft (Gast 1979, S. 3; Siedler 1984, S. 146). Sie begründete die Produktion von Holocaust mit dem kommerziellen Erfolgsdruck der Fernsehgesellschaft NBC und beklagte die Vermischung von Fakten und Fiktionen als unangemessen. Lietzmann votierte für die Verwendung von Dokumentationen zur Vermittlung historischer Ereignisse. Ihr Beitrag wirkte meinungsbildend auf die weitere bundesdeutsche Presseberichterstattung und die Serie wurde von fast allen Zeitungen abgelehnt (Bergmann 1997, S. 353): Die Ablehnung der Serie beruhte vor allem auf ihrer Konstruktion als Familiendrama, die ihr den Vorwurf der Trivialisierung der Massenermordung der europäischen Juden einbrachte. Aufgrund der ihr zugeschriebenen Unterhaltungsfunktion wurde sie als Medium der historisch-politischen Aufklärung abgelehnt, gemessen wurde sie dabei vorrangig an dem Objektivitätsanspruch rein dokumentarischer Darstellungen, denen allein ein aufklärerisches Potential zugeschrieben wurde (Gast 1979, S. 3ff. & 1982, S. 356f.; Siedler 1984, S. 144ff.). Im Mittelpunkt der Berichterstattung stand in dieser frühen Phase also nicht das historische Ereignis, sondern seine Darstellung.
Die negative Einschätzung der Serie zeigt sich auch an der Kritik von Publizisten, Politikern und Programmverantwortlichen nach der Bekanntgabe des Ankaufs der Serie und der geplanten Ausstrahlung durch den WDR am 25. April 1978. Die behauptete Einflussnahme von politischen Parteien, die Ankaufmodalitäten, die Frage, ob Holocaust in Deutschland überhaupt ausgestrahlt werden solle sowie die Programmplatzentscheidung wurden kontrovers diskutiert. Rückblickend bewertet Schoeps die Berichterstattung der folgenden Monate als eine Stimmungsmache gegen Holocaust (1979, S. 226).
Zuschauerreaktionen in den USA und England leiten Tendenzwende ein
Ab Herbst 1978 zeichnete sich in der bundesdeutschen Presseberichterstattung eine Tendenzwende ab. Als maßgeblich für die "signifikante Einstellungsänderung" (Marchart et al. 2003, S. 312) gilt der Artikel von Karl-Heinz Bohrer zur Reaktion auf die Ausstrahlung in England und die daran anschließende 'Selbstkritik' von Sabina Lietzmann (Gast 1982, S. 356). Bohrer beurteilte die Emotionalisierung der Zuschauer durch die Serie positiv und thematisiert so erstmals in der deutschen Debatte um Holocaust massenmediale Wirkungszusammenhänge. Sabina Lietzmann kommt zu dem Schluss, eine fiktionale Darstellung der historischen Ereignisse angesichts der positiven Reaktionen der amerikanischen Öffentlichkeit akzeptieren zu können, wenn es um die Wahlmöglichkeit gehe, entweder keine Information oder Information durch Unterhaltung zu vermitteln.
Die Tendenzwende in der bundesdeutschen Berichterstattung geht also vorrangig auf die Beobachtung der Massenwirksamkeit von Holocaust in den USA und in England zurück: Die Betroffenheit des amerikanischen und englischen Publikums wurde als das wesentliche Ereignis aufgenommen und die "aufklärerische Wirkung [wurde] nicht an der Qualität der Information, sondern an der Intensität der Betroffenheit" (Marchart et al. 2003, S. 313) gemessen. Die ästhetischen Bedenken gegenüber der Serie traten in den Hintergrund und die fiktionale Darstellung der historischen Ereignisse wurde nun im Hinblick auf die Vermittlung derselben positiv eingeschätzt. So stand die Spekulation über die möglichen Reaktionen des deutschen Publikums ab Herbst 1978 im Mittelpunkt des Interesses und wurde zu dem Thema der Presseberichterstattung (Marchart et al. 2003, S. 312ff.). Der endgültige Meinungsumschwung hin zu einer uneingeschränkt positiven Bewertung der Serie fand nach dem Presseseminar des WDR (11./12. Januar 1979) statt: Die Serie wurde jetzt nahezu ausschließlich in ihren massenkommunikativen Wirkungszusammenhängen beurteilt (Gast 1979 & 1982).
