Polen ist eines der Hauptzielländer von ukrainischen Schutzsuchenden. Doch schon vor dem russischen Angriffskrieg waren Ukrainerinnen und Ukrainer die mit Abstand größte Einwanderungsgruppe in Polen.
Polen hat sich in relativ kurzer Zeit zu einem neuen Einwanderungsland entwickelt, was sowohl auf die erfolgreiche wirtschaftliche Transformation des Landes als auch auf die wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen seiner Nachbarländer zurückzuführen ist: Belarus und die Ukraine. Aktuellen Schätzungen der nationalen Statistikbehörde zufolge leben mehr als drei Millionen Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit in Polen – bei einer Gesamtbevölkerung von 37,6 Millionen Menschen. Das Einwanderungsprofil Polens ist jedoch etwas ungewöhnlich, da die überwältigende Mehrheit der ausländischen Bevölkerung aus einem einzigen Land kommt: der Ukraine. Beide Staaten zeichnen sich durch eine starke gegenseitige Abhängigkeit aus, Polens Migrationssituation ist dabei ziemlich unbeständig. Die aktuellen außerordentlichen Fluchtbewegungen aus der Ukraine haben diesen Trend noch verstärkt.
Polens Übergang zu einem neuen Einwanderungsland
Polen entwickelt sich in kürzester Zeit zu einem Nettoeinwanderungsland. Das Land verzeichnet nicht nur den weltweit höchsten Anstieg der Zahl temporärer Arbeitsmigrantinnen und -migranten, sondern hat seit dem russischen Angriff auf das gesamte Gebiet der Ukraine auch eine außerordentliche hohe Zuwanderung von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine erlebt. Viele Jahrzehnte lang war Polen ein Nettoauswanderungsland; dieser Trend verstärkte sich nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahr 2004. Nach Angaben des nationalen Statistikamtes Polens lebten Ende 2020 etwa 2,2 Millionen Polinnen und Polen im Ausland, die meisten davon in europäischen Ländern.
Trotz ihrer einwanderungsfeindlichen Rhetorik war die Migrationspolitik der zwischen 2015 und 2023 regierenden Interner Link: Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) recht liberal. Unter der PiS-Regierung wurden Maßnahmen eingeführt, die es Unternehmen erleichtern, ausländische Arbeitskräfte zu beschäftigen. Nach den vorliegenden Schätzungen stieg die Zahl der ausländischen Staatsangehörigen in Polen von 100.000 im Jahr 2011 auf zwei Millionen im Jahr 2019. In diesem Zeitraum waren der Großteil der ausländischen Bevölkerung Ukrainerinnen und Ukrainer, die mit einer kurzfristigen Arbeitserlaubnis in Polen lebten. Neben der Ukraine sind die Hauptherkunftsländer weitere postsowjetische Länder, insbesondere Belarus und in geringerem Maße Moldau, Georgien und Russland. In den letzten Jahren ist auch eine wachsende Zahl von Migrantinnen und Migranten aus Indien nach Polen gekommen. Die Entwicklung Polens hin zu einem Nettoeinwanderungsland ist ein komplexes Phänomen, das sich durch das Zusammenwirken einer Reihe von ‚Push‘- und ‚Pull‘-Faktoren erklären lässt. Der wichtigste ‚Pull‘-Faktor ist zweifellos die jüngste Wirtschaftsleistung Polens, die durch einen Anstieg der Durchschnittsgehälter in Verbindung mit einem zunehmenden Arbeitskräftemangel und einer steigenden Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften sowie einer liberalen Einwanderungspolitik gekennzeichnet ist. Ein wichtiger Schritt in dieser Hinsicht war die Einführung einer vereinfachten Regelung für die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte im Jahr 2006, die ursprünglich zur Unterstützung des polnischen Agrarsektors gedacht war, aber später auf andere Wirtschaftszweige ausgeweitet wurde. Dennoch gilt es, wenn über Polen als Nettoeinwanderungsland gesprochen wird, zu bedenken, dass die meisten Migrantinnen und Migranten in Polen nur einen befristeten Aufenthaltsstatus haben; ebenso sind die polnischen Institutionen, die sich mit Einwanderung befassen, noch in der Entwicklung begriffen.
