"Meine Herren und Damen", begann im April 1928 die Abgeordnete Marie Juchacz ihre Rede vor dem Parlament in Weimar, mit feiner Rücksicht auf die Geschlechterverhältnisse. Sie sprach von den Folgen des Stimmrechts, das in Deutschland seit 1918 auch Frauen zustand. "Durch die Abgabe der Stimme kann jeder Staatsbürger politisch mitwirken", sagte Frau Juchacz und nutzte mit diesem Satz die doppelte Bedeutung des Wortes "Stimme". Seine "Stimme abgeben" heißt ja politische Mitwirkung, auch wenn es nur um ein stilles Kreuzchen auf dem Wahlzettel geht. Redner vor dem Parlament dagegen erheben die physische Stimme, um dasselbe zu tun. Das Nachdenken über die politischen Register der Frau hat lange unter dieser Zweideutigkeit gelitten. Denn so früh die Frauen ihr Stimmrecht erhalten haben und so selbstverständlich sie es seither auch nutzen, so vergleichsweise selten waren sie lange Zeit in der öffentlichen Arena zu hören. Bei Forschungen über historische Klanggestalten wird diese Zweideutigkeit also fatal. Denn wo bleibt in den Darstellungen schließlich die Stimme der Frau, wenn sie weder ertönt ist noch aufgezeichnet wurde?
Zum NachlesenAnsprache von Marie Juchacz anlässlich der Reichstagswahl am 20. Mai 1928
Meine Herren und Damen, wenn ich als Frau zu Ihnen spreche, so hoffe ich doch, dass recht viele Männer auf meine Worte achten werden.
Die Frau ist vollberechtigte Staatsbürgerin. Überlegen Sie, was das heißt: es gibt viel mehr Frauen im wahlfähigen Alter als Männer. Durch die Abgabe seiner Stimme am Wahltage kann jeder Staatsbürger politisch mitwirken. Die Tatsache des Frauenwahlrechtes sollte jeden Freund der Sozialdemokratie zwingen, um die Frauenstimmen zu werben. Wenn zum Beispiel auf je 100 für die Sozialdemokratie abgegebenen Männerstimmen nur 90 Frauenstimmen entfallen, dagegen auf 90 deutschnationale Männerstimmen 110 Frauenstimmen abgegeben würden, dann würde der männliche sozialdemokratische Wähler feststel len müssen, dass sein politischer Wille durch den Willen einer Frau seiner eigenen Klasse abgeschwächt wurde.
Das Frauenwahlrecht ist eine Folge der gegen früher ganz veränderten sozialen Lage der Frauen. Es war der Sozialdemokrat August Bebel, der die soziale Stellung der Frau unter der Herrschaft des Kapitals aufzeigte. In meisterhafter Weise wurde von Bebel auf die weltwirtschafliche Bedeutung der Frauenarbeit und ihre sozialen Folgen hingewiesen.
Wer zweifelt heute daran, dass die Frauen in der Industrie, in Handel und Verkehr, als Staatsbeamte und Angestellte im freien künstlerischen und wissenschaftlichen Beruf eine wichtige Rolle spielen. Eine große Zahl nicht gewerblicher Hausfrauen aber macht erst durch ihre sorgende Arbeit die Arbeitskraft des Ehemannes, der berufstätigen Söhne und Töchter volkswirtschaftlich wertvoll.
Wer zweifelt heute noch daran, dass die Frauen als Käuferinnen die Warenherstellung und den Warenverkehr stark beeinflussen. Ist doch zum Beispiel in Amerika festgestellt worden, dass 80 Prozent aller Einkäufe für den Privatbedarf, einschließlich der Gebrauchsgegenstände für Männer, von Frauen ausgeführt wird. Nichts kann mehr die volkswirtschaftliche Funktion der Frauen beweisen.
Welche Wichtigkeit aber der Frau als Mutter, als Trägerin des Lebens, zukommt brauche ich doch wohl nicht zu beweisen. Es kann nicht oft genug gesagt werden, die Entwicklung stellt an den modernen Staat große soziale Anforderungen. Dieser Staat aber sind wir selbst. Die Versorgung des Volkes mit preiswerten Lebensmitteln und Gebrauchsgütern, die Sozialpolitik, die Bevölkerungspolitik, die Wohnungsfrage, die staatliche Wohlfahrtspolitik sind von außerordentlicher Bedeutung für die gesamte arbeitende Bevölkerung. Demokratie ist Volksherrschaft, ist sie nicht auch Selbsthilfe? Vorbehaltlos, ganz im Interesse der Arbeiterklasse kann nur die Partei der Arbeiter wirken. Das ist die Sozialdemokratie.