Unmittelbar vor der Ausstrahlung war die Argumentation also unter einem pädagogischen Blickwinkel von der Überzeugung bestimmt, dass die ästhetischen Mängel und die Mängel in der historischen Detailgenauigkeit in Kauf zu nehmen seien. Denn da die Hälfte der deutschen Bevölkerung keine eigenen Erinnerungen mehr an den Nationalsozialismus habe, sei die Serie für sie der einzige nachvollziehbare und empathische Zugang zu den historischen Ereignissen. Das Ende der deutschen Fassung wurde als eine neue Perspektive auf die historischen Ereignisse in der Bundesrepublik beurteilt, die die Zuschauer als eine "neue Erinnerung" treffe. Den Zuschauern wurde die Rezeptionshaltung suggeriert, dass sie mit Holocaust etwas 'Wahres' über die historischen Ereignisse erfahren werden.
Berichterstattung während und unmittelbar nach der Ausstrahlung
In der Sendewoche wurde unter einem pädagogischen Blickwinkel die aufklärerische Wirkung von Holocaust endgültig zum dominanten Thema der Berichterstattung (Bergmann 1997, S. 355f.; Gast 1982, S. 357).
Mit den von Folge zu Folge ansteigenden Zuschauerzahlen und Zuschaueranrufen beim WDR, in denen die emotionale Erschütterung und Betroffenheit, aber auch die Unkenntnis der Anrufer über die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen deutlich wurde (Reichel 2004, S. 258), wurde in der Berichtserstattung die "zunächst nur vage Vermutung zur Gewissheit, dass nämlich der Film die Deutschen ins Mark getroffen hatte." (Wippermann 1979, S. 28). Die weiterhin existierende Kritik an der ästhetischen Gestaltung von Holocaust wurde in den Hintergrund gedrängt, als erkennbar wurde, Interner Link: dass Zuschauer aus allen Alters- und Bildungsgruppen erreicht worden sind. Während der Ausstrahlung dominierte die in dieser Größe und Form unerwartete Resonanz der Zuschauer die Diskussion. Der Erfolg der Serie wurde dementsprechend an den Zuschauerzahlen und der seelischen Betroffenheit der Zuschauer festgemacht (Bergmann 1997, S. 357), die auch als Ausdruck der Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit interpretiert wurde. Holocaust wurde durchaus zugetraut, der konstatierten Verdrängung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und des Holocaust entgegenzuwirken und die nötig befundene Aufklärung leisten zu können.
Nach der Ausstrahlung setzte sich endgültig die Berücksichtigung der Chancen, die eine breitenwirksame TV-Serie der historischen Aufklärung ermöglichen kann, durch. Konstatiert wurden große Versäumnisse bei der Vermittlung von Fachwissen an eine breite Öffentlichkeit. Durch die Fokussierung auf individuelle Schicksale bei der Darstellung der historischen Ereignisse seien die Deutschen jetzt über die Massenermordung der europäischen Juden so ins Bild gesetzt worden, dass Millionen erschüttert und aufgerüttelt wurden. Die emotionalisierende Wirkung und das somit ausgelöste Interesse wurden nun also als Stärke und Verdienst der Serie betrachtet, wobei ihre Wirkung aber nicht ausschließlich ihren immanenten Eigenschaften, sondern vor allem der besonderen Rezeptionsbereitschaft des deutschen Publikums zugeschrieben wurde. Schließlich bezog sich der Großteil der erscheinenden Berichte und Meldungen auf die nunmehr angestoßene Aufarbeitung der Vergangenheit (Müller-Bauseneik 2005, S. 131), so dass in der Presseberichterstattung "letztlich die 'Vergangenheitsbewältigung' der letzten dreißig Jahre in der Bundesrepublik zur Debatte" (Bergmann 1997, S. 357) stand.
