Afghanische Asylsuchende und das Gemeinsame Europäische Asylsystem | Afghanistan | bpb.de
Afghanische Asylsuchende und das Gemeinsame Europäische Asylsystem
Bernd Parusel
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Das Gemeinsame Europäische Asylsystem zielt auf die Angleichung nationaler Asylstandards ab. Der Fall afghanischer Asylsuchender in der Europäischen Union offenbart jedoch Mängel in Bezug auf Fairness und Verantwortungsteilung.
In den vergangenen zehn Jahren (2008-2017) kamen mehr als 545.000 afghanische Staatsangehörige in die Europäische Union, um hier Interner Link: Asyl zu beantragen. Afghanistan war somit nach Syrien das zweitwichtigste Herkunftsland von Asylsuchenden in der EU. Die Zahl der Asylsuchenden aus Afghanistan ist nach dem Rückzug der internationalen Truppen aus dem Land 2014 erheblich gestiegen. Interner Link: Im Jahr 2015 wurden in den EU-Mitgliedstaaten während der sogenannten "europäischen Flüchtlingskrise" fast 180.000 afghanische Asylsuchende registriert. Im Zeitraum 2008-2017 war jeder fünfte afghanische Interner Link: Asylbewerber (19,8 Prozent) ein unbegleiteter Minderjähriger, also ein Kind unter 18 Jahren, das ohne Eltern oder Erziehungsberechtigte einreiste.
Die Art und Weise, wie die EU-Mitgliedstaaten mit afghanischen Asylsuchenden umgehen, ist Gegenstand zahlreicher Kontroversen. Trotz Interner Link: der sich verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan erhält mehr als die Hälfte aller afghanischen Asylbewerber_innen keinen Schutz in der EU. Sie sind zudem mit beträchtlichen Ungerechtigkeiten konfrontiert, da ihre Anerkennungsquoten stark variieren, je nachdem, in welchem EU-Mitgliedsland ihre Anträge auf Asyl registriert und geprüft werden. Viele der abgelehnten Asylbewerber_innen riskieren, sich über lange Zeit in einem rechtlichen und sozialen Schwebezustand wiederzufinden, da sie zwar gezwungen sind, die EU zu verlassen, aber tatsächlich relativ selten in ihr Herkunftsland zurückkehren.
In der aktuellen politischen Diskussion über notwendige Reformen des Interner Link: Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) spielen Fragen wie eine gerechtere quantitative Verteilung der Asylbewerber_innen zwischen den EU-Mitgliedstaaten, eine einheitlichere Asylentscheidungspraxis und eine glaubwürdige Rückkehrpolitik eine zentrale Rolle. Das GEAS enthält eine Reihe von Rechtsakten, die zum einen die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats (Interner Link: Dublin-Verordnung) regeln. Zum anderen legen sie Mindeststandards für die Aufnahme von Asylbewerbern, die Durchführung von Asylverfahren und Kriterien für die Anerkennung von Nicht-EU-Bürgern als Flüchtlinge oder Interner Link: subsidiär Schutzberechtigte fest. Das Interner Link: GEAS wird durch weitere Rechtsakte ergänzt, die über das Asylrecht im engeren Sinne hinausgehen, wie etwa gemeinsame Regeln für die Interner Link: Rückführung ausreisepflichtiger Personen. Im Jahr 2016 hat die Europäische Kommission einen Prozess zur Reform und Stärkung dieser gemeinsamen Gesetzgebung eingeleitet. Da afghanische Asylbewerber_innen eine wichtige Gruppe darstellen, die von dieser Gesetzgebung berührt wird, können die Probleme, mit denen sie konfrontiert sind, konkrete Erkenntnisse darüber liefern, wie gut das GEAS funktioniert und welche Defizite bestehen.