Migration aus der Ukraine zwischen 1991 und 2022
Die Schnelligkeit und Art des Übergangs Polens zu einem Nettoeinwanderungsland ist ungewöhnlich. Dies ist nicht nur auf den hohen Anteil ukrainischer Migrantinnen und Migranten zurückzuführen, sondern auch darauf, dass Polen nach dem Zweiten Weltkrieg infolge der Interner Link: nationalsozialistischen und Interner Link: sowjetischen Besatzung, der ethnischen Säuberungen und der erzwungenen Bevölkerungstransfers der Nachkriegszeit de facto ein monoethnisches Land geworden war. Die Zahl der ukrainischen Migrantinnen und Migranten stieg erst nach der Interner Link: Auflösung der Sowjetunion und der Aufhebung der Maßnahmen, die ihre Bewegungsfreiheit während des Kalten Krieges stark eingeschränkt hatten, an. In der Anfangszeit migrierten Menschen aus der Ukraine vor allem aus kleinbetrieblichen und familiären Gründen nach Polen. Denn trotz der Kriegsverluste und der Bevölkerungstransfers der Nachkriegszeit gab es immer noch eine Minderheit ethnischer Ukrainerinnen und Ukrainer im Land. Im Laufe der Zeit nahm die saisonale zirkuläre Arbeitsmigration in der Landwirtschaft und im Dienstleistungssektor zu. Nach 2006 und der Einführung neuer Regelungen zur Erwerbsmigration stieg die befristete Arbeitsmigration, hierunter zählten auch wieder viele ukrainische Bürgerinnen und Bürger. Begünstigend wirkten hier niedrige Reisekosten, umfangreiche bereits bestehende Migrationsnetzwerke, die Ähnlichkeit der beiden Sprachen und die Möglichkeit, familiäre Bindungen in der Ukraine aufrechtzuerhalten. Vor der Interner Link: militärischen Intervention Russlands in der Ukraine im Jahr 2014 belief sich die Zahl der an ukrainische Staatsangehörige ausgestellten Kurzzeitgenehmigungen auf 217.000. Unter den Zugewanderten war ein hoher Anteil ukrainischer Frauen mittleren Alters, die nach Polen kamen, um in der Landwirtschaft, in der Pflege oder als Hausangestellte zu arbeiten.
Erst nach der russischen Aggression in der Donbass-Region und der illegalen Besetzung der Krim im Jahr 2014, die beide zur wirtschaftlichen Rezession in der Ukraine beitrugen, begann die Zuwanderung einer großen Zahl ukrainischer Migrantinnen und Migranten nach Polen. Unter ihnen fanden sich viele, die zuvor in Russland gearbeitet hatten und sich nun aufgrund der russischen Aggression gegen die Ukraine entschieden, nach Polen zu gehen. Interessanterweise beantragten die meisten ukrainischen Staatsangehörigen, die in dieser Zeit nach Polen kamen, eine Arbeitserlaubnis, obwohl diese Migration durch einen bewaffneten Konflikt ausgelöst wurde und daher in vielen Fällen als Fluchtmigration bezeichnet werden kann. Ein Grund dafür war die deutlich höhere Wahrscheinlichkeit einer positiven und schnellen Entscheidung über eine befristete Aufenthaltserlaubnis im Rahmen des arbeitsmarktbezogenen Migrationsverfahrens. Auch das sozio-demografische Profil der Migrantinnen und Migranten veränderte sich in diesem Zeitraum: Es wurde vielfältiger in Bezug auf Geschlecht, Alter, Migrationserfahrung, Herkunftsregionen in der Ukraine und Zielorte innerhalb Polens. Mehr Männer, auch jüngere, begannen nach Polen zu kommen; sie fanden schnell Arbeit in Sektoren wie dem Baugewerbe, der Fertigungsindustrie und dem Dienstleistungssektor.
