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Asyl- und Flüchtlingspolitik in den Visegrád-Ländern

Paula Beger

/ 8 Minuten zu lesen

Die ostmitteleuropäischen Visegrád-Staaten fallen regelmäßig durch ihre Blockadehaltung gegenüber der gemeinsamen europäischen Asylpolitik auf. Ihre eigene Asylpolitik war aber nicht immer restriktiv. Ein historischer Abriss.

Treffen der Staatschefs der Visegrád-Gruppe im Oktober 2017. Die Regierungen von Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei unterstützen eine restriktive Asylpolitik. (© picture-alliance, NurPhoto)

Die Regierungen und die Bürgerinnen und Bürger der Visegrád-Länder hatten nach dem Interner Link: politischen Systemwechsel Ende der 1980er Jahre den starken Wunsch, möglichst rasch der EU beizutreten. Dies erforderte die Anpassung verschiedener Politikbereiche an EU-Vorgaben. Im Bereich Asyl und Flucht waren die Regierungen der Visegrád-Staaten kaum erfahren und suchten nach Vorbildern, um diesen Politikbereich neu aufzubauen. Bis dahin hatten die Länder nur wenigen kommunistischen Asylsuchenden Schutz gewährt. Zu größeren Fluchtbewegungen war es stattdessen in umgekehrter Richtung gekommen, als zehntausende Menschen infolge von niedergeschlagenen Aufständen im Jahr Interner Link: 1956 aus Ungarn und im Jahr Interner Link: 1968 aus der Tschechoslowakei flohen. Die im Vergleich zu westlichen Systemen eher geschlossenen Asylregime der osteuropäischen Staaten wurden mit dem politischen Systemwechsel geöffnet, woraufhin internationale Flüchtlinge in diesen Ländern Asyl beantragen konnten. In Ungarn und der Tschechoslowakei begann infolgedessen zunächst eine flüchtlingsfreundliche Phase der Asylpolitik.

Die Visegrád-Länder

Nach dem Interner Link: politischen Systemwechsel im Jahr 1989 beschlossen die Regierungen der ostmitteleuropäischen Länder Polen, Tschechoslowakei und Ungarn, möglichst rasch der EU beizutreten. Bei einem Treffen in der ungarischen Stadt Visegrád im Jahr 1991 vereinbarten die Regierungschefs eine verstärkte Zusammenarbeit, um die Aufnahme in die EU zu beschleunigen. Kurz darauf kam es zu einer friedlichen Staatsteilung der Tschechoslowakei. Das tschechoslowakische Parlament beschloss die Auflösung der Föderation, woraus die Tschechische und die Slowakische Republik als zwei unabhängige Staaten hervorgingen. Die Visegrád-Gruppe bestand deshalb seit dem Jahr 1993 aus vier Ländern. Bis zur Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen trafen sich deren Ministerinnen und Minister, um sich zu Themen wie Handel, Bildungsfragen und dem ebenfalls angestrebten Interner Link: NATO-Beitritt abzustimmen. Nachdem die vier Länder im Jahr 2004 der EU beigetreten waren, hatten die Regierungsvertreter ihr wichtigstes Ziel erreicht. Dennoch beschlossen sie, die Zusammenarbeit fortzusetzen. Sie förderten den kulturellen und wissenschaftlichen Austausch, kooperierten in politisch unumstrittenen Bereichen wie Infrastruktur und Energiesicherheit und brachten nach ihrem Beitritt zur EU ihre Erfahrungen in die EU-Erweiterungspolitik ein. Asyl- und Flüchtlingspolitik war als eine innenpolitische Angelegenheit jedoch lange Zeit kein Thema der Partnerschaft.

Infolge der Interner Link: rumänischen Revolution Ende der 1980er Jahre flüchteten tausende Menschen nach Ungarn. Viele von ihnen waren Angehörige der ungarischen Minderheit in Rumänien und wurden daher von der ungarischen Bevölkerung kaum als Flüchtlinge wahrgenommen. Bis Ende der 1990er Jahre bewilligte die ungarische Regierung rund 100.000 Flüchtlingen aus den Interner Link: Kriegsregionen in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens einen vorübergehenden Schutzstatus mit einer Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr.

Das tschechoslowakische Parlament stimmte Anfang der 1990er Jahre mehrheitlich für eine liberal ausgerichtete Asyl- und Flüchtlingspolitik. Dies geschah auch mit dem Hinweis darauf, dass in den vorangegangenen Jahrzehnten hunderttausenden tschechoslowakischen Flüchtlingen Asyl in anderen europäischen Ländern gewährt worden war. Im tschechoslowakischen Innenministerium entschieden daraufhin Verwaltungsbeamtinnen und -beamte häufig positiv über Asylanträge. Die Anzahl der Asylsuchenden fiel jedoch bis zum Jahr 1993 mit durchschnittlich unter 2.000 Antragstellenden gering aus.

Demgegenüber war das Asylregime in Polen seit seiner Entstehung Ende der 1980er Jahre weniger liberal. Der Fokus der polnischen Regierungen dieser Zeit lag darauf, Fluchtbewegungen nach Polen zu begrenzen und mögliche umfangreiche Fluchtmigrationen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken in Richtung Polen zu kontrollieren. Die Asylsuchendenzahlen stiegen zwar bis Ende der 1990er Jahre an, waren jedoch nie höher als 3.500 Anträge im Jahr.

Asyl- und Flüchtlingspolitik nach westeuropäischem Vorbild

1998 nahm die Europäische Kommission die Beitrittsverhandlungen mit der polnischen, tschechischen und ungarischen Regierung auf. Das Beitrittsgesuch der slowakischen Regierung hatte die Europäische Kommission 1997 abgelehnt, weil der slowakische Ministerpräsident Vladimír Mečiar zunehmend autoritär regierte. Seine Abwahl 1998 ebnete dann aber den Weg für Beitrittsverhandlungen ab 1999.

In den Visegrád-Staaten bestand zu diesem Zeitpunkt ein parteiübergreifender Konsens, die Beitrittsanforderungen der EU umzusetzen. Innerhalb weniger Jahre wurden deshalb auch die nationalen Asylgesetze an die EU-Gesetze angepasst und die Asylverwaltung wurde fachlich ausgebildet.

Im Beitrittszeitraum 1998 bis 2003 orientierten sich die Regierungen der Visegrád-Gruppe an der sicherheitsfokussierten Asylpolitik westeuropäischer EU-Länder. Sie führten deshalb verstärkt restriktive Maßnahmen gegenüber Asylantragstellenden ein und wendeten sich von ihrer zuvor liberal ausgerichteten Asylpolitik ab. In der Folge führten niedrige Asyl-Anerkennungsraten, eine hohe Zahl an Inhaftierungen und kaum ausgebaute Integrationsmöglichkeiten dazu, dass viele Asylsuchende ihre Asylanträge vorzeitig zurückzogen oder in andere EU-Länder (weiter)migrierten. Diese sogenannte Transitmigration von Flüchtlingen bildete sich in der Beitrittszeit als ein Phänomen der Region Ostmitteleuropas heraus.

Eigene Wege im Rahmen der EU-Mitgliedschaft

Nachdem die EU-Kommission den Regierungen die Erfüllung der Beitrittskriterien attestiert hatte, Interner Link: traten die Visegrád-Länder im Mai 2004 der EU bei. Dadurch entfiel der Druck, Beitrittsbestimmungen erfüllen zu müssen und die Regierungen hatten wieder mehr Spielraum, die nationale Asyl- und Flüchtlingspolitik eigenständig zu gestalten. Gleichzeitig war dieser Spielraum begrenzt, da die Visegrád-Staaten als Mitglieder der EU an die Asylgesetze und die Standards der EU gebunden waren.

Im Zeitraum des EU-Beitritts der Visegrád-Länder waren die Asylantragszahlen – ähnlich wie in den anderen EU-Staaten – allgemein rückläufig. Wie Abbildung 1 zeigt, nahmen die Zahlen der Asylantragstellenden in Ungarn und Tschechien und mit einer kleinen zeitlichen Verzögerung auch in der Slowakei und in Polen (stark) ab. Die Gründe hierfür lagen u.a. in der Einführung von Regelungen zu sicheren Herkunfts- und Drittstaaten, in der Möglichkeit, beschleunigte Asylverfahren durchzusetzen sowie Ausweisungen und Inhaftierungen vorzunehmen. Diese Maßnahmen erschwerten den Zugang zu Asyl. Sie wurden durch EU-Gesetze ermöglicht und von den Regierungen der Visegrád-Länder verstärkt angewendet.

(© bpb)

Die Einführung solch restriktiver Regelungen brachte die Aufnahme von Geflüchteten jedoch nicht vollständig zum Erliegen. Im Jahr 2008 akzeptierte die polnische Regierung georgische Flüchtlinge, die infolge des Interner Link: Georgienkrieges aus den von Russland besetzten Gebieten flohen. Ähnlich wie schon im Jahr 1999, als Polen Flüchtlinge des Interner Link: Tschetschenienkriegs aufgenommen hatte, wollte sich die Regierung erneut solidarisch gegenüber den von der russischen Regierung bedrohten Minderheiten zeigen. Die Regierungen Polens, Ungarns und der Slowakei erklärten sich außerdem dazu bereit, im Rahmen zweier EU-weiter Umsiedlungsprogramme – initiiert in den Jahren 2010 und 2012 – bereits in Malta anerkannte Flüchtlinge aufzunehmen. Die Zahl der tatsächlich in diesem Zusammenhang aufgenommenen Flüchtlinge blieb jedoch gering. Die tschechische Regierung wiederum lehnte die Teilnahme an den EU-weiten Umsiedlungsprogrammen ab, siedelte aber im Rahmen eines nationalen Programms Flüchtlinge nach Tschechien um.

Abwehrhaltung gegenüber Flüchtlingen im Jahr 2015

Ab 2014 stieg die Zahl der Asylantragstellenden in der Europäischen Union insbesondere aufgrund der steigenden Zahl syrischer Asylsuchender sprunghaft an. Von dieser Entwicklung war auch Ungarn als Knotenpunkt mehrerer Flüchtlingsrouten betroffen. Dort stieg die Zahl der Asylanträge von knapp 18.600 im Jahr 2013 auf über 174.000 im Jahr 2015 an. Diese Sondersituation nutzte Ministerpräsident Viktor Orbán, um die ungarischen Bürgerinnen und Bürger mit einer flüchtlingsfeindlichen und menschenverachtenden Rhetorik und einer scheindemokratischen Volksbefragung zur Flüchtlingspolitik und -aufnahme politisch zu mobilisieren. Im Juni 2015 veranlasste die ungarische Regierung den Bau eines Grenzzauns zu Serbien, um Schutzsuchende abzuwehren und rief den nationalen Ausnahmezustand aus. Obwohl die anderen Visegrád-Länder kaum von dem erhöhten Flüchtlingsaufkommen betroffen waren, nutzten deren Regierungsvertreterinnen und -vertreter die Situation in ganz ähnlicher Weise, um sich öffentlichkeitswirksam gegen die bevorstehende Ratsentscheidung über einen EU-weiten Umverteilungsmechanismus für Flüchtlinge (engl. Relocation) zu positionieren.

