Städte, Kreise und Gemeinden sind stets konkretes Ziel von Migrationsbewegungen. Sie gelten seit jeher als Orte der gelingenden bzw. misslingenden Integration.
Wurzeln des "local turn": von Integrationsmaßnahmen zur strategischen Politikgestaltung
Der "local turn" beginnt keineswegs erst mit der Fluchtzuwanderung der Jahre 2015/16. Zahlreiche Kommunen waren bereits lange in der Integrationspolitik aktiv, bevor sich Ende des 20. Jahrhunderts die meisten europäischen Staaten offiziell als Einwanderungsländer begriffen und eine nationale Integrationspolitik entwickelten.
Als Anfang der 2000er Jahre immer mehr Nationalstaaten begannen, auf die Gestaltung von Integrationsprozessen Einfluss zu nehmen, wurde die Situation komplexer. Gewachsene lokale Ansätze trafen auf neue nationale Vorgaben, beispielsweise zum Durchführen von Sprachkursen. Zwar bedeutete das zumindest im Falle Deutschlands, dass sich die Bundesebene auch finanziell einbrachte. Doch der Bund erließ eben auch verbindliche Förderrichtlinien, beispielsweise für Interner Link: Integrationskurse. Diese Entwicklung fiel zusammen mit den ohnehin bereits auf mehrere Ebenen verteilten Zuständigkeiten im Asyl- und Aufenthaltsrecht. Der Bund entscheidet beispielsweise über Asylanträge, die Kommunen befinden in ihren Ausländerbehörden über Aufenthaltserlaubnisse oder Abschiebungshindernisse. Ähnliches gilt für die Unterbringung oder Sozialleistungen für Geflüchtete. Zwischen Bund und Kommune stehen zudem die Bundesländer, die in die Umsetzung dieser "Pflichtaufgaben" eingreifen können.
Die migrationsbezogenen Aufgaben sind in den Kommunen bis heute häufig auf verschiedene Ämter verteilt und werden selten strategisch zusammen mit anderen Integrationsaufgaben gedacht. Daraus ergibt sich ein Interner Link: unübersichtliches Geflecht an Kompetenzen und Maßnahmen, in dem sich häufig sogar die Verwaltungsspitze verläuft. Bereits vor 2015 war vielen Kommunen bewusst, dass es einer strategischen Zusammenführung der migrationsbezogenen Aufgaben bedurfte. Einige Städte (u.a. Wuppertal) hatten schon damit begonnen, die meisten migrationsbezogenen Aufgaben unter einem Dach zu zentralisieren. Dies betrifft beispielsweise die Ausländerbehörde, Sozialleistungen für Asylsuchende, aber auch Projekte zur Gemeinwesenarbeit oder die Zusammenarbeit mit dem Jobcenter. Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass ein kohärenter lokaler Politikansatz Integrations- und Migrationspolitik miteinander in Einklang bringen muss.
Eine neue Rolle für Kommunen? Die Fluchtzuwanderung 2015/16 als Beschleuniger des "local turn"
Die Fluchtzuwanderung der Jahre Interner Link: 2015/16 fungierte nun als Katalysator für diese Suche nach Kohärenz vor Ort: Plötzlich war Interner Link: Migration kein Randthema mehr, sondern wurde im grellen Scheinwerferlicht der lokalen Öffentlichkeit diskutiert. Lange ignorierte Inkohärenzen und Widersprüche traten nun offen zutage. Durch die breite geografische Verteilung der Schutzsuchenden wurden zudem nicht nur Großstädte, sondern auch ländlichere Räume mit migrationspolitischen Fragen konfrontiert. In der Folge wurden in der überwiegenden Mehrheit der kreisfreien Städte und Landkreise organisatorische Strukturen professionalisiert, auch Integrationskonzepte erlebten einen "zweiten Frühling".
All diese Entwicklungen sorgten für ein Klima, in dem es sich Kommunen – Bürgermeister*innen, Landrät*innen und Ansprechpartner*innen in der Verwaltung – heute zutrauen, auf migrationspolitische Regelungen anderer Ebenen Einfluss zu nehmen. Dies tun sie einerseits eher diskret über persönliche direkte Kontakte zu Politiker*innen oder Mitarbeiter*innen in Ministerien.
In Deutschland ist mit Blick auf kommunale Einmischung in Fragen der Aufnahme Geflüchteter das von der zivilgesellschaftlichen Initiative "Interner Link: Seebrücke" angestoßene Bündnis "Städte Sicherer Häfen" zu nennen: Hier versammeln sich Kommunen, die anbieten, aus Seenot gerettete Schutzsuchende aufzunehmen. Auch wenn sich der Grad der Aufnahmebereitschaft dabei von Kommune zu Kommune unterscheidet, werden die lokalen Absichtserklärungen zur Aufnahme von Geflüchteten doch meist durch ein breites lokales Bündnis aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft getragen. Diese hohe Sichtbarkeit sorgt dafür, Interner Link: dass die Forderungen in Landesparlamenten und dem Bundestag diskutiert werden. Wie weit die Spielräume zur kommunalen Aufnahme von Flüchtlingen reichen bzw. sie dazu berechtigt sind, eigene Programme für die Aufnahme von Flüchtlingen zu entwickeln oder ob solche Bestrebungen der einwanderungspolitischen Kompetenz des Bundes zuwiderlaufen, ist umstritten und wird gegenwärtig aus rechtspolitischer und verfassungsrechtlicher Perspektive diskutiert (siehe Interner Link: hier).