Ungleiche Verteilung der Verantwortung in der EU
Die einzelnen Mitgliedstaaten haben unterschiedlich viel Verantwortung für die Aufnahme von Asylbewerber_innen aus Afghanistan übernommen. Unter erwachsenen Asylsuchenden ist Interner Link: Deutschland das mit Abstand bevorzugte Zielland in der EU. Fast 40 Prozent aller afghanischen Asylsuchenden, die zwischen 2008 und 2017 in die EU kamen, wurden dort registriert (216.860). Weitere wichtige Aufnahmeländer waren Ungarn, Schweden, Österreich und das Vereinigte Königreich. Für die spezielle Gruppe der unbegleiteten Minderjährigen aus Afghanistan war Interner Link: Schweden das Hauptziel: Allein im Jahr 2015 wurden dort 22.625 dieser jungen Geflüchteten registriert, gefolgt von Deutschland und Österreich. Am anderen Ende der Skala stehen zwölf Mitgliedstaaten, die in den letzten zehn Jahren weit weniger als 1.000 afghanische Asylbewerber_innen registriert haben; einige Länder nahmen nur eine Handvoll unbegleiteter Minderjähriger aus Afghanistan auf – oder gar keine. Diese Unterschiede können bis zu einem gewissen Grad darauf zurückgeführt werden, dass afghanische Asylsuchende selbst unterschiedliche Zielländer wählen, oder dass Personen, die ihre – zumeist irregulären – Reisen erleichtern, bestimmte Routen und Ziele anbieten. Zum Teil kommen sie aber auch dadurch zustande, dass Zwangsmigrant_innen auf ihrem Weg zu anderen Zielorten entdeckt und an der Weiterreise gehindert werden.
Unterschiedliche Schutzquoten
Abgesehen von der ungleichen Verteilung der afghanischen Asylbewerber_innen in der EU variieren ihre Chancen, im Asylverfahren einen Schutzstatus zu erhalten, sehr stark von einem EU-Mitgliedstaat zum anderen. Insgesamt sind in den letzten Jahren ihre Aussichten, in Europa bleiben zu dürfen, zurückgegangen. Im Jahr 2015 gewährten die EU-Mitgliedstaaten im Durchschnitt rund 66,9 Prozent aller afghanischen Asylbewerber_innen Schutz. Dieser Anteil sank 2016 auf 56,8 Prozent und ging 2017 auf 46,3 Prozent zurück.
Einzelne Mitgliedstaaten entscheiden im Falle afghanischer Asylbewerber_innen ganz unterschiedlich: In Deutschland, dem wichtigsten Aufnahmeland, lag die Schutzquote für Afghaninnen und Afghanen 2017 bei 46,6 Prozent. In Österreich belief sie sich auf 38,4 Prozent, in Schweden auf 37,1 Prozent. Im Gegensatz dazu waren die Anerkennungsquoten für afghanische Staatsangehörige in Dänemark (17,8 Prozent), Kroatien (6,3 Prozent) und Bulgarien (1,4 Prozent) viel niedriger. Wesentlich großzügiger waren hingegen Luxemburg, Italien und Frankreich mit Schutzquoten von weit über 80 Prozent oder 90 Prozent.
Zahl der Asylentscheidungen in erster Instanz, Zahl der positiven Entscheidungen und Schutzquoten für afghanische Asylantragsteller_innen in der EU 2017
Hinweis: EU-Mitgliedstaaten, die weniger als 50 erstinstanzliche Entscheidungen über Asylanträge von afghanischen Staatsangehörigen getroffen haben, werden in der Tabelle nicht dargestellt, sind jedoch im EU-Durchschnittswert enthalten.
Gesamtzahl der Entscheidungen
Gesamtzahl der positiven Entscheidungen
Schutzquote in Prozent
Luxemburg
185
180
97,3%
Italien
1.970
1.805
91,6%
Frankreich
7.515
6.315
84,0%
Spanien
65
50
76,9%
Griechenland
2.135
1.615
75,6%
Belgien
5.160
3.030
58,7%
Deutschland
109.730
51.170
46,6%
Europäische Union
179.640
83.190
46,3%
Rumänien
120
55
45,8%
Finnland
1.335
560
41,9%
Australien
17.730
6.810
38,4%
Schweden
25.155
9.325
37,1%
Vereinigtes Königreich
1.910
690
36,1%
Niederlande
1.895
670
35,4%
Ungarn
1.800
580
32,2%
Dänemark
1.350
240
17,8%
Kroatien
80
5
6,3%
Bulgarien
1.390
20
1,4%
Quelle: Eurostat (2018): First instance decisions on applications by citizenship, age and sex. Annual aggregated data (rounded) [migr_asydcfsta]. Letztes Update: 30. März 2018, Zugriff auf Daten: 10. April 2018.
