Berlin, 1. November 1895, Varieté Wintergarten. Max und Emil Skladanowsky präsentieren vor ca. 1.500 Gästen bewegte Bilder als Schlussnummer ihres Varietéprogramms. Sie zeigen sie mit ihrem Projektor, dem Bioscop. Das 15-minütige Programm mit acht kurzen Streifen gefilmter Varieténummern wird begleitet von einem Orchester. Ein gewisser Herman Krüger, Freund von Max Skladanowsky, hat die Musik dazu geschrieben. Paris, 28. Dezember 1895, Indischer Salon des Grand Café, Boulevard des Capucines. Die Brüder Lumière führen erstmals öffentlich zehn ihrer selbstgedrehten dokumentarischen Kurzfilme von 40 bis 50 Sekunden Dauer einem zahlenden Publikum vor. Dazu benutzen sie den Kinematographen, ein von ihnen selbst entwickeltes Aufnahme-, Kopier- und Projektionsgerät. Ein Pianist begleitet die Filme. Beide Ereignisse markieren den Beginn einer neuen Epoche, der Stummfilmzeit. In ihr wird der Film von einer Jahrmarktattraktion zum populären Massenmedium, zu einer neuen, eigenen Kunstform mit stumm agierenden Schauspielern. In ihr entstehen der Spiel- und Dokumentarfilm, eine eigene Filmsprache (Kamera und Montage) und nicht zuletzt eine neue musikalische Gattung, die Filmmusik.
Das Ende dieser Ära wurde in den späten 1920er Jahren eingeläutet, als der Interner Link: Tonfilm sich durchzusetzen begann. Dies bedeutete für jeden dritten Berufsmusiker in Deutschland den Verlust des Arbeitsplatzes. Nach einer mehrjährigen Übergangszeit, die mancherorts bis in die Mitte der 1930er Jahre dauerte, verschwand der nun retrospektiv so bezeichnete Stummfilm fast vollständig. Allerdings war es in den Kinos nur sehr selten "stumm" gewesen. Dafür gab es verschiedene Gründe. Traditionellen Vorbildern folgend, in denen die Musik Verbindungen mit Sprache, Drama oder Tanz eingeht, lag es nahe, dass die Musik mit dem Film zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen würde. Diese "Vorläufer", wie Bühnen- und Programmmusik, Melodram, Oratorium, Oper und Operette, Musical und Revue, wurden immer wieder in der Stummfilmmusik adaptiert. Nicht nur wurden zahlreiche Theaterstücke und Opern verfilmt, sondern ihre musikdramaturgische Gestaltung wurde auch in den Originalkompositionen übernommen. Man griff Prinzipien wie Leitmotiv, Musiknummer, Rezitativ und durchkomponierte Sequenzen auf und passte sie den Besonderheiten des neuen Mediums an.
Musik sollte nicht nur das störende Projektorengeräusch übertönen, sondern auch dem stummen Mienen- und Gebärdenspiel der Leinwandakteure Leben einhauchen sowie die flimmernden Bilder musikalisch illustrieren, emotionalisieren oder kommentieren. Dieser akustische Subcode lieferte dem Zuschauer zusätzliche Informationen zu dem, was gerade auf der Leinwand passierte, und schuf einen Klangraum, der die projizierte Zweidimensionalität vergessen lassen sollte. Auch die "Steigerung des Kunstgenusses" durch Musik, wie es Brecht formulierte, war schon damals ein wichtiger Faktor. Nach einer Publikumsbefragung aus dem Jahr 1914 scheint die Musik im Kino, zumindest für Mädchen, ein zentrales Motiv für den Kinobesuch gewesen zu sein (Altenloh).
Live oder technisch reproduzierte Tonerzeugung
Innenansicht eines Kinos mit Wurlitzer-Orgel - Foto um 1920. (© picture-alliance, akg-images)
Innenansicht eines Kinos mit Wurlitzer-Orgel - Foto um 1920. (© picture-alliance, akg-images)
Bereits seit den frühesten Anfängen wurde der Ton (Musik, Geräusch und manchmal auch die Sprache) auf zwei verschiedenen Wegen realisiert: live oder durch Reproduktion mit technischen Hilfsmitteln. Den Live-Ton erzeugten im Kino anwesende Musiker und Geräuschemacher, zuweilen auch Sänger oder Sprecher. Schon zu Beginn der Stummfilmära, etwa beim Wanderkino, kommentierte ein Rezitator in der Art eines Moritatensängers das Bild bzw. die Rollen des Schauspielers, indem er mit jeweils veränderter Stimme sprach. Sänger und Chöre kamen zum Einsatz, als die in Mode gekommenen Opern- und Operettenverfilmungen live aufgeführt wurden. Wichtigster Interpret im Kino war jedoch zunächst der Piano-, Harmonium- oder Orgelspieler, der am leichtesten den schnellen Filmbildern folgen konnte.
Die Etablierung eigener Kinoensembles lief parallel mit der Entstehung ortsgebundener Kinos. Die Spanne reichte vom Duo, Trio, Salonorchester bis zum großen Sinfonieorchester samt Chor. Die Aufgabe des Geräuschemachers übernahm meist der Schlagzeuger oder der Organist, dessen spezielle Kinoorgel bestimmte Geräuscheffekte liefern konnte. Die orchestrale Live-Musik gelangte vor allem in den Kinopalästen der 1920er Jahre zur vollen Blüte und stellte den Höhepunkt einer bemerkenswerten Entwicklung dar.
Ein Problem war die Synchronität zwischen Film und Musik. Um dieses in den Griff zu bekommen, mussten die Musiker ihr Spiel entweder dem Film anpassen oder es wurde mit technischen Hilfsmitteln gearbeitet oder experimentiert. War es noch relativ einfach, die Bandgeschwindigkeit zwischen Vorführer und Dirigenten durch Handzeichen, Telefon oder Signallampen abzustimmen, mussten sich der Dirigent und sein Orchester beim Noto-Film-Verfahren am Notenband orientieren, das am unteren Rand des Films einkopiert wurde und von links nach rechts wanderte. Beim Beck-Verfahren agierten die Schauspieler während der Dreharbeiten zu einer Musik, die am Aufnahmeort erzeugt wurde. Die mit einer zweiten Kamera aufgezeichneten Bewegungen des Dirigenten wurden dann im Kino vor das Orchester projiziert. Bei einem anderen Verfahren steuerte ein Orchestermusiker die Vorführgeschwindigkeit des Projektors mithilfe des Messtronoms, eines Geräts des deutschen Filmpioniers Oskar Messter. Carl Robert Blums Musikchronometer schließlich ermöglichte eine ferngesteuerte Synchronisation zwischen einem Notenband am Pult des Dirigenten und dem Filmprojektor.
Bei reproduzierter Musik kamen Interner Link: Grammophon oder Tonrollen zum Einsatz, aber auch mechanische Musikinstrumente wie Pianola, mechanisches Klavier oder Orchestrion sowie speziell konstruierte Kinematographen-Instrumente. Die technischen Unzulänglichkeiten dieser Hilfsmittel hinsichtlich Aufführungsdauer, Lautstärke und vor allem Synchronität von Bild und Ton konnten letztlich jedoch erst mit Einführung des Tonfilms überwunden werden, mit dem sogenannten Lichttonverfahren, einer optischen Umsetzung der Tonspur auf dem Filmstreifen.
Live-Musik entstand in den einzelnen Kinos jeweils neu vor Ort und war somit eng an äußere Rahmenbedingungen (Größe und Qualität des Kinos bzw. des ausführenden Ensembles) gebunden. Art und Weise sowie Qualität der Live-Musik lagen in den Händen der dort Verantwortlichen. Sie divergierte deshalb sehr stark und konnte auch die Rezeption eines Films erheblich beeinflussen. Die reproduzierte Musik dagegen wurde meist vom Filmhersteller oder vom Verleiher in Form von Tonträgern zusammen mit dem Film vertrieben, sofern der Kinobetreiber nicht eigenes Material zur Tongestaltung verwendete.
Kompilationen und Illustrationen
Die Zusammenstellung der Live-Musik, damals Kompilation oder Illustration genannt, lag zunächst in den Händen eines Pianisten oder Dirigenten. Dabei konnte man auf bestehende Werke der Unterhaltungs- und Konzertmusik, auf Opern oder Operetten zurückgreifen. Oder man verwendete extra für diesen Zweck geschaffene kurze Musikstücke für filmische Standardsituationen, wie Spannung, Verfolgung, Flucht, Liebes- oder Trauerszenen. So enthält J. S. Zamecniks Sam Fox Moving Picture Music (Bd. 1, New York, 1913), eines der ersten seiner Art, u. a. folgende Genrestücke für Klavier: Cowboy-, Märchen-, Kriegs- und Sturmmusik, chinesische und orientalische Musik. In Deutschland veröffentlichte der Filmmusikpionier und Komponist Giuseppe Becce im Jahr 1919 den ersten Band seiner Kinothek (Kinobibliothek) mit Bearbeitungen existierender Werke für den filmischen Gebrauch und Genrestücken. Auch Arnold Schönbergs Begleitungsmusik zu einer Lichtspielscene (1930) spiegelt die damals übliche Vertonungspraxis wider. Sie hat sich vom Prinzip her bis heute erhalten, und zwar vor allem im Bereich des Fernsehens, im Einsatz einer nach Stichworten katalogisierten Archiv- oder Librarymusik.
Die Kunst des Illustrators lag darin, aus dem Mix verschiedenster Werke eine Art geschlossenes Ganzes herzustellen. Zeitzeuge Kurt London schildert den Arbeitsablauf eines Filmillustrators: Betrachten des Films, um einen Eindruck von Inhalt und Form zu bekommen; Stoppen der Dauer der Szenen, die er nach musikalischen Gesichtspunkten aufteilt; Auswahl der Musikstücke nach stilistischen und dramaturgischen Gesichtspunkten und ihre Bearbeitung und Anpassung an den Film; Komposition von Überleitungen; Instrumentierung der Musik für das jeweilige Ensemble.
Die Kompilationspraxis dominierte den filmmusikalischen Alltag und lieferte neben guten (vor allem in den 1920er Jahren) auch fragwürdige Ergebnisse, die für das damals teilweise schlechte Image von Filmmusik verantwortlich waren. Sie war letztlich Ausdruck der Arbeitsbedingungen der Kinomusiker (großer Zeitdruck, begrenztes Notenmaterial), offenbarte aber auch stilistische und dramaturgische Unsicherheit bzw. Inkompetenz einzelner Illustratoren, besonders in der Anfangsphase der Stummfilmmusik. Oskar Messter berichtet hierzu: "Noch im Jahre 1913 war der künstlerische Wert der Filmbegleitmusik selbst in manchen größeren Lichtspieltheatern recht mäßig. Die Kinokapellen spielten zu den Filmen eine Reihe von Musikstücken und Phantasien, die meistens an dem Inhalt des Films vorbeigingen."
Die Kompilation war jedoch notwendig, um den hohen Bedarf an Musik zu decken, den ein ständig wechselndes Kinoprogramm erzeugte. In den 1920er Jahren wurde diese Praxis derart verfeinert, dass durchaus künstlerische Ergebnisse erzielt wurden, gefördert durch Qualitätsdebatten in einschlägigen Filmmusikpublikationen. Dies gelang, wenn etwa stilistische Einheitlichkeit erreicht wurde oder ein erfahrener Kapellmeister das nötige Fingerspitzengefühl im Umgang mit der Musik bewies. Nicht selten beauftragten die Filmfirmen deshalb die Dirigenten der Uraufführungstheater, für ihre Kompilate sogenannte cue sheets, Musikaufstellungen, anzufertigen, die dann zusammen mit dem Film an die Kinos ausgeliefert wurden.
Autorenillustrationen und Improvisationen
Eine Verbesserung der Filmmusikpraxis bedeutete die damals als "Autorenillustration" bezeichnete Musik, eine Mischform von Kompilation und Komposition. Der kompositorische Anteil eines Illustrators konnte jedoch sehr stark variieren. Wichtigste Vertreter dieser Zunft in Deutschland waren Eduard Künneke, Hans May, Fritz Wenneis und Giuseppe Becce, der zahlreiche Filme, wie Komtesse Ursel von Curt A. Stark (1913) oder Der letzte Mann (1924) und Tartüff (1925) von F. W. Murnau, vertonte. Becce arbeitete auch eng mit Hans Erdmann (Musik zu Nosferatu von Murnau, 1922) zusammen und verfasste mit ihm das Standardwerk der Zeit, das Handbuch der Filmmusik (Berlin 1927).
In den USA hatte Joseph Carl Breil großen Erfolg mit seiner Autorenillustration zu D. W. Griffiths The Birth of a Nation (1915). "Seine" Musik zur New Yorker Uraufführung mit großem Orchester kombiniert eigene Werke mit populären Melodien und Werkfragmenten, u. a. von Grieg, Tschaikowsky und Wagner, und bereitete den Weg für amerikanische Kompiler wie Ernö Rapée, Hugo Riesenfeld oder Mortimer Wilson.
Eine Art musikalische Wiederbelebung erfuhr damals auch die Improvisationskunst. Vor allem Pianisten oder Organisten konnten am schnellsten improvisierend dem Gang der Bilder folgen. Berühmtes Beispiel hierfür ist der junge Dmitri Schostakowitsch, der mehrere Monate in Leningrader Kinos als Stummfilmpianist arbeitete, um Geld zu verdienen. Zuvor musste er jedoch eine Aufnahmeprüfung als Klavierillustrator absolvieren: "Diese Prüfung ähnelte sehr meinem ersten Besuch bei Bruni [seinem Konservatoriumslehrer, R. F.]. Zuerst sollte ich einen 'Blauen Walzer' spielen und danach etwas Östliches. Bei Bruni hatte ich nichts Östliches zustande gebracht, doch 1923 hatte ich inzwischen die Scheherazade Rimski-Korsakows kennengelernt und Orientale von César Cui. Die Qualifikation hatte ein positives Resultat und im November trat ich meine Arbeit im Kinotheater Goldenes Band an. Die Arbeit war sehr schwer […]. Der Dienst in den Kinos paralysierte meine Schaffenskraft. Komponieren konnte ich überhaupt nicht mehr."
1925: Plakat zu Fritz Langs Film "Metropolis". (© picture-alliance, ZB)
1925: Plakat zu Fritz Langs Film "Metropolis". (© picture-alliance, ZB)
Originale Filmkompositionen
Erklärtes Ziel war jedoch die "originale" Filmkomposition, Filmmusik aus einem Guss, aus der Hand eines einzigen Komponisten. Diesem Ideal, zum Standard geworden beim Tonfilm, stand allerdings zunächst eine Reihe von Hindernissen im Weg: die fehlende Infrastruktur für die Vertonung einer großen Menge an Filmen; der enorme Zeitdruck, unter dem die Musik entstehen musste, man hatte oft nur wenige Wochen, um eine Musik im Umfang einer kleinen Oper zu schreiben und das Notenmaterial herzustellen; der hohe Zeit- und Ressourcenaufwand einer Neueinstudierung; unterschiedliche Voraussetzungen vor Ort, uneinheitliche Orchesterbesetzungen etc. Und aus Sicht der Verleger: die kürzere Verwertungsspanne beim Film im Vergleich zur Oper oder Operette, die rechtliche Lage sowie unklare Erfolgsaussichten in Kombination mit einem hohen finanziellen Zusatzaufwand. Zudem wurden zahlreiche Originalkompositionen von "ehrgeizigen" Dirigenten vor Ort boykottiert, die nur ihre eigenen, extra honorierten Kompilate aufführen wollten.
Hörbeispiel im Internet:Fritz Lang, "Metropolis" (Stummfilm D 1927)
Dennoch: Es gab trotz dieser besonderen Begleitumstände immer wieder Bestrebungen, originale Filmkompositionen zu realisieren. Die Gründe hierfür waren neben der Experimentierfreudigkeit jüngerer Komponisten und dem geänderten Verhältnis der Komponisten zu angewandter Musik die Erkenntnis der Filmschaffenden, dass eine Originalkompositionen den Erfolg eines Films deutlich erhöhen konnte. So nahm z. B. die Ufa in den Berliner Uraufführungskinos erhebliche Verluste in Kauf, um einen Film durch gute, eigens komponierte Musik besser vermarkten zu können. Die Musik wurde nun nicht mehr jeweils vor Ort neu ausgewählt und zusammengestellt, sondern in enger Zusammenarbeit und Abstimmung von Komponist, Regisseur und Produzent komponiert und ein für alle Mal festgelegt. Eine anspruchsvolle Kinokultur entstand, die sich mit etablierten Kunstformen wie Theater und Oper messen lassen wollte und konnte. Eine Reihe von originalen Filmmusiken entstanden so vor allem in Deutschland, Frankreich und Italien.
1910, 15 Jahre, nachdem Max und Emil Skladanowsky ihre bewegten Bilder im Berliner Wintergarten gezeigt hatten, komponierte Paul Lincke die Musik zu der "Filmpantomime" Der Glückswalzer. Eine der ersten umfangreicheren Filmmusiken in Deutschland war die des Liszt-Schülers Josef Weiss zu Der Student von Prag (1913) von Hanns Heinz Ewers und Stellan Rye. Der Klavierauszug – ein Konzentrat der wichtigsten Orchesterstimmen für Klavier – mit Hinweisen zur Filmhandlung und Instrumentation enthielt bereits typische Merkmale einer Stummfilmkomposition: Leitmotive, Zitate, musikalische Deskriptionen und reine Musikstellen. Der Klaviervirtuose Weiss konzertierte damit in verschiedenen deutschen Städten und wurde mit seiner ersten "Kino-Oper" gefeiert.