Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Vor 65 Jahren: Ungarischer Volksaufstand | Hintergrund aktuell | bpb.de

Vor 65 Jahren: Ungarischer Volksaufstand

Redaktion

/ 7 Minuten zu lesen

Am 23. Oktober 1956 entwickelte sich aus Studentenprotesten in Budapest ein landesweiter Volksaufstand gegen das kommunistische Regime. Die Sowjetunion intervenierte und ließ die Proteste blutig niederschlagen.

Gestürztes Stalindenkmal vor dem Nationaltheater in Budapest am 29. Oktober 1956. (© picture-alliance / akg-images)

Hinweis

Dieser Artikel wurde am 05.07.2022 von der Redaktion aktualisiert.

Der Ungarische Volksaufstand entstand spontan ab dem 23. Oktober 1956 aus einer zunächst friedlichen Studentendemonstration in Budapest. Diese entwickelte sich schnell zu einer Großdemonstration und anschließend zum landesweiten Aufstand. Zehntausende Bürgerinnen und Bürger schlossen sich den Studenten an. Bei den Protesten wurde von der totalitär regierenden kommunistischen Partei die Wiederaufnahme des Reformkurses gefordert. Darunter die erneute Einsetzung Imre Nagys als Ministerpräsident und die demokratische Umgestaltung des Landes durch ein Interner Link: Mehrparteiensystem, freie Wahlen und die Unabhängigkeit von der Interner Link: Sowjetunion.

Der Volksaufstand von 1956 dauerte bis zum 4. November an. Dieser Tag markiert die Invasion der sowjetischen Truppen und die gewaltsame Niederschlagung.

Sowjetische Besatzung und Errichtung der Volksrepublik Ungarn

Ungarn war nach dem Interner Link: Ende des Zweiten Weltkriegs von Truppen der Sowjetunion besetzt worden. Die Besatzungsmacht übte einen großen politischen Einfluss auf das Land aus und errichtete schrittweise eine kommunistische Diktatur. Im November 1945 wurden freie Parlamentswahlen abgehalten. Ungeachtet der gewählten Mehrheit veranlasste die sowjetische Besatzungsmacht eine Interner Link: Koalition der größten Parteien – darunter die stärkste Kraft, die konservative „Unabhängige Partei der Kleinen Landwirte, der Landarbeiter und des Bürgertums“ (57 Prozent) und die deutlich schwächere „Ungarische Kommunistische Partei“ (17 Prozent). Die Kommunisten erhielten vier zentrale Ministerposten, darunter das Innenministerium und somit den Zugriff auf die Polizei.

1948 wurden Kommunisten und Sozialdemokraten zur „Partei der ungarischen Werktätigen“ (Magyar Dolgozók Pártja, MDP) unter der Führung von Mátyás Rákosi zwangsweise zusammengeschlossen. Damit war die kommunistische Machtübernahme in Ungarn faktisch abgeschlossen. Bereits die darauffolgende Parlamentswahl 1949 galt als „Scheinwahl“. Parallel setzte die MDP eine sozialistische Verfassung nach sowjetischem Vorbild um. Ungarn wurde zur Volksrepublik.

Machthaber Rákosi führte ein repressives Regime: Fast ein Zehntel der Ungarinnen und Ungarn wurden verhaftet, mehrere Tausend wurden hingerichtet. Insgesamt 1,5 Millionen der etwa zehn Millionen Ungarinnen und Ungarn wurden Anfang der 1950er-Jahre vom Staatssicherheitsdienst überwacht.

Imre Nagy leitet ab 1953 Reformen ein

Nach dem Tod des sowjetischen Diktators Interner Link: Josef Stalin am 5. März 1953 drängte die neue Führung der UdSSR unter Nikita Chruschtschow auf Reformen in Ungarn. Rákosi verlor seinen Posten als Vorsitzender des Ministerrates, neuer Regierungschef wurde am 4. Juli der Reformpolitiker Imre Nagy. Er propagierte die Idee eines „nationalen und menschlichen Sozialismus“.

Dazu gehörte unter anderem ein Amnestiegesetz für die Opfer der stalinistischen Herrschaft, die Abschaffung von Internierungslagern und eine größere Medienfreiheit. Hinzu kamen Maßnahmen in der Wirtschaftspolitik: So sollte das Tempo der Industrialisierung verlangsamt werden. Bauern wurde es ermöglicht, wieder aus landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften auszutreten.

In der Sowjetunion wandte sich die Stimmung in der Folge gegen Nagy. Bereits im Herbst 1954 gelang es Rákosi, zu diesem Zeitpunkt immer noch MDP-Vorsitzender, die Führung der UdSSR von der angeblichen Gefährlichkeit des neuen ungarischen Kurses zu überzeugen. Am 8. Januar 1955 kritisierte die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) die Politik von Nagy als "Rechtsabweichung", auch in der MDP gab es Widerstand. Nur drei Monate später, am 14. April 1955, wurde Nagy seines Postens als Ministerpräsident enthoben. Bis Ende des Jahres 1955 wurde er auch aus der MDP ausgeschlossen.

Vor seinem Sturz 1955 spricht der ungarische Ministerpräsident Imre Nagy vor der Volkskammer, links an seiner Seite sein Widersacher Mátyás Rákosi. (© picture-alliance / dpa | central press)

Unsicherheiten in sozialistischen Ländern

Gegen die Absetzung von Nagy regte sich innerparteilicher Widerstand: Im März 1956 traf in Budapest zum ersten Mal der "Petöfi-Kreis" zusammen, aus dem sich weitere Debattenforen in anderen Städten entwickelten. Er wurde am 30. Juni 1956 von der MDP verboten, Nagy wurde beschuldigt, Hauptverantwortlicher für diese Aktivitäten zu sein. Kurz zuvor hatte vom 14. bis zum 25. Februar 1956 in Moskau der XX. Parteitag der KPdSU stattgefunden, auf dem Nikita Chruschtschow in einer Interner Link: Rede zum Parteitagsbeschluss über den "Personenkult und seine Folgen" offen mit dem Interner Link: Stalinismus brach. Der Text der Rede verbreitete sich in den folgenden Wochen auch in den anderen sozialistischen Ländern und sorgte für kritische Debatten über stalinistische Herrschaftsformen . Rákosi musste auf Druck Moskaus am 14. Juni 1956 von seinem Posten als MDP-Vorsitzender zurücktreten, sein Nachfolger wurde Ernő Gerő, ein Vertrauter Rákosis.

Als eines der wichtigsten Vorereignisse für den Aufstand in Ungarn gilt der "Interner Link: Polnische Oktober". Im Juni 1956 nahmen etwa 100.000 Menschen am Arbeiteraufstand von Poznań (Posen) teil, den die regierende Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) blutig niederschlagen ließ. Dabei wurden 57 Menschen getötet. Nachdem Władysław Gomułka am 21. Oktober 1956 zum neuen PVAP-Parteichef gewählt wurde, leitete dieser unter dem Druck der Öffentlichkeit einige vorsichtige Reformen ein, die unter anderem auf eine größere Unabhängigkeit von der Sowjetunion abzielten. Beinahe parallel dazu formierte sich am 16. Oktober 1956 in Szeged ein unabhängiger ungarischer Studentenverband (Magyar Egyetemista és Főiskolai Hallgatók Szövetsége, MEFESZ), der bald auch politische Positionen formulierte. Bei einer Versammlung am 22. Oktober an der Technischen Universität Budapest forderten mehrere Tausend Studentinnen und Studenten Reformen, die zum Anlass einer friedlichen Massenkundgebung und somit zum Auftakt des Volksaufstandes wurden.

Kämpfe ab dem 23. Oktober

Der Aufstand brach dann mit einer studentischen Protestveranstaltung am 23. Oktober aus, die auch als Solidaritätskundgebung mit den Reformkräften in Polen gedacht war. Nach dem Ende der Kundgebung zog der stetig wachsende Protestzug über die Donau zum ungarischen Parlament nach Pest weiter, wo sich schließlich etwa 200.000 Menschen versammelten. Nagy versuchte mit einer Rede die Menge zu beruhigen. Am Abend eskalierte die Situation jedoch weiter, als Polizeikräfte das Feuer auf die Demonstrierenden eröffneten und zahlreiche Menschen töteten. Einheiten der Armee solidarisierten sich mit den Protesten. Den Demonstrierenden gelang es, sich zu bewaffnen und die Zentrale des ungarischen Rundfunks zu stürmen.

Nagy, der erst Mitte Oktober wieder als Mitglied in die MDP aufgenommen worden war, rückte nun wieder ins Zentrum der Macht. Am frühen Morgen des 24. Oktobers nominierte ihn die MDP als neuen Ministerpräsidenten. Parteichef blieb Ernő Gerő, der mehrfach in Moskau um militärische Hilfe bei der Niederschlagung des Aufstandes bat. Bereits in der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober besetzten sowjetische Einheiten wichtige Gebäude in Budapest. Es kam es zu schweren Straßenkämpfen. Im Laufe des 24. Oktobers griffen die Unruhen auf ganz Ungarn über. Am 25 Oktober töteten Angehörige der Staatssicherheit oder Soldaten der Roten Armee etwa 100 Teilnehmer einer friedlichen Protestkundgebung. Am gleichen Tag wurde Gerő als MDP-Vorsitzender abberufen, an seine Stelle trat János Kádár, ein ehemaliges Opfer der stalinistischen Säuberungen. Gerő wurde drei Tage später von der UdSSR nach Moskau ausgeflogen.

Mehrparteiensystem und Austritt aus dem Warschauer Pakt

Die Kämpfe dauerten bis zum 28. Oktober. An diesem Tag wurde die neue Regierung vereidigt. Nagy hielt zwei Rundfunkansprachen, in denen er einerseits zu einem Waffenstillstand aufrief, andererseits den Aufstand als "ein großes, unser gesamtes Volk umfassendes und zusammenschweißendes, nationales, demokratisches Aufbegehren" bezeichnete. Außerdem kündigte er die Auflösung der Staatssicherheit an. Tags darauf, am 29. Oktober, zogen die Truppen der UdSSR auf Bitten der Regierung Nagy aus Budapest ab. Formell gab die Führung der UdSSR am 30. Oktober eine Regierungserklärung ab, in der sie sich zur Nichteinmischung in innere ungarische Angelegenheiten verpflichtete. Im Hintergrund liefen jedoch bereits die Vorbereitungen zu einer größeren Intervention.

Nagy arbeitete derweil am Umbau des politischen Systems in Ungarn und kam damit zentralen Forderungen der Demonstrierenden nach. Am 30. Oktober bildete er die Regierung um. Darüber hinaus gab Nagy bekannt, dass in Ungarn künftig wieder das Mehrparteiensystem hergestellt werden sollte. Die MDP wurde als kommunistische Einheitspartei aufgelöst und durch die "Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei" ersetzt.

Am 31. Oktober kündigte die ungarische Regierung an, Verhandlungen zum Austritt aus dem Interner Link: Warschauer Pakt führen zu wollen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die UdSSR bereits eine weitere Intervention in Ungarn veranlasst. Aus dem benachbarten Rumänien und der ebenfalls an Ungarn grenzenden Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik waren Truppen in Marsch gesetzt worden. Aus Protest proklamierte Nagy am 1. November 1956 für Ungarn die Neutralität und erklärte den Austritt aus dem Warschauer Pakt.

Massive sowjetische Intervention ab dem 4. November

Ab dem 4. November rückten 15 Divisionen der Sowjetarmee mit 2.000 Panzern und etwa 200.000 Soldaten in Ungarn ein und schlugen in den darauffolgenden Tagen den Aufstand unter erbittertem Widerstand blutig nieder. Über die Zahl der Todesopfer gibt es unterschiedliche Angaben. Offiziell ging die ungarische Regierung später von 2.700 Toten aus, welche die Kämpfe zwischen dem 23. Oktober und dem 11. November gekostet haben sollen. Anderen Schätzungen folgend könnte die Opferzahl weit höher gewesen sein. Imre Nagy wurde angeklagt, zum Tode verurteilt und am 16. Juni 1958 hingerichtet.

Nach Ende des Aufstandes setzte eine Fluchtwelle ein. Insgesamt 200.000 Ungarinnen und Ungarn verließen das Land, darunter viele Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Intellektuelle, die meisten waren jünger als 40 Jahre.

Neuer Ministerpräsident wurde am 4. November 1956 János Kádár, unter dessen Regie eine Verfolgungswelle gegen Teilnehmende des Aufstandes einsetzte. Es gab etwa 35.000 gerichtliche Verfahren und mehr als 200 Todesurteile. Zehntausende Menschen wurden in Internierungslagern inhaftiert. Der Aufstand von 1956 wurde im kommunistischen Ungarn zu einem Tabuthema.

Im Jahr 1989 kam es zur Interner Link: politischen Wende. Die Debatte über den Umgang mit dem Erbe von 1956 war eines der zentralen Diskussionsthemen – und ein offener Bruch mit den bis dahin herrschenden Vorgaben der Staatsführung.

Mehr zum Thema:

Weitere Inhalte

Weitere Inhalte

Dossier

Ungarn

Im Sommer 1989 öffnete Ungarn die Grenze zu Österreich und ermöglichte tausenden fluchtwilligen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern den Weg nach Westen. Diese mutige Entscheidung beschleunigte die…

Dossier

Prag 1968

1968 beendeten Kampftruppen aus der Sowjetunion, Bulgarien, Ungarn und Polen gewaltsam die reformkommunistische Bewegung des „Prager Frühlings“ in der damaligen ČSSR. Abweichen vom Kurs wurde…

15 Jahre Mauerfall

Die Umsturzbewegungen 1989 in Mittel- und Osteuropa

1989 stand Mittel- und Osteuropa im Zeichen politischer und ökonomischer Umwälzungen. Der Beitrag zur vergleichenden europäischen Zeitgeschichte analysiert die Umsturzbewegungen am Beispiel von…

Informationen zur politischen Bildung

Phänomen Sowjetunion

Bis heute bestimmen kontroverse Sichtweisen das Bild der Sowjetunion; sie wird entweder als Zwangsregime verurteilt oder als ehemalige Supermacht nostalgisch verklärt...

Dossier

Der Aufstand des 17. Juni 1953

Dieses Online-Dossier gibt einen Überblick über Vorgeschichte, Verlauf und Folgen des Aufstandes vom 17. Juni 1953 - mit interaktiven Karten, Fotos, Interviews sowie Ton- und Filmdokumenten.

Krisenjahr 1956

Entstalinisierung und die Krisen im Ostblock

Chruschtschows Kampagne zur Entstalinisierung hatte Aufstände im gesamten Ostblock zur Folge. Die Folgen der "Geheimrede" hätten das kommunistische Machtgefüge beinahe zum Einsturz gebracht.

Schriftenreihe
4,50 €

Der Preis des Wandels

4,50 €

30 Jahre sind seit dem Ende der kommunistischen Regime in den Staaten Ostmittel- und Südosteuropas vergangen. Was hat sich seither politisch und gesellschaftlich dort getan? Reinhold Vetter zeichnet…

Schriftenreihe
1,50 €

Nationalismus im Osten Europas

1,50 €

Nationalistische Strömungen finden sich überall in Europa. Oft werden sie als patriotische Einstellung getarnt und so salonfähig gemacht. Aber woher kommen die auf Abwehr und Abschottung…

Schriftenreihe
Vergriffen

Der rote Terror

Vergriffen

Die stalinistische Gewaltherrschaft zählt zu den größten Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts. Der Band bietet einen beklemmenden und fesselnden Überblick über die blutigste Epoche der Sowjetunion.

„Hintergrund Aktuell“ ist ein Angebot der Onlineredaktion der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Es wird von den Redakteur/-innen und Volontär/-innen der Onlineredaktion der bpb redaktionell verantwortet und seit 2017 zusammen mit dem Südpol-Redaktionsbüro Köster & Vierecke erstellt.

Interner Link: Mehr Informationen zur Redaktion von "Hintergrund aktuell"