Angesichts der Tatsache, dass die EU seit fast zwei Jahrzehnten auf eine Angleichung der nationalen Standards für Asylentscheidungen hinarbeitet, sind diese Unterschiede bemerkenswert. Bereits 1999 hat der Europäische Rat in Tampere das Ziel vereinbart, eine "Annäherung der Bestimmungen über die Zuerkennung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft" zu erreichen. Im Jahr 2004 verabschiedete die EU ihre erste verbindliche Richtlinie zur Anerkennung von Asylbewerber_innen, die später gestärkt und konsolidiert wurde. Parallel zu diesem Gesetzgebungsverfahren wurde auch eine schrittweise Standardisierung der nationalen Entscheidungsprozesse durch von der EU organisierte Mechanismen für den Erfahrungsaustausch zwischen nationalen Asylentscheider_innen erleichtert.
Während die mangelnde Harmonisierung in Fachkreisen allgemein bekannt ist, sind die Lösungen immer noch provisorisch und unzureichend. Auf der einen Seite wird daran gearbeitet, das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) zu einer "Europäischen Asylagentur" auszubauen. Im März 2016 beschloss der Rat der Europäischen Union, die Harmonisierung der Asylentscheidungen in den Mitgliedstaaten durch eine einheitlichere Anfertigung und Nutzung von Herkunftslandinformationen voranzutreiben. Ziel ist es, das zu dämpfen, was der Europäische Flüchtlingsrat als europäische "Asyl-Lotterie" bezeichnet hat.
Gründe für die großen Unterschiede zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten könnten mit unterschiedlichen Auffassungen nationaler Asylbehörden über die Sicherheitslage in Afghanistan sowie "internen Fluchtalternativen" zusammenhängen. Demnach gelten einige Regionen innerhalb eines bestimmten Herkunftslandes als sicher genug, um abgelehnte Asylbewerber_innen dorthin zurückzuführen. Wie es scheint, nutzen viele EU-Länder dieses Konzept im Falle afghanischer Asylsuchender – außer Italien, was teilweise die relativ hohe Schutzquote für Afghaninnen und Afghanen dort erklärt.
Rückführung abgelehnter Asylsuchender nach Afghanistan – eine Illusion?
Ein weiteres Problem stellt die Rückführung der vielen afghanischen Asylbewerber dar, bei denen entschieden wird, dass sie nicht schutzbedürftig sind. Wird ein Asylantrag abgelehnt, müssen die Betroffenen in der Regel ihr Gastland verlassen. Gehen sie nicht freiwillig, werden sie unter Zwang abgeschoben. In ihrer "Europäischen Migrationsagenda" vom Mai 2015 stellte die Europäische Kommission jedoch fest, dass das europäische Rückkehrsystem "nur unvollständig funktioniert" und dass die "Durchsetzungsquote" erhöht werden müsse.
Das Beispiel afghanischer Staatsangehöriger zeigt, wie schwierig dies im Falle von unsicheren und konfliktreichen Ländern sein kann. In den vergangenen fünf Jahren (2013-2017) wurden insgesamt 137.135 Afghaninnen und Afghanen aufgefordert, die EU-Mitgliedstaaten zu verlassen, doch nur 27.170 Personen reisten tatsächlich aus. In den letzten Jahren hat sich die Kluft zwischen der Zahl ausgestellter Rückkehranordnungen und der Zahl der tatsächlichen Ausreisen afghanischer Staatsangehöriger aus Europa vergrößert. 2016 konnten 31 Prozent und 2017 unter 23 Prozent in ihr Herkunftsland zurückgeführt werden. Dies bedeutet, dass es innerhalb der EU eine wachsende Zahl afghanischer Staatsangehöriger gibt, deren Asylanträge zwar abgelehnt wurden, die aber trotzdem noch anwesend sind.
In der politischen Diskussion über die Schwierigkeit von Rückführungen wird häufig auf die mangelnde Bereitschaft der Asylsuchenden hingewiesen, Ablehnungsbescheiden Folge zu leisten. Probleme können sich auch ergeben, wenn Personen keine Reisedokumente besitzen oder diese bewusst nicht den Vollzugsbehörden vorlegen, die Offenlegung ihrer Identität verweigern oder untertauchen, um sich der Abschiebung zu entziehen. Herkunftsländer weigern sich manchmal, ihre eigenen Staatsangehörigen wieder aufzunehmen, oder sie geben keine Pässe aus.