Im Jahr 2018 war Polen im europäischen Vergleich der Staat mit der umfangreichsten befristeten Beschäftigung von Arbeitsmigrantinnen und -migranten. Im Jahr 2019 nutzten 972.000 Ukrainerinnen und Ukrainer – 89 Prozent aller ausländischen Staatsangehörigen in Polen – eine befristete Arbeitserlaubnis. Diese Arbeitsmigration ließ auch während der Coronapandemie nicht wesentlich nach: 2020 legalisierten mehr als 857.000 ukrainische Staatsangehörige ihren Aufenthalt auf diese Weise. Mit zunehmender Lockerung der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie stieg die Zahl dieser Migrantinnen und Migranten im Jahr 2021 auf 1.055.000. Infolge des großflächigen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ab dem 24. Februar 2022 gingen die Zahlen der befristeten arbeitsbezogenen Migration aus der Ukraine dann stark zurück: Im Jahr 2022 kamen nur noch 476.000 Ukrainerinnen und Ukrainer für eine kurzfristige Beschäftigung nach Polen. Insgesamt lebten Schätzungen zufolge Anfang 2022 – also vor Beginn des russischen Angriffskriegs – etwa 1,3 bis 1,5 Millionen ukrainische Staatsangehörige in Polen. Diese Zahl setzte sich neben befristeten Arbeitserlaubnissen auch aus anderen legalen Wegen für den Aufenthalt in Polen zusammen, wie etwa langfristige Arbeitserlaubnisse, Aufenthaltsgenehmigungen und Studierendenvisa.
Fluchtmigration nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine
Infolge des großflächigen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat Europa eine der größten Fluchtbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt. Innerhalb der ersten sechs Wochen zwang die russische Invasion 4,2 Millionen Menschen zur Flucht aus der Ukraine; weitere 6,5 Millionen wurden zu Binnenvertriebenen innerhalb des Landes. Im Sommer 2022 sank die Zahl der Flüchtenden, viele Menschen kehrten in die Ukraine zurück. Nichtsdestotrotz belief sich die Zahl der aus der Ukraine geflohenen ukrainischen Staatsangehörigen im Oktober 2023 auf insgesamt 6,2 Millionen. Die wichtigsten Zielländer waren Polen, Deutschland, Tschechien und andere EU-Staaten.
Am 20. Oktober 2023 waren in Polen 958.935 Ukrainerinnen und Ukrainer mit vorübergehendem Schutzstatus registriert. Diese Zahl ist kleiner als die, die in den ersten Monaten nach Beginn des Angriffs auf die gesamte Ukraine registriert wurden. Im Frühjahr 2022 waren in Polen bis zu vier Millionen geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer erfasst; die Einwohnerzahl einiger Städte verdoppelte sich aufgrund des Zuzugs von Geflüchteten. Dies stellte eine große Herausforderung dar, sowohl für die ukrainischen Geflüchteten – zumeist Frauen und Kinder, die kurzfristig ihre Heimat verlassen mussten – als auch für die Aufnahmegemeinden, die unter anderem mit einem Mangel an geeigneten Unterkünften, Haushaltsengpässen und einer Überlastung des Bildungs- und Gesundheitssystems zu kämpfen hatten. Dennoch hielt Polen seine Grenzen für die vor dem Krieg fliehenden Ukrainerinnen und Ukrainer offen. Der Erfolg dieser ersten Reaktion auf die Fluchtzuwanderung war das Ergebnis einer aktiven Regierungspolitik, insbesondere auf lokaler Ebene, der Entstehung verschiedener Basisinitiativen und einer breiten gesellschaftlichen Solidarität, wodurch viele geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer in Privatwohnungen untergebracht werden konnten. Die Flüchtlingspolitik der polnischen Regierung steht allgemein im Einklang mit der vom Rat der Europäischen Union aktivierten „Interner Link: Massenzustromrichtlinie“, die Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine vorübergehenden Schutz gewährt. Polen hat zudem entschieden, ein eigenes Gesetz über die Rechtsstellung von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine zu erlassen. Dieses Gesetz gilt für alle ukrainischen Bürgerinnen und Bürger und ihre Familienangehörigen, die nach dem 24. Februar 2022 in Polen ankommen. Es erlaubt ihnen einen legalen Aufenthalt von bis zu 18 Monaten (dieser Zeitraum wurde inzwischen verlängert) mit einem vereinfachten Registrierungsverfahren. Außerdem erhalten sie Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Bildung (für Kinder) sowie zu Gesundheitsversorgung und Sozialhilfe, sofern sie eine nationale Identifikationsnummer (PESEL) beantragen. Nach ihrer Ankunft erhalten die geflüchteten Personen eine einmalige finanzielle Zuwendung; sie haben außerdem Anspruch auf Kindergeld und andere Sozialleistungen zu denselben Bedingungen wie polnische Staatsangehörige, ebenso auf kostenlose Plätze in Flüchtlingsunterkünften (seit März 2023 müssen sie allerdings die Hälfte ihrer Unterkunftskosten selbst tragen).