"Stimmen des 20. Jahrhunderts" – die Aussage des Archivs
Die Sammlung Stimmen des 20. Jahrhunderts des Deutschen Rundfunkarchivs Frankfurt am Main markiert den Beginn einer Geschichtsschreibung anhand akustischer Quellen. Sie startete im Jahr 1997 zunächst mit 30 CDs, von denen die meisten thematisch orientiert sind und Titel tragen wie: Preußen in Weimar, Der Klang der Zwanziger Jahre, Kapitulation und Wiederaufbau oder Überleben im Nachkriegsdeutschland. Inzwischen sind weitere CDs hinzugekommen. Geschlechterspezifisches Denken war zu dieser Zeit wohl noch nicht wirklich aktuell. So hatte man "Frauenstimmen" in dieser Auswahl so minimal repräsentiert, dass sich die Redaktion entschloss, eine eigene CD unter eben diesem Titel herauszubringen, mit 41 verschiedenen Reden von Frauen zum Thema Emanzipation. Die juristische Idee der Frau, die ein Stimmrecht hat, wurde also mit der physischen Stimmgebung gleichsam zusammengelegt, während die übrigen Frauenstimmen in der Sammlung überwiegend von Sängerinnen oder Schauspielerinnen stammen, die nicht ihre eigenen, sondern fremde Werke vortragen. Selbst die CD Überleben im Nachkriegsdeutschland lässt in 28 Takes nur zwei Frauen zu Wort kommen, davon nur eine aus der Welt der "Trümmerfrauen", denen die westdeutsche Gesellschaft immerhin ihr Überleben verdankt.
Eine Geschichtsschreibung, die sich auf akustische Medien beschränkt, hat feste Grenzen. Einerseits verkürzt sie höchst pragmatisch ihren Zeitraum, denn sie beginnt ja überhaupt erst mit der Erfindung von Speichertechniken, also frühestens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Andererseits ist sie völlig abhängig von Qualität und Vorhandensein von Aufnahmen überhaupt, wie eben etwa im Feld der Frauenstimme. Allein dieses Vorhandensein entscheidet über die Qualität der historischen Aussage. Der Eindruck jedoch, den man im Deutschen Rundfunkarchiv gewinnt, bestätigt sich bei Recherchen in anderen Archiven und Studien zu diesem Thema. Bis zur Jahrhundertmitte sind die weiblichen Stimmen fast immer unterrepräsentiert, gemessen an der Rolle, welche Frauen in Kunst, Kultur und Politik spielten.
Dabei bedienen sich, seitdem eine Speichertechnik existiert, die Ethnologen, Volkskundler und Linguisten dieser Technik, um Sprachzustände zu archivieren und traditionelles Erzähl- oder Liedgut aufzubewahren. Doch eines der bekanntesten Archive für Volksstimmen (in Freiburg) teilte auf Anfrage mit, dass auf den frühen phonographischen Aufnahmen nicht festgehalten wurde, ob es sich um weibliche oder männliche Stimmen handelt. Der Unterschied war offenbar unwichtig. Auch in internationalen Sammlungen ist die Frauenstimme so gut wie nicht überliefert, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Das Berliner Lautarchiv etwa hat in seinen drei Abteilungen "Stimmen der Völker", "Deutsche Mundarten" und "Stimmen berühmter Persönlichkeiten" nahezu ausschließlich Männerstimmen gesammelt – verständlich, denn was hier euphemistisch "Stimmen der Völker" genannt wird, sind in Wahrheit Aufnahmen aus Kriegsgefangenenlagern des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Bei den "berühmten Persönlichkeiten" wiederum handelt es sich ausschließlich um Politiker und Wissenschaftler, die schon immer in der Öffentlichkeit eher Gehör fanden als Hausfrauen oder Suffragetten. Auch das Tonarchiv des Landesmedienzentrums Baden-Württemberg hat nur Männerreden weltweit gespeichert: de Gaulle, Kennedy, Weizsäcker, Obama. Keine Margaret Thatcher, keine Golda Meir, keine Benazir Bhutto, keine Indira Ghandi. Selbst die hauseigene Website für Poesie kennt nur männliche Stimmen.
