Migration und Migrationspolitik in der Russischen Föderation
Julia Glathe
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Russland ist aus wirtschaftlichen und demografischen Gründen auf Zuwanderung angewiesen. Eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Offenheit und Abwehr prägt die Einwanderungspolitik.
Mit einer zugewanderten Bevölkerung von mehr als elf Millionen Menschen gehört Russland neben den Vereinigten Staaten, Deutschland und Saudi-Arabien zu den bedeutendsten Einwanderungsländern der Welt. Insbesondere die Metropolen Moskau und St. Petersburg sind durch ein reges Migrationsgeschehen geprägt, wobei die überwiegende Mehrheit der Migrant:innen aus dem postsowjetischen Raum stammt. Es bleibt abzuwarten, inwiefern der Interner Link: russische Angriffskrieg in der Ukraine und die damit einhergehenden Sanktionen gegen Russland den bereits durch die Interner Link: Corona-Pandemie eingesetzten Rückgang der Einwanderung weiter verstärken werden.
Russlands Migrationsgeschichte
Häufig entsteht der Eindruck, Russland sei erst mit dem Interner Link: Zerfall der Sowjetunion zu einem Migrationsmagneten geworden. Tatsächlich begann Russlands Einwanderungsgeschichte jedoch lange vor dem Zerfall der Sowjetunion und den darauffolgenden Massenwanderungsbewegungen im postsowjetischen Raum Anfang der 1990er Jahre. Insbesondere im spätsowjetischen Russland bestanden äußerst vielfältige und komplexe Migrationsverhältnisse. Mobilität war ein integraler Bestandteil des sozialistischen Modernisierungsprojekts und eng mit der Urbanisierung und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes verbunden. Vor allem die Metropolen Moskau und Leningrad – das heutige St. Petersburg – waren attraktive Ziele für Studierende, Arbeiter:innen, und Ingenieur:innen aus anderen Sowjetrepubliken, aber auch aus Mittel- und Lateinamerika, Asien und Afrika. Kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion intensivierten die zunehmende wirtschaftliche Not und die wachsenden ethnischen und politischen Konflikte in den Sowjetrepubliken Tadschikistan, Armenien, Georgien und Aserbaidschan die Einwanderung nach Russland. Die Auflösung des multinationalen Imperiums in mehrere unabhängige Nationalstaaten verstärkte die bestehenden Einwanderungsbewegungen noch einmal. Hinzu kam, dass sehr viele ehemalige Sowjetbürger:innen aufgrund der neuen Grenzen über Nacht zu "Migrant:innen" wurden, ohne dass sie tatsächlich eine Grenze überschritten hatten.
Gleichzeitig erlebte Russland in seiner Geschichte auch umfassende Auswanderungsbewegungen. So wanderten beispielsweise von Beginn der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre 2,7 Millionen Menschen in andere Sowjetrepubliken ab. Mit der Lockerung der strikten Ausreisebeschränkungen in den späten 1980er Jahren stieg zudem die Auswanderung von ethnischen Minderheiten wie Deutschen und Interner Link: Menschen jüdischen Glaubens aus der Sowjetunion und nahm nach 1989 Massencharakter an. Lebten der Volkszählung von 1989 zufolge knapp 842.300 Deutsche auf dem Gebiet der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), so waren es in der Russischen Föderation im Jahr 2010 rund 394.000. In Deutschland waren bis 2011 rund 612.000 Menschen aus dem Gebiet der Russischen Föderation als Interner Link: (Spät-)Aussiedler:innen aufgenommen worden. Insgesamt zählt die Russische Föderation neben Indien und Mexiko zu den Ländern mit der größten Zahl an Emigrant:innen. 2020 lebten rund elf Millionen in Russland geborene Menschen im Ausland. Unter denjenigen, die Russland verlassen, befinden sich viele gut ausgebildete Arbeitskräfte, Intellektuelle und politische Aktivist:innen, sodass diese Bewegungen auch unter dem Stichwort "Brain Drain" diskutiert werden. Der Brain Drain dürfte sich durch die Interner Link: russische Invasion in der Ukraine und die damit in Zusammenhang stehende weitere Einschränkung der Informations- und Meinungsfreiheit in Russland noch weiter verschärfen. Bereits Mitte März 2022 gingen erste Schätzungen von 200.000 russischen Intellektuellen aus, die das Land seit Beginn des Kriegs verlassen hatten.
Statistische Daten zur eingewanderten Bevölkerung
Die Zahl der in Russland lebenden Migrant:innen wurde zuletzt, im Jahr 2020, auf 11,6 Millionen geschätzt (siehe Abbildung 1) ; der Großteil davon stammt aus ehemaligen Sowjetrepubliken. Zusätzlich zu diesen offiziellen Zahlen kann man von einer hohen Zahl ausländischer Staatsangehöriger ausgehen, die sich ohne Aufenthaltserlaubnis in Russland aufhalten. Die staatliche Migrationsbehörde schätzt, dass sieben bis acht Millionen ausländische Staatsangehörige illegal in Russland arbeiten; einige Politiker:innen sprechen von bis zu 15 Millionen illegal im Land lebender Menschen.
Neben den Personen, die dauerhaft in Russland leben, prägen temporäre Arbeitsmigrant:innen das Einwanderungsgeschehen. Trotz eines starken Rückgangs der Zuwanderung aufgrund der Covid-19-Pandemie kamen im Jahr 2020 offiziell 594.146 Ausländer:innen nach Russland. Da im gleichen Jahr jedoch auch viele Menschen das Land verließen, betrug die Nettomigration nur etwa 100.000 Personen – ein starker Rückgang gegenüber den 285.103 Personen im Jahr 2019 (siehe Abbildung 2).