Der leichte Zugang zum Arbeitsmarkt mit vergleichsweise geringen strukturellen und institutionellen Hindernissen hat Polen zu einem begehrten Zielland für ukrainische Geflüchtete gemacht. Nur ein Jahr nach Ausbruch des Krieges waren fast 900.000 aus der Ukraine geflüchtete Personen, d.h. 70 Prozent, als arbeitend in Polen registriert. Den ukrainischen Geflüchteten wurden jedoch nicht die gleichen Integrationsleistungen (finanzielle Zuschüsse und Unterstützung durch Sozialarbeiterinnen und -arbeiter) gewährt wie Personen, die internationalen Schutz genießen. Außerdem mussten sich die ukrainischen Kriegsflüchtlinge nach einer anfänglichen Phase von einigen Monaten, in der sie oft bei polnischen Familien oder in Sammelunterkünften untergebracht waren, eine eigene Unterkunft suchen. Dies erwies sich aufgrund der Knappheit an verfügbaren Wohnungen in den größten Städten Polens und der steigenden Mieten als große Herausforderung. Es ist davon auszugehen, dass die Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche, das Fehlen langfristiger Integrationshilfen und die sich verbessernde Sicherheitslage in der Ukraine ausschlaggebend dafür waren, dass viele geflüchtete Personen Polen wieder verlassen haben – entweder um in andere Länder weiterzuwandern (hauptsächlich nach Deutschland) oder um in die Ukraine zurückzukehren.
Abbildung 2: Demografisches Profil der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die sich in Polen registriert haben, um eine PESEL-Nummer zu erhalten
Ministry of Digital Affairs [Polnisches Ministerium für digitale Angelegenheiten], https://dane.gov.pl/pl/dataset/2715 (Zarejestrowane ioski o nadanie statusu ukr)
Die öffentliche Meinung in Polen und die Haltung der politischen Parteien
Das Interner Link: Erbe der Vergangenheit hat die öffentliche Meinung in Polen über Ukrainerinnen und Ukrainer ebenso geprägt wie die ukrainische öffentliche Einstellung gegenüber polnischen Staatsangehörigen. Beide Länder erlangten ihre Unabhängigkeit vor einem schwierigen historischen Hintergrund (in Polen die Erinnerung an die von ukrainischen Nationalisten an der polnischen Zivilbevölkerung in der Westukraine begangenen Massaker während des Zweiten Weltkriegs; im Falle der Ukrainerinnen und Ukrainer die Politik der ethnischen Diskriminierung in der Zwischenkriegszeit, als Teile der heutigen Westukraine zu Polen gehörten, und die Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg). Als Anfang der 1990er Jahre in Polen die ersten Studien zur Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber ethnischen und religiösen Gruppen durchgeführt wurden, waren diese gegenüber Ukrainerinnen und Ukrainer eher negativ. Im Laufe der Jahre und insbesondere nach der Interner Link: Orangenen Revolution von 2004 und dem Interner Link: Euromaidan / Interner Link: Revolution der Würde von 2014 nahmen die positiven Gefühle gegenüber ukrainischen Staatsangehörigen zu. Im Jahr 2015 beispielsweise gaben 36 Prozent der befragten Polinnen und Polen an, positive Gefühle gegenüber Ukrainerinnen und Ukrainern zu hegen, während 32 Prozent der Befragten negative Gefühle äußerten (der Rest zeigte sich entweder gleichgültig oder unentschlossen). Ähnliche Studien, die in den folgenden Jahren durchgeführt wurden, zeigten, dass wohlhabendere sowie Bewohnerinnen und Bewohner größerer Städte Personen aus der Ukraine gegenüber eher positiv eingestellt sind. Im Kontext der zunehmenden Migration aus der Ukraine und der Entwicklung alltäglicher Beziehungen zwischen polnischen und ukrainischen Staatsangehörigen hat sich die öffentliche Meinung über Ukrainerinnen und Ukrainer stetig verbessert. Im Jahr 2021 erklärten 43 Prozent der Befragten in Polen, dass sie ein positives Bild von Ukrainerinnen und Ukrainern haben, während nur 25 Prozent ein negatives Bild äußerten. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die gesamte Ukraine stieg der Anteil der polnischen Bevölkerung mit einer positiven Sicht auf Ukrainerinnen und Ukrainer im Jahr 2023 auf 51 Prozent, während der Anteil derjenigen mit einer negativen Sicht auf 17 Prozent sank.
Es gibt auch Daten bezüglich der Bereitschaft der polnischen Bevölkerung, ukrainische Geflüchtete aufzunehmen. Zwischen 2015 und 2022 sprachen sich rund 60 Prozent der Befragten für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge aus, 35 Prozent waren dagegen. In zwei Umfragen, die 2022 nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine durchgeführt wurden, sank der Anteil derer, die sich gegen die Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge aussprachen, fast auf null: 94 Prozent der Polinnen und Polen sprachen sich im März 2022 für eine Aufnahme aus. In jüngster Zeit hat jedoch eine zunehmende Ermüdung angesichts der sozialen Belastung durch die Aufnahme von Geflüchteten in Verbindung mit einer steigenden Inflation und einem wirtschaftlichen Abschwung die Bereitschaft zur Aufnahme von ukrainischen Schutzsuchenden etwas gedämpft. Im Januar 2023 war die Unterstützung für die Aufnahme von aus der Ukraine geflüchteten Menschen auf 78 Prozent gesunken – ein freilich immer noch beeindruckender Wert.
Die Anwesenheit einer großen Zahl von ukrainischen Staatsangehörigen in Polen und die Integration der geflüchteten Menschen in die Infrastruktur des Wohlfahrtssystems und öffentlicher Dienstleistungen ging nicht mit einem Ausbau der Kapazitäten des Systems einher – insbesondere was Kindergärten, Schulen und das öffentliche Gesundheitswesen betrifft. Dies trug zu sozialen Spannungen bei, die durch einen diplomatischen Streit zwischen Polen und der Ukraine über den Export von ukrainischem Getreide noch verschärft wurden. Diese Spannungen erreichten Mitte 2023 ihren Höhepunkt und führten zu einem Anstieg der Unterstützung für die rechtsextreme Partei Konfederacja, die sich offen gegen die Bereitstellung von Sozialleistungen für Ukrainerinnen und Ukrainer ausspricht. In einer Umfrage vom Juli 2023 wurde die Konfederacja von 15 Prozent der Bevölkerung unterstützt, erhielt jedoch bei den Interner Link: Parlamentswahlen im Oktober 2023 nur sieben Prozent der Stimmen. Sie war die einzige Partei, die im Wahlkampf versuchte, aus der Anwesenheit ukrainischer Geflüchteter in Polen politisches Kapital zu schlagen; weder die Regierungspartei noch die wichtigsten Oppositionsparteien taten dies. Das deutet darauf hin, dass die anti-ukrainische Rhetorik nur begrenztes Potenzial zur Mobilisierung öffentlicher Unterstützung hat. Ganz anders sieht das Mobilisierungspotenzial hinsichtlich der Aufnahme von Migrantinnen und Migranten aus dem Nahen Osten oder Afrika aus: eine Mehrheit der Polinnen und Polen lehnt die Aufnahme nichteuropäischer Flüchtlinge ab. Während des Wahlkampfes und insbesondere im Zusammenhang mit der Interner Link: Debatte über das neue EU-Migrations- und Asylpaket erreichte die negative Rhetorik gegenüber nichteuropäischen Flüchtlingen einen Höhepunkt.