Dabei fing die Geschichte dieser Technik ganz anders an, nämlich "nicht mit Orakeln oder Dichtern", schrieb Friedrich Kittler 1985, "sondern mit Kinderliedern" – genauer mit Mädchenstimmen, die Thomas Alva Edison als erste Stimmprobe auf eine Walze brachte. Aber alsbald folgten Männerstimmen. Zwar besitzt das Wiener Phonogrammarchiv an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften – das älteste im deutschsprachigen Raum – das früheste Zeugnis einer weiblichen Dichterstimme, eine Aufnahme der Marie von Ebner-Eschenbach von 1901. Eine Aufnahme der Schriftstellerin Ricarda Huch aus dem Jahr 1908 ist ebenfalls überliefert. Aber was sich die frühen Studios wirklich wünschten, waren markant sprechende Dichter, und dies lange vor der Erfindung des Radios.
Nach 1924 etablierten sich dann im Rundfunkprogramm der Weimarer Republik Dichtersendungen, z. B. Der Dichter als Stimme der Zeit, Junge Erzähler, Die Stunde der Lebenden oder Jüngste Dichter. Zwar sprachen damals auch Frauen wie Else Lasker-Schüler, Marieluise Fleißer oder Anna Seghers durchaus häufiger im Radio, aber offenbar wurden sie nicht noch einmal ins Studio eingeladen, um ihre Redebeiträge nachträglich aufzunehmen, was bis 1929 technisch erforderlich war.
Auffällig zurückhaltend mit weiblichen Autoren und damit auch mit der Frauensprechstimme sind selbst noch neuere und neueste Sammlungen dieser Art, etwa die im Münchner Hörverlag von Hajo Steinert herausgegebenen Dichterstimmen mit Texten aus den 1960er, 1970er und 1980er Jahren. Oder die 2009 erschienene neunteilige Serie Lyrikstimmen. Von den 122 Autorinnen und Autoren sind nur 20 weiblich, also weniger als 20 Prozent. Im Jahr 2005 unternahm deshalb die Zeitschrift Brigitte einen Gegenversuch. Unter dem Titel Starke Stimmen hörte man auf zwölf CDs ausdrücklich nur berühmte Sprecherinnen berühmte Autorinnen lesen, so las Corinna Harfouch etwa Christa Wolf, Iris Berben Françoise Sagan, Elke Heidenreich Dorothy Parker etc. In den Folgejahren wurden die CDs dann aber wieder auf Männer- und Frauenstimmen aufgeteilt – angeblich, weil die meist weiblichen Kunden eben doch lieber Männerstimmen hören. Erklären könnte man dies mit der Tatsache, dass nicht nur Bücher, sondern auch Hörbücher meist von Frauen konsumiert werden, dass hier also vielleicht ein erotisches Kriterium entscheidet.
Bertha von Suttner, österreichische Schriftstellerin und namhafte Vertreterin der bürgerlichen Friedensbewegung, bei einem öffentlichen Vortrag in
Berlin 1913.
(Bundesarchiv Bild 183-R71173 / Fotograf: o.A.)
Lizenz: cc by-sa/3.0/de
Ebenso wie Else Lasker-Schüler war die Schriftstellerin Anna Seghers in den 1920er Jahren in verschiedenen Literaturprogrammen im Rundfunk zu hören. Aufnahmen von Seghers aus dieser Zeit sind jedoch keine überliefert.
Hier eine Aufnahme von Seghers als Präsidentin des deutschen Schriftstellerverbandes auf der Jahreskonferenz des Deutschen Schriftstellerverbandes 1966.
Wibke Bruhns liest im ZDF als erste Frau am 12. Mai 1971 die Spätnachrichten. Die Journalistin durchbrach damit eine Männerdomäne im
bundesdeutschen Nachrichtengeschäft. "Sie ist sachlich, diszipliniert, intelligent und hat weibliches Fluidum", äußerte sich der damalige
"Heute"-Chef Rudolf Radke über Wibke Bruhns.
Die Frauenprosastimme – soll sie vergessen werden?
