Die Frage nach dem Zusammenhang von Migration und Entwicklung stand schon immer im Mittelpunkt der Migrationsforschung. Migration war, wie frühe Arbeiten seit Ende des 19. Jahrhunderts zeigen, mit wirtschaftlichen und damit zusammenhängenden sozialen Entwicklungsdynamiken verbunden. Diese Dynamiken waren einerseits Ursache von Migration, so der deutsch-britische Demograph Ernest Georg Ravenstein (1885, 1889), andererseits trug auch Migration entscheidend zu Entwicklungsdynamiken bei, wie Jackson Frederick Turner (1921 [1893]) am Beispiel der USA feststellte
Wer für den Migrations- und Entwicklungsnexus einen zentralen theoretischen Rahmen sucht, wird nicht fündig werden, wenn auch die Relevanz des Zusammenhangs an sich unbestritten ist. Ob aber der Zusammenhang von Migration und Entwicklung negativ (etwa Unterentwicklung führt zu Migration, Migration verstärkt negative Entwicklungsdynamiken) oder positiv gezeichnet wird (Migration trägt zu einer Angleichung von Entwicklungschancen bei), hängt auch mit den unterschiedlichen Konjunkturzyklen von Entwicklungstheorien sowie Entwicklungen in den Sozialwissenschaften und theoretischen Ansätzen zusammen.
In Anbetracht des Fehlens eines umfassenden theoretischen Ansatzes zu Migration und Entwicklung, stellen wir in vier Bereichen zentrale theoretische Konzepte und Theorien vor, die die Zusammenhänge von Migration und Entwicklung beleuchten: Erstens Forschungsansätze, die die Auswirkungen von generellen Entwicklungs- und Transformationsprozessen auf Migration beschreiben (Theorie des "Migrationsübergangs" und des "Migrationsbuckels"); dann theoretische Ansätze, die Migration mit bestehenden ökonomischen Asymmetrien erklären ("neoklassische Migrationstheorien"); Migration im Zusammenhang mit dem Ansatz von "Entwicklung als Freiheit" sowie pluralistische theoretische Ansätze, die die Wechselwirkungen von Migration auf Entwicklung und vice versa besonders auf der Mikroebene, d.h. unter Beobachtung des individuellen menschlichen Verhaltens, in den Blick nehmen.
Auswirkungen von Entwicklungs- und Transformationsprozessen auf Migration
Die bis heute einflussreichste Theorie zum Zusammenhang von Migration und Entwicklung wurde Anfang der 1970er Jahre von Wilbur Zelinksky formuliert. Nach der These der "Mobility Transition" (Mobilitätsübergang)
Der "Migrationsbuckel" (Interner Link: Grafik zum Download) (© bpb)
Der "Migrationsbuckel" (Interner Link: Grafik zum Download) (© bpb)
In den 1990er Jahren wurde die Idee eines Mobilitätsübergangs in der Form der These eines "migration humps" ("Migrationsbuckel") weiterentwickelt.
Migration als Ausdruck ökonomischer Asymmetrien
Verwendet man den Interner Link: Index der Menschlichen Entwicklung (HDI) – ein möglicher Maßstab der quantitativen Messung von Entwicklung – zeigt sich, dass Auswanderungsraten in Ländern mit niedrigem HDI geringer sind als in Ländern mit einem hohen HDI. So weisen Länder mit niedrigem HDI eine Auswanderungsrate von vier Prozent auf, verglichen mit acht Prozent in Ländern mit hohem HDI. In Subsahara-Afrika beispielsweise liegt der Anteil der AuswandererInnen an der Gesamtbevölkerung bei 2,5 Prozent, während er sich in Europa und Zentralasien auf 10,7 Prozent beläuft. Dies widerspricht der öffentlichen Wahrnehmung: In vielen Medienberichten und politischen Statements wird suggeriert, dass gerade aus armen, wenig entwickelten Ländern viele Menschen abwandern.
Von Migration als Ausdruck wirtschaftlicher Gefälle gehen auch neoklassische Migrationstheorien aus. Auf der Makroebene (dem Wirtschaftssystem) betrachten sie Migration als Ergebnis einer Ungleichzeitigkeit von Angebot an und Nachfrage nach Arbeitskräften. Regionen oder Länder mit einem großen Angebot an Arbeitskräften weisen ein niedriges Lohnniveau auf, während es sich in Regionen oder Ländern mit einem limitierten Angebot umgekehrt verhält. Diese Lohnunterschiede veranlassen Arbeitskräfte, an Orte mit höheren Löhnen zu wandern. Migration, so die Annahme, würde somit zur Herstellung eines Gleichgewichts hinsichtlich Arbeitskräfteangebot und Löhnen beitragen.
In den 1970er Jahren setzte sich Kritik gegenüber den neoklassischen Theorien und den Theorien des Mobilitätsübergangs, die beide in modernisierungstheoretischen Traditionen verwurzelt waren, durch. Ansätze des Mobilitätsübergangs wurden besonders für ihre implizite Annahme kritisiert, "vormoderne" Gesellschaften hätten keine nennenswerte Mobilität gekannt. Außerdem wurde der Fokus auf die transatlantischen Migrationsbewegungen kritisiert, die jedoch nur einen, wenn auch wichtigen, Teil der globalen Migrationen der damaligen Zeit ausmachten.
Migration (und Nicht-Migration) als Freiheit
Migration ist teuer. Daher ist ein Mindestmaß finanzieller Mittel notwendig, um migrieren zu können. Ebenso setzt die Möglichkeit, sich gegen eine Migration zu entscheiden, einen gewissen Entwicklungsgrad und das Nichtvorhandensein externer Faktoren voraus, die die Migrationsentscheidung grundlegend beeinflussen (z.B. Zwang zur Abwanderung aufgrund von Verfolgung oder Krieg). Nobelpreisträger Amartya Sens Verständnis von Entwicklung als Freiheit
Insgesamt zeigt sich, dass negative Entwicklungseffekte von Migration in solchen Ländern überwiegen, die generell von ungünstigen Entwicklungsbedingungen betroffen sind und deren politisches System autoritär oder von Staatszerfallsprozessen geprägt ist und sich der Zugang zu nicht-ausbeuterischen Formen von Arbeit(smigration) als schwierig bis unmöglich erweist.
Wechselwirkungen zwischen Migration und Entwicklungen auf der Haushaltsebene
Die bereits dargestellten theoretischen Ansätze, besonders die Theorien des Mobilitätsübergangs, legen den Fokus darauf, wie breitere Entwicklungsprozesse Migrationsdynamiken beeinflussen. Mit der Entwicklung neuer theoretischer Ansätze in der Migrations- und Entwicklungsforschung ab den 1980er Jahren wurde die Rolle von MigrantInnen in der Veränderung von sozialen und ökonomischen Bedingungen besonders auf der Ebene des Haushaltes im Herkunfts- und Aufnahmekontext empirisch untersucht.
Die in den späten 1980er und 1990er Jahren erkannte Bedeutung der Interner Link: Netzwerke von MigrantInnen für die Selbstreproduktion von Migrationsbewegungen war der Anfang eines neuen Forschungsthemas und einer neuen theoretischen Strömung – das Entstehen transnationaler, also über das Zielland hinausgehende, Räume und Identitäten.
Fazit und Ausblick
Viele der theoretischen Ansätze zum Zusammenhang zwischen Migration und Entwicklung sind historisch spezifisch oder können empirisch widerlegt werden, wie die neoklassischen Annahmen, dass niedrige Löhne und Armut mit einer höheren Migrationsneigung einhergehen. In diesem Beitrag wurde jedoch aufgezeigt, dass die einzelnen theoretischen Ansätze jeweils einen Beitrag zum Erkenntnisgewinn leisten und eine Kombination der Ansätze sinnvoll erscheint.
Konsens besteht darüber, dass es keine allgemeingültigen Aussagen zu den Auswirkungen von Migration auf Entwicklung gibt. Vielmehr sind die Auswirkungen kontextspezifisch und von den sozio-ökonomischen und legalen Rahmenbedingungen, dem Entwicklungskontext im Aufnahme- und Herkunftsland sowie den Beziehungen von MigrantInnen zu ihrem Herkunftsland abhängig. Ebenso besteht Einigkeit darüber, dass nicht nur mangelnde Entwicklung, sondern auch die Wahrnehmung der Verwirklichungschancen und -bestrebungen ausschlaggebend für Migrationsbewegungen ist. Auch staatliche Politik, im Zusammenspiel mit anderen strukturellen Faktoren, hat darauf bedeutende Auswirkungen. So haben Migrationspolitiken vor allem Einfluss auf die Selektivität von Migration, also die Auswahl von bestimmten Kategorien von MigrantInnen, aber nicht unbedingt auf die Migrationszahlen.
Eine fundamentale Leerstelle in der Migrations- und Entwicklungsdebatte ist jedoch das Fehlen einer Debatte über den Stellenwert von Migration in Prozessen sozialen Wandels und damit zusammenhängend das Fehlen einer kritischen Problematisierung des Entwicklungsbegriffes.
Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Migration und Entwicklung.