Dr. Markus Weingardt, Stiftung Weltethos, Tübingen
Dr. Markus Weingardt von der Stiftung Weltethos in Tübingen referierte über das Konflikt- und Friedenspotenzial von Religionen. Da Gewalt allzu oft im Namen einer Religion oder eines Gottes verübt werde, sei es kaum überraschend, dass Religionen keinen Ruf als Friedensstifter genießen. Viele Menschen glauben, so Dr. Weingardt, dass eine Welt ohne Religionen friedlicher wäre. Ein Blick auf die Empirie lasse den Referenten jedoch an dieser Überzeugung zweifeln. Um die Bedeutung und die Rolle von Religionen in Konflikten zu verstehen, müsse zunächst erörtert werden, wie Konflikte funktionieren. Dr. Weingardt differenziert Interessenskonflikte und Wertekonflikte. Im Fokus von Interessenskonflikten stünde der Streit um teilbare Güter. Folglich seien Kompromisslösungen grundsätzlich möglich, wenn auch nicht immer realistisch. Wertekonflikte hingegen basieren auf Wahrheiten, Werten, Weltanschauungen und Identität – auf unteilbaren Gütern und etwas viel Grundsätzlicherem: Es gebe nicht nur ein bisschen Demokratie und ein bisschen Diktatur, kein allgemeines Recht auf Bildung, aber nur gegen Bezahlung. Das wesentliche Charakteristikum eines Wertekonfliktes sei sein "entweder, oder", sein "ganz oder gar nicht"-Muster. Für solche Konflikte seien die Menschen leichter zu mobilisieren, so Dr. Weingardt. Aus diesem Grund seien die Mächtigen dieser Welt bemüht, Interessenskonflikte in Wertekonflikte zu verwandeln. Dazu nutzen sie säkulare Ideologien wie z.B. Nationalismus oder Sozialismus. Oder aber sie nutzen die Religion. Dr. Weingardt erörterte diese Strategie wie folgt: Wenn es gelingt, Interessenskonflikte religiös aufzuladen, sei dies doppelt effektiv. Es gehe nicht alleine um Identität, sondern um den Kampf zwischen Gut und Böse, für den, falls nötig, das eigene Leben geopfert und gleichzeitig viele "Böse" getötet werden. In allen Religionen gebe es Texte und Überlieferungen, in denen Gewalt positiv konnotiert ist, da sie von Gott gefordert würde. Dies sind die Texte, auf die politische oder religiöse Führer zurückgreifen können. Dabei entsteht nicht nur das Problem, dass die entsprechenden Textstellen wörtlich interpretiert werden, sondern auch die Schwierigkeit, dass sie gleichzeitig viel Raum für Interpretationen lassen. Als Beispiel für diese Aussage verweist Dr. Weingardt auf unterschiedliche Auffassungen zur Todesstrafe innerhalb des Christentums.
Trotz der Instrumentalisierung von Religion für Konflikte, sollte nicht unerwähnt bleiben, dass friedensorientierte religiöse Überlieferungen für die allermeisten Menschen die Richtschnur ihres Handelns seien, so der Referent. Die mitunter berühmtesten Friedensstifter wie Mahatma Gandhi oder Martin Luther King Jr. waren tief religiöse Persönlichkeiten – mehr noch: Politik und Religion waren für sie unmittelbar miteinander verbunden. Eine Reihe von Beispielen sollte das religiöse Friedenspotenzial aufzeigen. Beispielsweise vermittelte der Vatikan während eines argentinisch-chilenischen Konfliktes im Jahr 1977, sodass ein Freundschafts- und Friedensvertrag geschlossen werden konnte. Außerdem war der Prozess der deutschen Wiedervereinigung stark von den Bemühungen der evangelischen Kirche geprägt. Diese und weitere Beispiele machen deutlich, so Dr. Weingardt, dass es sich bei den Friedensbemühungen von Religion nicht um Einzelfälle handele. Natürlich wohne Religionen ein Konfliktpotenzial inne, aber das Friedenspotenzial dürfe keineswegs unterschätzt oder gar übersehen werden. So sind die Caritas und die Diakonie die größten privatrechtlichen Arbeitgeber Deutschlands, das Kirchenasyl stellt einen wichtigen Bestandteil der Menschenrechtsarbeit dar und der katholische Malteser-Orden bietet Menschen ohne Krankenversicherung eine medizinische Versorgung an. Zukünftige Herausforderungen gibt es dennoch. In diesem Zusammenhang richtete der Referent Forderungen an vier verschiedene Akteurinnen und Akteure unserer Gesellschaft: Zunächst appellierte er an die Medien, die einseitig gewaltfokussierte Berichterstattung zu relativieren, da sie den Blick auf Religionen verzerre. Ein solches Zerrbild wiederum verstärke Ressentiments und Angst vor religiösen Akteuren. Ferner liege es in der Verantwortung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, stärker zur Friedenswirkung von Religionen zu forschen. Religionsgemeinschaften selbst seien aufgefordert, ihre Friedenspotenziale zu nutzen und ihre Gewaltpotenziale einzudämmen. Dazu müsse das Rad nicht neu erfunden werden, vorhandene Kompetenzen sollten jedoch weiter entwickelt werden, auch im Austausch mit anderen Akteuren. An die Politik richtet Dr. Weingardt die Forderungen nach dem Erkennen möglicher religiöser Akteure mit friedensstiftendem Potenzial, dem Ermutigen und dem Einbeziehen ebenjener Akteure. Das Friedenspotenzial von Religionen müsse als Chance wahrgenommen werden. Noch nicht ausgeschöpftes Potenzial gebe Hoffnung, dass Vieles noch möglich ist.
Die anschließende Diskussion thematisierte die Kooperation Deutschlands in der Entwicklungszusammenarbeit. In diesem Zusammenhang interessierte das Plenum die Chancen und Grenzen der Zusammenarbeit mit religiösen Akteuren. Dr. Weingardt warnte davor, die Kooperation mit religiösen Akteuren nach einem Schema F zu bewerten. Die einzige Lehre, die tatsächlich gelte, sei die Notwendigkeit nach Dialog. Gespräche müssten möglichst vor der Manifestierung von Konflikten stattfinden. Vertrauen entstünde durch Annäherung und Kooperation. Dr. Weingardt konkretisierte auch die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Politik, Wissenschaft und religiösen Akteuren und lobte in diesem Zusammenhang die Einrichtung des Referats "Religion und Außenpolitik" im Auswärtigen Amt.
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"Konflikt- und Friedenspotenzial der Religionen"
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