Ähnlich sparsam mit weiblichen Stimmen verfahren historische Internetseiten, etwa das österreichische Phonogrammarchiv mit seiner Website zu Stimmen des 20. Jahrhunderts. Die chronologisch erste weibliche Sprechstimme stammt hier von der Politikerin Alma Motzko; man hört ihre Brandrede zur Wirtschaftskrise vor dem österreichischen Parlament im Jahr 1932. Weitere Frauenstimmen gibt es erst wieder zehn Jahre später – ausländisch und deutschfreundlich wie Lale Andersen und Zarah Leander, die beide singen. Sprechen darf nur eine einzige Frau, Antonia Bruha, Naziopfer in Ravensbrück. In den nächsten sieben Jahren kennt die österreichische Geschichte wieder nur Männerstimmen; erst 1947 folgt eine Lesung von Ilse Aichinger. Dann gibt es erneut eine längere Pause, bis man 1959 Ingeborg Bachmann sprechen hört und – nach einer Lücke von acht Jahren – Barbara Frischmuth. Die erste politische Frauenstimme nach Alma Motzko von 1932 ist die Hertha Firnbergs, die 1976 als Bundesministerin für Wissenschaft und Forschung zum Thema "Partnerschaft für die Frau" spricht.
Die Ausblendung der weiblichen Sprechstimme in der sogenannten sekundären Oralität der akustischen Medien ließe sich vielleicht noch als skurriler Sonderfall der Historiografie hinnehmen, würde sich diese nicht auch in der wissenschaftlichen Forschung widerspiegeln. In seinem 500-seitigen Buch Die Geschichte der Stimme (1998) meidet der Autor, Karl-Heinz Göttert, das gesamte Feld der tönenden Künste, um sich auf die Geschichte der Rhetorik zu konzentrieren. Rhetorik aber, als Kunst der öffentlichen Rede, war immer schon eine Männerdomäne, weil die Frau in der Kirche nach dem Wort des heiligen Paulus zu schweigen hatte: "taceat mulier in ecclesia". Auch auf dem Potsdamer Symposion Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme von 1999 gab es keinen eigenen Vortragstitel über die Stimme der Frau oder gar über ihre Sprechstimme. 2003 erschien die hochgelobte Studie His Master’s Voice des slowenischen Kulturtheoretikers Mladen Dolar, der zwar Franz Kafka, Sigmund Freud und den Mechaniker Wolfgang von Kempelen mit seinem "Schachtürken", also einer Automatenstimme, zusammendachte, der aber von weiblichen Stimmen und den damit womöglich verbundenen ästhetisch-problematischen Perspektiven nichts wissen wollte. Schließlich kennen auch die beiden sonst vorbildlichen Studien von Reinhart Meyer-Kalkus über Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert (2001) sowie Lothar Müller zur Vortragskunst von Goethe bis Kafka (2007) nur Männerstimmen.
"Frauen können doch keine Nachrichten sprechen"
Zwischen der lebendigen Stimme leibhafter Akteure, deren Aufzeichnung und der Forschung über diese Aufzeichnung erstreckt sich das Feld der "sekundären Oralität zweiter Ordnung"; zur ersten gehört die über Radio oder Telefon vermittelte Kommunikation in Echtzeit. Wie stand es hier mit der Frauenstimme? Es überrascht nicht: Auch im Radio sprachen zunächst nur Männer; die Geschichte der Radionachrichten bezeugt es drastisch und international. Die arabische Welt hat erst 1959 überhaupt Frauenstimmen in den Medien zugelassen und selbst die BBC erlaubte erst 1960 einer Frau das Sprechen von drei Nachrichtenblöcken, und das auch nur versuchsweise. Die Abwehr der Programmleiter und offenbar auch der Hörer blieb übermächtig, stärker als selbst in Deutschland. Hier gab es vor 1933 fast ausschließlich männliche Nachrichtensprecher, Frauen wurden auf reine Ansagen oder Frauen- und Kinderfunk reduziert. 1925 betrug der Anteil der Frauen im Pressewesen gerade einmal 2,5 Prozent; 1930 waren im Radio nur vier Ansagerinnen beschäftigt; alle anderen Frauen arbeiteten als Sekretärinnen.