Mögliche Zukunftsperspektiven
Polen steht in Bezug auf die künftige Anwesenheit ukrainischer Kriegsflüchtlinge vor einem Dilemma. Einerseits könnten die Fluchtbewegungen angesichts des wachsenden Arbeitskräftebedarfs in Polen mit seiner alternden und schrumpfenden Bevölkerung als äußerst vorteilhaft angesehen werden. Einem Bericht der staatlichen Sozialversicherungsanstalt aus dem Jahr 2022 zufolge wird Polen in den nächsten zehn Jahren jährlich mehr als 200.000 neue ausländische Arbeitskräfte aufnehmen müssen, wenn das Land den derzeitigen Rückgang der Erwerbsbevölkerung ausgleichen will. Wirtschaftsverbände haben sich bei der Regierung darüber beschwert, dass Polen „das Rennen um die Ukrainerinnen und Ukrainer verliert“ – von denen viele bereits nach Deutschland abgewandert sind – und eine proaktivere Einwanderungs- und Integrationspolitik gefordert. Andererseits hat die Ukraine, die selbst vor großen demografischen Herausforderungen steht, ihre Bürgerinnen und Bürger aufgefordert, zurückzukehren und sich am Wiederaufbau des Landes zu beteiligen – und es liegt eindeutig im nationalen Interesse Polens, eine stabile und prosperierende Ukraine zu fördern.
Das wichtigste praktische Problem, mit dem sich Polen konfrontiert sieht, ist die Frage, wie das Humankapital, das die zugewanderten Ukrainerinnen und Ukrainer mitbringen, so genutzt werden kann, dass ein Missverhältnis zwischen Qualifikation und Position und damit eine Verschwendung von Potenzial („Brain Waste“) vermieden wird; einer Studie zufolge übten im Jahr 2018 85 Prozent der in Polen beschäftigten ukrainischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Tätigkeiten aus, die unter ihrem Kompetenzniveau lagen. Ukrainischen Geflüchtete in Polen haben ein sehr günstiges Bildungsprofil: Die verfügbaren Daten zeigen einen sehr hohen Anteil von Personen mit Hochschulbildung (60-70 Prozent). Allerdings gehen diese Qualifikationen oft nicht mit polnischen Sprachkenntnissen einher. In einer Ende 2022 vom Zentrum für Migrationsforschung der Universität Warschau durchgeführten Umfrage gaben nur fünf Prozent der Befragten an, über gute Polnischkenntnisse zu verfügen. Eine weitere große Herausforderung ist die Integration der ukrainischen Kinder, die nicht in Polen zur Schule gehen. Nach Angaben des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) werden derzeit nur etwa 50 Prozent der ukrainischen Flüchtlingskinder in polnischen Schulen unterrichtet. Die anderen besuchen entweder Online-Klassen in der Ukraine oder sind durch das Raster gefallen. Unter Berücksichtigung all dieser Faktoren wird deutlich, dass die Integration von Personen, die vorübergehenden Schutz in Polen genießen und sich für einen langfristigen Aufenthalt in Polen entscheiden, eine große Herausforderung für die im Oktober 2023 ins Amt gewählte neue Regierung darstellen wird. In Bezug auf den Zugang zu bezahlbarem Wohnraum, die Bildung der Kinder, Polnischkurse, Umschulungen und die Anerkennung von Qualifikationen wird deutlich mehr Unterstützung erforderlich sein.
(Übersetzung aus dem Englischen: Beeke Wattenberg)
Dr. Marta Jaroszewicz ist Assistenzprofessorin am Centre of Migration Research der Universität Warschau. Zu ihren Forschungsinteressen gehören: Zusammenhänge von Migration und Sicherheit, kritische Sicherheitsstudien, Migrationspolitik in den östlichen Nachbarstaaten der EU und im eurasischen Raum. Eines ihrer aktuellen Forschungsprojekte befasst sich mit der ukrainischen Migration nach Polen.
Mateusz Krepa ist Doktorand an der Doktorandenschule für Sozialwissenschaften an der Universität Warschau und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre of Migration Research der Universität Warschau. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen kritische Sicherheitsstudien und die Geschichte des politischen Denkens im Kontext von Migration und Sicherheit.
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