Die Einschaltquoten von Holocaust sowie der folgenden 'Anruf erwünscht'- Sendungen stiegen kontinuierlich an und die Serie erreichte Zuschauer aus allen Alters- und Bildungsgruppen: Schätzungsweise hat jeder zweite Erwachsene Holocaust gesehen (Interner Link: Magnus 1979b, S. 79f.). Die deutliche Mehrheit der spontanen Zuschauerreaktionen – Zuschaueranrufe zu 'Anruf erwünscht' und Briefe an den WDR – befürwortete die Serie (Brauns-Clemens & Vollmann o. J., S. 78), wobei insbesondere die Identifikationsmöglichkeiten mit den Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen und die Fokussierung auf die systematische Massenermordung der europäischen Juden bei der Darstellung des Nationalsozialismus positiv bewertet wurden. In den ablehnenden Stellungnahmen wurde vor allem auf die Bombardierung durch die Alliierten verwiesen und diese den nationalsozialistischen Verbrechen gegenübergestellt. Auch wurde gefordert, das nationalsozialistische Kapitel der deutschen Geschichte endlich zu vergessen (Brauns-Clemens & Vollmann o. J.; Lichtenstein 1982). Das Informationsdefizit über den Massenmord an den europäischen Juden entwickelte sich zu einem zentralen Fragenkomplex, besonders hingewiesen wurde zudem auf die Diskussionen innerhalb der Familien (Schoeps 1979, S. 228). Auffällig sind die vielen, durch Holocaust angestoßenen, eingehenden Erlebnis- und Erfahrungsberichte, in denen Verbrechen aus der Kriegszeit mit zum Teil präzisen Zeit- und Ortsangaben erinnert wurden (Lichtenstein & Schmid-Ospach 1982, S. 81ff.). In einer Untersuchung von Leserbriefen zeigte sich, dass mehr als die Hälfte aller Zuschriften Stellung zur Zeit des Nationalsozialismus nahmen und die emotionale Darstellungsweise unter dem Aspekt der Informationsvermittlung und der Vergangenheitsbewältigung als positiv beurteilten (Gast 1979 & 1982).
Die Marplan Forschungsgesellschaft führte im Auftrag des WDR ab Herbst 1978 eine dreistufige Begleituntersuchung zu Wissens-, Einstellungs- und Meinungsstrukturen zum Nationalsozialismus und Antisemitismus durch. (Weichert 1980; Interner Link: Magnus 1979a). Die ermittelten Ergebnisse werden aber nicht nur den immanenten Eigenschaften der Serie, sondern dem 'Gesamtprogramm' – dem pädagogischen Begleitprogramm, der Presseberichterstattung und Holocaust – zugeschrieben (Reichel 2004, S. 253ff.; Interner Link: Magnus 1979b, S. 78; Interner Link: Ernst 1979c, S. 235).
Das Publikum von Holocaust setzte sich vorrangig aus jüngeren, formal höher gebildeten und politisch stärker interessierten Personen zusammen, aber auch für die Gruppe der politisch Desinteressierten wurde eine relativ hohe Sehbeteiligung ermittelt (Interner Link: Ernst 1980a, S. 511f.; Interner Link: Magnus 1979b, S. 80). Aus den Ergebnissen der Begleituntersuchung lässt sich ableiten, dass die Serie als authentisch und glaubwürdig wahrgenommen wurde und eine große emotionale Betroffenheit bei den Zuschauern auslöste. Aufgrund ihres hoch bewerteten Informationswerts führte die Serie zu einem subjektiv wahrgenommenen Wissenszuwachs bei einer Mehrheit der Befragten. Holocaust stellte einen Grundreiz dar, sich über die historischen Ereignisse zu informieren und Diskussionen innerhalb und außerhalb der Familie zu führen.
Der Nationalsozialismus wurde nach der Ausstrahlung von den Zuschauern stärker negativ charakterisiert und die Zeit des Nationalsozialismus stärker negativ eingeschätzt, als dies vor der Ausstrahlung der Fall war. Zumindest kurzfristige Meinungsänderungen bezüglich antijüdischer Stereotype, der moralischen Verpflichtung zur Wiedergutmachung und der Mitschuld wurden verzeichnet; vermehrt wurde der Widerstand gegen den Nationalsozialismus akzeptiert und die weitere Verfolgung von NS-Verbrechen befürwortet (Interner Link: Ernst 1979c, S. 236ff. & Interner Link: 1980a, S. 525f.). Insgesamt zeigen die Ergebnisse der dritten Befragungswelle 14 Wochen nach der Ausstrahlung, dass die Kurzzeiteffekte in der Tendenz stabil blieben, wobei vor allem der Wissenszuwachs von den Befragten weiterhin positiv eingeschätzt wurde (Ernst 1979f & 1980b). So wird dem Medienereignis Holocaust gemeinhin attestiert, bei den Zuschauern mindestens kurzfristige Meinungsänderungen ausgelöst zu haben, zu deren zeitlicher Stabilität jedoch unterschiedliche Einschätzungen vorliegen (Bergmann & Erb 1991, S. 15; Schmidt-Sinns 1991, S. 10; Bergmann 1997, S. 373).
Zusammenfassend lässt sich zum einen festhalten, dass in der Presseberichterstattung ein Umschwung in der Beurteilung der Serie von Ablehnung bis hin zu fast enthusiastischer Zustimmung stattgefunden hat. Zum anderen wurden die Zuschauer durch den pädagogischen Blickwinkel der Presseberichterstattung zu einer Rezeptionshaltung angeleitet, in deren Fokus die Betroffenheit angesichts der individuellen Schicksale stand. Die Ästhetik der Serie wurde von den meisten Kritikern abgelehnt, bis die große Zuschauerresonanz deutlich machte, dass gerade die personalisierte, dramatisierte und emotionalisierte Erzählweise uninformierte Zuschauer mit einer Thematik konfrontieren konnte, die bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen Weg in das öffentliche Bewusstsein der Bundesrepublik gefunden hatte: dem Holocaust und dem individuellen Schicksal der Opfer rassischer Verfolgung. Die Quantität und Qualität der Berichterstattung zeigt, dass mit Holocaust nicht nur eine Fernsehserie zur Debatte stand, "sondern ein kulturpolitisches Ereignis von historischer Tragweite" (Gast 1979, S. 2; Hervorhebung im Original). Über dieses wurde inhaltlich und thematisch äußerst umfangreich und vielschichtig berichtet, so dass Personen mit den Themen Nationalsozialismus und Holocaust konfrontiert werden konnten, die eine künstlerische Auseinandersetzung auf einem hohen ästhetischen und intellektuellen Niveau bis dahin nicht erreicht hatte (Markovits & Hayden 1980, S. 78; Huyssen 1980, S. 135f.). Dieser Erfolg der Serie beim Publikum wird als Auslöser für eine ganze Reihe von Reaktionen in den Massenmedien, im politischen System, in Schulen und der politischen Bildung gesehen. Rückblickend wurden die gesamten öffentlichen Reaktionen als Bereitschaft interpretiert, "sich der deutschen Schuld für die Vernichtung der europäischen Juden zu stellen" (Wilke 2005, S. 9).
6. Die erinnerungskulturelle Funktionalisierung von Holocaust
Mit der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust traf 1979 eine audiovisuelle Darstellung des Nationalsozialismus, die die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in den Mittelpunkt stellt, als eine quasi externe Intervention in die bundesdeutsche Erinnerungskultur. Bis zu diesem Zeitpunkt blieb die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik allenfalls auf die Tätergesellschaft beschränkt, die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen blieben anonym und die Frage nach der Mitschuld von breiten Bevölkerungsschichten beim Holocaust spielte keine Rolle. Konfrontiert mit einer weltweit vertriebenen Repräsentation eines spezifisch nationalen, nämlich US-amerikanischen kulturellen Gedächtnisses, welches die jüdische Opferperspektive hervorhebt, veränderte der WDR in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung die US-amerikanische Originalversion gemäß subjektiv empfundener, zeitspezifischer Bedürfnisse und passte sie den gruppenspezifischen, also den nationalen bundesdeutschen Bedeutungsrahmen an. Die Verantwortlichen des WDR stellten eine deutsche Version für ein deutsches Publikum her, dem sie bestimmte soziale Eigenschaften zuschrieben: einen mangelhaften Wissensstand über den Nationalsozialismus, eine stärkere Erinnerung an 'positive' Rechtfertigungsklischees als an die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und rechtsextreme Einstellungen sahen sie insbesondere unter Jugendlichen weit verbreitet. Die vorgenommenen Veränderungen und das pädagogische Begleitprogramm reflektieren die erinnerungskulturelle Funktionalisierung der Serie. Durch dieses Erinnerungsereignis sollten die Gewaltverbrechen in der bundesdeutschen Erinnerungskultur verankert und die Opfer in den Fokus der Vergegenwärtigung des Nationalsozialismus gestellt werden. Zum einen sollte durch die Vertauschung von Szenenfolgen die Legitimität und Notwendigkeit des Widerstands stärker veranschaulicht werden. Zum anderen wird mit der Selbstanklage, mit der die deutsche Version endet, ein Rezeptionsangebot geschaffen, welches die spezifisch deutsche Täterschaft und eine klare Wertperspektive auf die Reflexion der historischen Ereignisse betont. Damit wird die Mitschuld und Verantwortung größerer Teile der Bevölkerung zumindest im Rückblick thematisiert und die Schlusssequenz bietet so einen neuen Aspekt in der Vergegenwärtigung von Nationalsozialismus und seinen Gewaltverbrechen.
Die verantwortlichen Akteure des WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung sahen in der Ausstrahlung von Holocaust folglich die Erfüllung ihres Informations- und Bildungsauftrags und im Zentrum ihrer Bemühungen stand letztendlich die Veränderung des kollektiven Wissensbestands über den Nationalsozialismus und den Holocaust. Aufgrund dieser Motive nahmen sie nicht nur Veränderungen an der US-amerikanischen Originalversion vor, sondern entwickelten ein pädagogisches Rahmenprogramm, was gewährleisten sollte, dass die Rezeption von Holocaust nicht ohne Begleitung durch bildungspolitische Institutionen erfolgt.
Dabei bestehen zunächst erhebliche Vorbehalte der Verantwortlichen gegen die Serie, die vor allem aus der Darstellung der historischen Ereignisse anhand einer fiktionalen Familiengeschichte, die die Ereignisse personalisiert, und dem emotionalisierten und dramatisierten Handlungsverlauf resultierten. Aufgrund dessen war eine mögliche aufklärerische Wirkung der Serie von ihnen und in der Presse zunächst umstritten. Wegen der enormen Zuschauerresonanz in den USA und England wurde die personalisierte und emotionale Darstellung aber bald als Stärke der Serie eingestuft, da sie als eine Voraussetzung für die Identifikation der deutschen Zuschauer mit den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen gewertet wurde. Die Verantwortlichen des WDR und der Bundeszentrale für politische Bildung erwarteten, dass die Serie Diskussionen im alltäglichen Bereich über die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen auslösen würde, die sie in der Öffentlichkeit als bisher verdrängt betrachteten. Diese Diskussionen sollten den Ausschlag für ihre Bewertung der Serie geben und auch die Grundlage für weitere politische Bildungsarbeit bilden. In der Presseberichterstattung etablierte sich ein pädagogischer Blickwinkel auf die Serie, in welchem der personalisierten und emotionalisierten Darstellung ein erzieherischer Wert zugesprochen wurde, da diese eine Möglichkeit zur Identifikation mit den Opfern bietet. Holocaust wurde letztendlich zugetraut, Aufklärung über die historischen Ereignisse leisten zu können. Dementsprechend rückten die Zuschauerreaktionen in den Fokus der Berichterstattung, die spätestens während der Ausstrahlung zum eigentlichen Ereignis wurden. Bewertet wurde die Serie also als ein erinnerungskulturelles Instrument und nicht als ein unterhaltendes Medienprodukt. Durch die Diskussionen im Vorfeld, die Presseberichterstattung und das pädagogische Rahmenprogramm definierten Rundfunkverantwortliche, Politiker und Journalisten in öffentlichen Auseinandersetzungen die Ausstrahlung der Serie als ein erinnerungskulturelles Ereignis, durch das eine neue Perspektive auf den Nationalsozialismus und seine Gewaltverbrechen vermittelt wird. Diese Rezeptionshaltung wurde auch den Zuschauern suggeriert.
Dass die Serie trotz ihrer Fiktionalität und Emotionalisierung von den Zuschauern als authentisch und damit als glaubwürdig eingeschätzt wurde, lässt annehmen, dass die Serie eher als historische Dokumentation denn als reine Unterhaltungssendung rezipiert wurde, was der suggerierten Rezeptionshaltung entsprach. Die Wirkung auf das Publikum bestand zum einen in emotionaler Betroffenheit, wodurch ein Interessenschub für das Thema Nationalsozialismus und Holocaust ausgelöst wurde. Die Fernsehserie als Repräsentation des kulturellen Gedächtnisses konnte das kommunikative Gedächtnis anregen, indem sie Diskussionen in Familien und Bekanntenkreisen anstieß. Zum anderen kam es vor allem bei jungen Zuschauern zu einem subjektiv wahrgenommenen Wissenszuwachs über die NS-Zeit. Zudem wurden – zumindest kurzfristig – die negativen Aspekte des Nationalsozialismus stärker ins Bewusstsein gerufen, die Zustimmung zum Widerstand gegen Hitler wuchs und die bisherige Position zum Nationalsozialismus veränderte sich.
Ob allerdings von einem medialen Erinnerungsereignis auf stabile Veränderungen von Inhalten des kollektiven Gedächtnisses geschlossen werden kann, ist fraglich, zumal miteinander konkurrierende Gedächtnisse verschiedener Erinnerungsgemeinschaften und die Vieldeutigkeit von Erinnerungsbildern für demokratische Gesellschaften charakteristisch sind. Zumindest drei Aspekte der gesellschaftlichen Vergegenwärtigung des Nationalsozialismus und des Holocaust sind in zeitlicher Folge der Holocaust-Ausstrahlung zu konstatieren: Zum einen rücken ab den 1980er Jahren zunehmend die jüdischen Opfer in den Mittelpunkt. Zum zweiten erfährt die fiktionale Darstellung des Holocaust eine größere Akzeptanz und zum dritten erhält die Massenermordung der europäischen Juden einen über alle Sprach- und Kulturgrenzen hinweg verstehbaren Namen: 'Holocaust'.
Nicht die Serie als kulturelle Repräsentation allein, sondern vielmehr ihre erinnerungskulturelle Funktionalisierung durch die beteiligten Akteure machen sie in der Bundesrepublik als Erinnerungsereignis bedeutsam. Dies verdeutlicht, dass die Erinnerungskultur das Produkt eines sozialen Prozesses der Vergegenwärtigung der Vergangenheit aufgrund gegenwärtiger Interessen beteiligter Akteure ist, so dass sich Erinnerungskultur in Anlehnung an Burke als "Sozialgeschichte des Erinnerns" (1991, S. 291) betrachten lässt.
Dieser Aufsatz ist 2007 erschienen in: Historical Social Research, Vol. 32 — 2007 — No. 1, 189-248.
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Studium der Soziologie, Ethnologie und Germanistik in Köln. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Externer Link: GESIS.