Als Konsequenz der Radioreform von Propagandaminister Goebbels herrschte dann ohnehin Hitlers Stimme beispiellos in sämtlichen Haushalten mit Volksempfängern. Während des Krieges, als die Männer zum Heer eingezogen wurden, mussten die Frauen in Deutschland wie auch in England dann doch plötzlich Nachrichten sprechen, so heftig zuvor auch gegen diese Vorstellung opponiert worden war. Frauen, hieß es, hätten eine zu hohe Stimmlage, sie könnten Sachverhalte nicht sachlich wiedergeben, vor allem keine ernsten, und so fort. Aber es ging – bis der Krieg zu Ende war und die Männer ihre Stellen zurückerhielten.
Erst das Fernsehen nach 1945 ließ erkennen, dass Frauen zwar vielleicht in der akustischen Historiografie fehlen, dafür aber umso lieber visuell erinnert werden. Gerhard Paul hat mit seinem Buch Das Jahrhundert der Bilder – einem visuellen Pendant zum Sound des 20. Jahrhunderts – die entscheidende Differenz sichtbar gemacht: Wenn man Zuschauer statt Zuhörer hatte, dann konnte die weibliche Hälfte der Menschheit nicht mehr verleugnet werden. Und trotzdem dauerte es in Deutschland – anders als in Italien oder der Sowjetunion – mehrere Jahrzehnte bis zum ersten Auftritt einer Nachrichtensprecherin. Zu Beginn der 1950er Jahre gab es dann in der Bundesrepublik zwar schon mehrere Ansagerinnen, darunter so beliebte wie Irene Koss und Petra Krause vom Nordwestdeutschen bzw. Norddeutschen Rundfunk. Doch eine Ansagerin ist keine Nachrichtensprecherin. Sie kam erst 1971 mit Wibke Bruhns in die heute-Sendung des ZDF, während die ARD ihre Tagesschau erst 1976 einer Frau – Dagmar Berghoff – überließ. Letztlich dürfte die visuelle Attraktivität der Sprecherinnen neben ihren Stimmen den Ausschlag gegeben haben. Bundespräsident Carstens verstieg sich jedenfalls zu der Bemerkung, schlechte Nachrichten erfahre er lieber von einer charmanten Frau, das mildere das Ganze doch etwas ab.
Hörbeispiel im Internet:Persiflage "Die Fernsehansagerin" mit Trude Herr
Die Mühen des Aufstiegs der hörbaren Frauen im medialen Zeitalter haben aber nicht nur mit einem traditionellen paulinischen Frauenbild zu tun. Sie müssen auch vor dem Hintergrund einer ganz anderen, ausdrücklich technischen Verwerfung dieser Stimme gemessen werden, die man heute freilich als Vorzug erlebt. Immer wieder verworfen und zugleich verwertet wurde dabei das, was man die synaptische Funktion der Frauenstimme nennen könnte, ihre dialogische Kompetenz, die ja weder etwas mit Gesang noch mit Bühnentechnik zu tun hat. Lange vor ihrer Verwendung im Radio wurde die weibliche Sprechstimme mit der Erfindung des Telefons assoziiert, also mit einer beispiellos unsichtbaren und dienenden, dabei aber abgründig synaptischen Funktion.
Als sogenannte Telefonistinnen, englisch: operator, haben Frauen diese technische Kommunikation in ihrer Geburtsstunde begleitet, wenn nicht eigentlich zur Welt gebracht. Amüsant zu lesen sind heute die Schulungsanweisungen, wie die Frau als Telefonistin zu sprechen habe: am besten damenhaft, ladylike, sauber artikulierend, hell und klar, um Missverständnisse zu vermeiden. Anfangs ließ der Beruf noch ganze Sätze zu: "Welche Nummer möchten Sie haben?" "Leider meldet sich niemand." oder "Leider ist besetzt." Es waren kleine Unterhaltungen wie diese, welche die alltägliche Sprechstimme der Frau zur Geltung brachten. War sie angenehm oder sogar erotisch, konnte der Kunde unter Umständen in einen näheren Kontakt zu ihr treten – was wohl auch geschah.
Legenden über gelungene Eheanbahnungen via Telefonvermittlungen sind bis in die 1940er Jahre in Hollywood-Drehbücher eingegangen. Je technischer und schneller die Abläufe aber wurden, desto weniger Freiraum blieb den Frauen, bis sie schließlich nur noch automatenhaft sagen durften: "Die Nummer bitte?", "Kein Anschluss unter dieser Nummer" oder "Besetzt" – kurzum: kein guter Ausgangspunkt für einen Flirt. Dass man den ganzen Berufszweig schließlich nicht wirklich abschaffte, sondern gewinnbringend umwidmen konnte, liegt wiederum auf der Hand. Sexgirls übernahmen das Geschäft. Ihre Stimmen sind in diesem Gewerbe für gute Erträge unentbehrlich, zumal in Zeiten von Aids. Für das Jahr 2000 wurden täglich 30.000 Anrufe in dieser Branche vermutet. Der Sprung ging also von der technischen zur erotischen Synapse, der womöglich ohnehin älteren Version.