Während solche Erklärungen in vielen Fällen zutreffen mögen, deutet das Beispiel Afghanistans darauf hin, dass es auch fundamentalere Gründe dafür gibt, dass die Rückkehrpolitik oft nicht funktioniert. Obwohl die EU und einige ihrer Mitgliedstaaten Rückübernahmeabkommen mit Afghanistan geschlossen haben, die mehrere der genannten praktischen Hindernisse beseitigen sollten, ist die sich verschlechternde Sicherheitslage in Afghanistan sicherlich eine Ursache vieler Probleme. So haben beispielsweise mehrere deutsche Bundesländer Abschiebungen nach Afghanistan aus Sicherheitsgründen zeitweise ausgesetzt. Im Mai 2017 wurden nach einem Terroranschlag in der Nähe der deutschen Botschaft in Kabul Abschiebungen aus Deutschland fast gänzlich gestoppt und erst später für begrenzte Gruppen, etwa Straftäter, wieder aufgenommen. Anfang Februar 2018 stellte Schweden nach einem anderen Anschlag Zwangsrückführungen ein, da Botschaftsmitarbeiter_innen keine Möglichkeit hatten, den Flughafen in Kabul zu erreichen, um Rückkehrer_innen zu treffen. In der Praxis geben mehrere EU-Länder zu, dass sie nur selten oder gar keine Abschiebungen nach Afghanistan durchführen.
Konsequenzen des defizitären EU-Asylsystems
Da der Anteil der abgelehnten afghanischen Asylsuchenden zunimmt und gleichzeitig ihre Rückkehr selten realistisch ist, führt dies zu mehr irregulären oder halblegalen Aufenthalten in Europa. In Deutschland zum Beispiel enden die meisten abgelehnten Asylbewerber_innen aus Afghanistan, die nicht abgeschoben werden können, mit einer Interner Link: "Duldung", einem unsicheren Status , der lediglich eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung bedeutet und die Interner Link: Integration behindert. Schwedische Behörden können in Fällen langanhaltender Rückkehrhindernisse befristete Aufenthaltsgenehmigungen erteilen. Die meisten abgelehnten Asylbewerber_innen, die das Land nicht verlassen, bleiben allerdings ohne legalen Status im Land. Andere wandern weiter in andere EU-Länder, um erneut Asyl zu beantragen. Viele afghanische Staatsangehörige haben Schweden verlassen, um es in Frankreich oder Italien erneut zu versuchen, wo die Chancen, Schutz zu erhalten, bislang höher sind.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Situation der afghanischen Asylbewerber_innen in der EU besonders deutlich zeigt, dass die gemeinsame Asylpolitik zwei gravierende Mängel aufweist. Erstens fehlt es an einer harmonisierten Entscheidungspraxis in Asylverfahren. Das führt dazu, dass die Chancen von afghanischen Asylbewerber_innen, Schutz zu erhalten, sehr unterschiedlich sind, je nachdem, wo in der EU sie ankommen (entweder nach eigener Wahl oder zwangsweise nach den Zuständigkeitsregeln der Interner Link: Dublin-Verordnung). Auch trägt die Uneinheitlichkeit der Entscheidungen zu mehr unerwünschter "Sekundärmigration" von Asylbewerbern innerhalb der EU bei. Sieht man sich vor dem Hintergrund zunehmender Bemühungen um die Durchsetzung von Rückführungen nach Afghanistan die relativ niedrigen Quoten der tatsächlich Zurückgekehrten an, erscheinen die Erwartungen der EU-Mitgliedstaaten hinsichtlich der Rückkehr abgelehnter Asylbewerber_innen nach Afghanistan unrealistisch. Dies schafft eine Situation, in der viele afghanische Staatsangehörige in der EU bleiben, mit prekärem oder Interner Link: gar keinem legalen Aufenthaltsstatus und schlechten Integrationsmöglichkeiten. Zwar tragen in erster Linie die afghanischen Asylsuchenden selbst die negativen Folgen dieser Situation, doch besteht auch die Gefahr, dass die Asylpolitik in der EU als illegitim und nicht vertrauenswürdig wahrgenommen wird.
Dr. Bernd Parusel ist Politikwissenschaftler und Experte für Migrations- und Asylpolitik in der EU. Er arbeitet für das Europäische Migrationsnetzwerk (EMN) beim schwedischen Migrationsamt.