Die überwiegende Mehrheit der postsowjetischen Migrant:innen in Russland kommt aus den ehemaligen Sowjetrepubliken Interner Link: Ukraine, Tadschikistan, Kasachstan, Armenien, Usbekistan, Kirgisien sowie aus Aserbaidschan (siehe Abbildung 3). Die treibende Kraft dieser Bewegungen ist die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung und das Einkommensgefälle zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken. Vor allem die zentralasiatischen Länder Tadschikistan, Usbekistan und Kirgisien sind in hohem Maße auf Geldüberweisungen angewiesen, die von den Arbeitsmigrant:innen in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden.
Neben der wirtschaftlich bedingten Zuwanderung hat der bewaffnete Konflikt in der ukrainischen Donbass-Region seit 2014 dazu geführt, dass ca. eine Million Menschen die Ukraine in Richtung Russland verlassen haben (Stand: 2017). Wie sich die Fluchtbewegungen aus der Ukraine nach Russland seit dem Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 und der Ausweitung des Kriegsgeschehens auf die gesamte Ukraine verändert haben, lässt sich bislang schwer sagen. Nach UN-Angaben waren bis zum 20. April 2022 rund 550.000 Menschen nach Russland geflohen. Auch soll es Medienberichten und dem amerikanischen OSZE-Botschafter Michael Carpenter zufolge Deportationen von tausenden Menschen aus der ukrainischen Stadt Mariupol nach Russland gegeben haben.
Nach Angaben des russischen Generalobersts Michail Misinzew wurden seit Beginn des Krieges bis Ende April rund 1,1 Millionen Menschen aus der Ukraine nach Russland gebracht, darunter etwa 200.000 Kinder. Die Ukraine warf Russland in diesem Zusammenhang die Verschleppung ihrer Bürger:innen aus den von Russland besetzten Gebieten im Osten und Süden des Landes vor.
Grundzüge der aktuellen Migrationspolitik
Ähnlich wie in vielen westlichen Einwanderungsländern ist die Interner Link: russische Migrationspolitik von einem Interner Link: Sicherheitsnarrativ geprägt: Einwanderung wird als potenzielle Bedrohung für die öffentliche Ordnung, das Sozialsystem und den sozialen Zusammenhalt dargestellt. So wird eine strikte staatliche Regulierung begründet, welche sich unter anderem in der Inhaftierung und Ausweisung von Migrant:innen sowie mehrjährigen Wiedereinreisesperren zeigt. Gleichzeitig ist Russland aus wirtschaftlichen Gründen auf Einwanderung angewiesen und gewährt der überwiegenden Mehrheit der Migrant:innen (insbesondere jenen aus Mitgliedsländern der Interner Link: GUS) eine visafreie Einreise. Aus diesem Gegensatz ergibt sich eine Interner Link: Gleichzeitigkeit liberaler und restriktiver Elemente, die sich teilweise gegenseitig blockieren und zu widersprüchlichen Regelungen führen. In der Folge verfügen sehr viele Migrant:innen über einen unsicheren Rechtsstatus und sind dadurch weitgehend schutzlos der Willkür des korrupten Sicherheitsapparats und des Rechtssystems ausgeliefert.
Eine besondere Stellung im russischen Migrationsregime nehmen die so genannten "Landsleute" (russisch: sootechestvenniki) ein. Unter diese Migrationskategorie werden Personen aus dem ehemaligen sowjetischen Raum gefasst, die einen engen Bezug zur russischen Kultur aufweisen. Seit 2006 gibt es ein staatliches Programm, das die Einreise von "Landsleuten" fördert und sie durch schnellere Staatsbürgerschaftsverfahren gegenüber anderen Arbeitsmigrant:innen privilegiert. Das Programm ist allerdings aus verschiedenen Gründen äußerst schleppend angelaufen. Erst mit dem Kriegsbeginn in der Ostukraine 2014 und der damit verbundenen Fluchtmigration nach Russland hat das Programm an Fahrt aufgenommen. Im Zuge der neoimperialen russischen Außenpolitik gegenüber der Ukraine hat der russische Präsident Interner Link: Wladimir Putin zudem im April 2019 Änderungen im russischen Staatsbürgerschaftsrecht auf den Weg gebracht. Seither können die Einwohner:innen der ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk durch ein vereinfachtes Verfahren die russische Staatsbürgerschaft annehmen.
Ausblick
Viele Jahre zählte das postsowjetische Russland zu den zahlenmäßig bedeutendsten Einwanderungsländern der Welt. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine könnte einen Wendepunkt für das bestehende Migrationsregime darstellen. Einerseits lassen sich bereits im April 2022, wenige Wochen nach Beginn des Kriegs, vor allem von gut ausgebildeten, jungen Menschen große Auswanderungsbewegungen beobachten, die als "moralische Emigration" bezeichnet werden. Andererseits muss die russische Regierung befürchten, dass ein Aufenthalt in Russland für viele der temporären Arbeitsmigrant:innen aus Zentralasien durch die langfristigen Folgen der vom Westen verhängten Sanktionen nicht mehr lukrativ erscheint. Somit könnte sich der bereits in der Pandemie eingesetzte Abwärtstrend der Einwanderung nach Russland weiter fortsetzen. Dies könnte auch die Bevölkerung weiter schrumpfen lassen. 2021 verzeichnete Russland den größten natürlichen Bevölkerungsrückgang seit dem Zerfall der Sowjetunion. Binnen eines Jahres (Oktober 2020 bis September 2021) starben in Russland fast eine Millionen Menschen mehr als im selben Zeitraum geboren wurden. Hintergründe waren die alternde Bevölkerung des Landes und hohe Sterbefallzahlen während der Pandemie.
ist Soziologin und arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Migration und Migrationspolitik in postsozialistischen Kontexten.
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