Das ausdrucksvollste Denkmal hat dieser Verführung durch eine weibliche Sprechstimme in der frühen Radiozeit von allen Autoren der Dichter Thomas Mann errichtet. In seinem Ägypten-Roman Joseph und seine Brüder (1933 – 1943) gibt er die Unterredung zwischen Joseph und der Frau des Potiphar, Mut, wieder. Die schöne Mut hat sich unsterblich in Joseph verliebt, wagt dies aber erst in einem Gespräch zu gestehen, nachdem sie sich die Zunge halb abgebissen hat. So wird aus ihrer Sprechstimme eine blutig lispelnde, kindliche – während das Motiv der gespaltenen Zunge dem Leser die Schlange aus der Schöpfungsgeschichte aufdrängt. Aber Mut lispelt nicht nur: in Momenten der Aufwallung singt sie laut – auch weil dies weniger schmerzt. Die Stimme der Frau zwischen Kinderlispeln, Gesang und mächtiger Verführung: Diese bürgerliche Männerphantasie dürfte das Aufsteigen und Archivieren der öffentlichen und politischen Prosastimme von Frauen, die als Rechtssubjekte hätten gelten können, bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts behindert haben.
Das lässt sich bis in die jüngste Theorie verfolgen. Die Urszene einer suggestiven Unmittelbarkeit zwischen Sprecher und Hörer hat in Deutschland wohl zuerst Peter Sloterdijk erkannt und als "Sonosphäre" im Gespräch zwischen Mutter und Kind bezeichnet, zunächst intrauterin, als evolutionäre Hilfe bei der Entwicklung des Gehörs, dann als primäre Interaktion mit Mimik, Gestik, Hautgefühl, kurz: intensiv lebendiger Präsenz.
Stimmliche Primärszenen sind geschlechtlich und individuell konnotiert. Mit dem Aufstieg der sekundären Oralität kommt also ein völlig neues Paradigma zustande. Denn die Stimmen im Telefon, auf der Schallplatte oder dem Tonband lassen zwar jeweils männliche, weibliche und kindliche Obertöne erkennen, haben sich aber von den leiblichen Sprechern gelöst. Sie sind anonym, "akusmatisch" (Michel Chion) geworden; die Assoziation mit einem bestimmten Urheber entsteht erst nachträglich durch Montage. So kommt es zu den zahllosen menschlichen Stimmen nichtmenschlicher Akteure etwa im Zeichentrickfilm von heute. Und ebenfalls heute erlauben die modernen Navigationsgeräte im Auto fast jede Art von Stimmmontage aus sämtlichen sozialen Feldern jener "psychoakustischen Institution" (Sloterdijk), zu der sich unsere Gesellschaft inzwischen entwickelt hat.
Montage erlaubt aber auch die naturalistische Zuordnung weiblicher Akteure zur Stimme, im Tonfilm. Erst also in dieser technoiden Szene konnte die Frauensprechstimme öffentlich vernehmbar und dauerhaft gespeichert werden, denn erst mit dem Aufstieg des Tonfilms ließ sich die sprechende Frau nicht mehr unsichtbar machen, auch wenn die Zuordnung des Sprechakts zu bewegten Bildern von Subjekten durchaus prekär bleibt, man denke nur an den gesamten Bereich der Synchronisation.
… aber schlussendlich doch auch als Stimmbürgerin
Und trotzdem machte zunächst nicht die Prosa sprechende, sondern die teils schreiende, teils singende Frau im Film Karriere, übrigens auch in der Sowjetunion. Anfang der 1930er Jahre kommt hier Stalins Lieblingsgenre, das Musical, voll zur Geltung. Die sogenannten Kolchos-Operetten machten dabei die hohe Technizität des Kinos vergessen, zeigten stattdessen wogende Weizenfelder und singende Frauen bei der Ernte. Mit dem Appell an eine weitgehend analphabetische Landbevölkerung war diese audiovisuelle Revolution das Gebot der Stunde; die Frau wurde dem Volk als Mutter präsentiert.