Erstmalig seit Beginn ihrer EU-Mitgliedschaft traten die Regierungen der Visegrád-Staaten geeint gegen eine EU-Entscheidung an. Letztlich stimmte die polnische Regierung dann aber doch für den Beschluss und die Gruppe konnte keine Mehrheit im Rat für sich gewinnen, um eine Ablehnung des Umverteilungsmechanismus zu erreichen. Die Visegrád-Regierungen kamen nach dessen Verabschiedung teilweise den bindenden Verpflichtungen nach und nahmen trotz ihrer Abwehrhaltung Flüchtlinge aus Griechenland und Italien auf. Die Debatten um den Umverteilungsmechanismus waren eine Art Zäsur: In allen vier Visegrád-Staaten ist die Asylpolitik seither verstärkt zur politischen Mobilisierung genutzt worden und es lässt sich eine Zunahme islam- und fremdenfeindlicher Haltungen in Parteiprogrammen und Wahlkämpfen beobachten. Insbesondere die Regierungen Polens und Ungarns blockieren seit 2015 eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und sprechen sich gegen feste Aufnahmequoten aus, durch die Geflüchtete in der EU gleichmäßiger verteilt werden sollen. Die EU-Kommission hat bereits mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen die ungarische Regierung wegen asylpolitischer Regelungen eingeleitet, die gegen EU-Recht verstoßen.

Aufnahmebereitschaft gegenüber ukrainischen Flüchtlingen im Jahr 2022

Anders als gegenüber Schutzsuchenden aus mehrheitlich muslimischen Ländern im Jahr 2015 zeigen die Regierungen und die Bevölkerung der Visegrád-Staaten eine große Aufnahmebereitschaft gegenüber Menschen, die vor dem am 24. Februar 2022 begonnenen Interner Link: russischen Angriffskrieg in der Ukraine fliehen. Bis Anfang Mai registrierte das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) rund 3,1 Millionen Ukraine-Vertriebene in Polen, etwa 545.000 in Ungarn und fast 390.000 in der Slowakei (Stand: 04. Mai 2022). Insgesamt waren zu diesem Zeitpunkt über 5,7 Millionen Menschen Interner Link: aus der Ukraine geflohen. Nach Angaben des tschechischen Innenministeriums hatten bis zum 3. Mai knapp 325.000 ukrainische Geflüchtete Schutz in Tschechien gesucht. Wie in anderen EU-Ländern erhalten die Geflüchteten in den Visegrád-Staaten zunächst einen vorübergehenden Aufenthaltsstatus für ein Jahr und können staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen und sich eine Arbeit suchen. Regierungsvertreterinnen und -vertreter gehen davon aus, dass sich die Mehrheit der Ukraine-Vertriebenen dauerhaft in den Visegrád-Ländern niederlassen wird.

Einen Erklärungsansatz für diesen gegensätzlichen Umgang mit Geflüchteten bietet die hohe Zahl der bereits in den Ländern lebenden Ukrainerinnen und Ukrainer. In Polen, Tschechien und Ungarn bilden sie die größte Gruppe ausländischer Staatsangehöriger. Vor allem nach Polen und Tschechien kamen in den vergangenen Jahren viele ukrainische Arbeitskräfte, um dort – oft nur vorübergehend – einer Beschäftigung nachzugehen. Die Regierungen Polens, Tschechiens und Ungarns haben darüber hinaus jahrelang über staatliche Wiedereinbürgerungsprogramme Angehörige polnisch-, tschechisch- und ungarischsprachiger Minderheiten aus der Ukraine aktiv angeworben. Mit Verweis auf die geografische, kulturelle und sprachliche Nähe erfahren ukrainische Schutzsuchende derzeit kaum die negative öffentliche Meinung, die in den Visegrád-Staaten bis zum Ukraine-Krieg gegenüber Geflüchteten vorherrschend war.

Zum Thema

Interner Link: Die Visegrád-Staaten und die europäische Flüchtlingspolitik

Weitere Inhalte

ist Doktorandin in Politikwissenschaft an der Universität Leipzig. In ihrer Dissertation untersucht sie die Entstehung der Asylpolitik der Visegrád-Staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn im Zeitraum 1993 bis 2014.