Wie weit geht der "local turn"? Präzisierungen und Einschränkungen
Bislang haben die kommunalen Aktivitäten im Bereich der Flüchtlingsaufnahme außer hitzigen Debatten wenig Materielles bewirkt. Dies liegt vor allem daran, dass sich Kommunen hier eindeutig außerhalb ihrer rechtlichen Kompetenzen bewegen. Sie können im Sinne des viel zitierten Ausspruchs "nations talk, cities act" (Nationen reden, Kommunen handeln) eben nicht einfach handeln, sondern bräuchten dafür eine grundlegende Änderung des europäischen oder deutschen Asylsystems. Der "local turn" besteht also nicht darin, dass Kommunen nun plötzlich ganz andere Kompetenzen hätten. Neu ist vielmehr, dass Kommunen sich politisch für größere Handlungsspielräume in der Migrations- und Flüchtlingspolitik einsetzen. Dies ist eine deutliche Abkehr von ihrem bisherigen, auf lokal Machbares konzentrierten Selbstverständnis als "Orte der Integration". Kommunale Migrationspolitik wird in diesem Sinne politischer.
Der "local turn" bedeutet jedoch nicht, dass alle Kommunen ihn im Sinne einer "migrationsfreundlichen" Politik auslegen. Stattdessen nutzen Kommunen auch ihre Handlungsspielräume, um die Aufnahme von Geflüchteten einzuschränken. Ein Beispiel, bei dem die Handlungsspielräume von Kommunen nach intensiven politischen Debatten faktisch ausgeweitet wurden, ist die Umsetzung der mit dem Interner Link: Integrationsgesetz 2016 eingeführten sogenannten Wohnsitzauflage. Mit dieser Regelung können anerkannte Flüchtlinge verpflichtet werden, für zunächst drei Jahre an einem Ort wohnen zu bleiben – oder nicht in bestimmte Orte zu ziehen. Die Bundesländer legen das Bundesgesetz unterschiedlich aus; in Niedersachsen z.B. haben die Kommunen ein erhebliches Mitspracherecht. So setzte etwa Salzgitter durch, dass zunächst keine anerkannten Flüchtlinge mehr ihren Wohnsitz in die Stadt verlegen dürfen. Andere Kommunen, wie beispielsweise das brandenburgische Cottbus, hatten zeitweise in Verhandlungen mit dem Land durchgesetzt, dass der Stadt keine Asylbewerber*innen mehr zugewiesen wurden. Doch auch wenn hier Kommunen nicht im Sinne einer offeneren Migrations- und Flüchtlingspolitik agieren, sind sie doch im Sinne des "local turn" aktiv.
Eine Einschränkung des "local turn" besteht nun genau darin, dass sich keineswegs alle Kommunen in der Migrations- und Flüchtlingspolitik von einer passiven zu einer aktiven Rolle bewegen. Zahlreiche Kommunen bleiben untätig oder rein reaktiv. Die Gründe dafür können vielfältig sein. So nehmen sie beispielsweise die rechtlichen Rahmenbedingungen als undurchsichtig wahr oder verorten Handlungskompetenzen ausschließlich auf der Ebene des Bundes oder der Länder. Gerade in ländlichen Räumen nehmen Entscheidungsträger*innen häufig an, dass Geflüchtete ohnehin nicht dauerhaft am Ort bleiben, sondern in die nächste Stadt abwandern würden. Unter dieser Annahme unterbleibt aktive, halteorientierte Politik.
Diese Einschränkung zeigt, dass kommunale Migrationspolitik nicht über einen Kamm geschoren werden kann. Städte, Kreise und Gemeinden unterscheiden sich hinsichtlich ihrer rechtlichen Handlungsmöglichkeiten, ihrer finanziellen Ausstattung, hinsichtlich ihrer Ländlichkeit, Bevölkerungszusammensetzung, lokalen Migrationsgeschichte oder auch hinsichtlich des Vorhandenseins einer aktiven (migrantischen) Zivilgesellschaft. Doch auch wenn der "local turn" für einige Kommunen ausbleibt, so bewirkt doch die gestiegene Aktivität anderer, dass über die Rolle von Kommunen im europäischen und deutschen Mehrebenensystem der Migrationspolitik neu nachgedacht wird.
Dieser Artikel ist Teil des Interner Link: Kurzdossiers "Kommunale Migrations- und Flüchtlingspolitik".