Ganz anders in USA und in Hollywood, wo mit Hitchcocks Psycho (1960) die schreiende Frau ins Zentrum rückte – paradigmatisch und auf Jahrzehnte hinaus den Duktus der Geschlechterkriege bestimmend, die Edward Albee in seinem Stück Wer hat Angst vor Virginia Woolf (1962) komplettierte. Die deutsche Sprecherin von Elizabeth Taylor in der Verfilmung von 1966 hieß Hannelore Schroth, während Margot Leonhard mit der Gestalt der Marilyn Monroe zunächst ganz andere Botschaften aus Hollywood transportiert hatte (Manche mögens heiß, 1959).
Während die singende oder kreischende oder lasziv flüsternde Stimme im Kino, die Sirene, die Megäre und die Hure, ein Zerrbild jener Figur abgab, die man in der Politik mit der Idee des Stimmrechts verbindet, lieferte das Theater im 20. Jahrhundert ein prachtvolles Gegenstück. Pygmalion hieß das Stück von George Bernard Shaw aus dem Jahr 1913, in welchem der arrogante Sprachwissenschaftler Professor Higgins einem Blumenmädchen die Sprache des Hochadels beibringen und sie zur Herzogin machen will. Der Gesellschaftsbetrug gelingt, aber das Publikum hört nur widerwillig den starken Dialektreden zu und erhält kein Happy End vom Autor. Trotzdem wurde das Stück 1938 verfilmt, 1956 als Musical aufgeführt und 1964 erneut verfilmt. Die Figur der öffentlich sprechen lernenden, sozial aufsteigenden, dafür auf Liebe verzichtenden Frau hat also ein halbes Jahrhundert hindurch die Emanzipation der "Stimmbürgerin" begleitet, wenn nicht bedroht.
1963 trat die Kampfschrift von Betty Friedan Der Weiblichkeitswahn als millionenfacher Bestseller weltweit neben Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht (1949): Der Feminismus begann seinen Siegeszug. Doch in Deutschland blieben die Strukturen zunächst unverändert, ja wurden zurückgedreht. Als die Stimmen von Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin in das öffentliche Bewusstsein drangen, betrug der Anteil von Frauen im Bundestag 1963 ganze 8,3 Prozent und sank bis 1976 auf 5,8 Prozent ab, trotz einer ersten Präsidentin im Bundestag namens Annemarie Renger (1972), um erst ab den 1980er Jahren, etwa mit Petra Kelly, stetig auf heute 32 Prozent zu steigen. Erst um die Wende der 1990er Jahre haben mehr und mehr Frauen die medienwirksamen Sprecherrollen von Nachrichten- und Talkshowsendungen übernommen: Sabine Christiansen (1987 bis 2007); Sandra Maischberger (seit 1991), Maybrit Illner (seit 1992), Anne Will (seit 1999). Die langwährende Stetigkeit dieser Positionsbesetzungen dürfte nicht zuletzt der Erwartung des Publikums entsprechen, das die dauernd wechselnde Flut der Neuigkeiten wenigstens von vertrauten, wenn nicht geliebten Gesichtern, Stimmen und Körpern vermittelt haben möchte, nach Art aller Fernsehserien.
Heute liegt der Anteil weiblicher Journalisten im Pressewesen in den unteren und mittleren Chargen bei mehr als 60 Prozent, während Frauen als Thema von Nachrichten nicht über 20 Prozent kommen und ihre Präsenz in Führungspositionen noch weit darunter liegt. Dennoch gibt es international einen kontinuierlichen Aufstieg von Frauen in die höchsten politischen Ränge, ergo auch von Frauenstimmen. In Deutschland modelliert Angela Merkels eher farblos nüchterne Stimme die politische Agenda, neben Renate Künast, Claudia Roth, Hannelore Kraft und immer wieder auch Sahra Wagenknecht. Übertönt werden sie alle freilich von den täglichen Auftritten attraktiver Medienfrauen; eine Konkurrenz, die es im Zeitalter medialer Aufmerksamkeit zu bedenken gilt.
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Claudia Schmölders, Dr., habil., Kulturwissenschaftlerin und Schriftstellerin, Privatdozentin am Kulturwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin.