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"Ertragreich und auf höchstem Niveau" | Volksgemeinschaft - Ausgrenzungsgemeinschaft | bpb.de

4. Konferenz 2013 Themen Eröffnung und Einführung Umformatierung des Sozialen Soziale Dynamiken & Alltagskultur Aus dem Praxisforum Projektwettbewerb Formate Stream Texte Videos Fotos Partner Bundeszentrale für politische Bildung Humboldt-Universität zu Berlin Universität Flensburg Redaktion

"Ertragreich und auf höchstem Niveau"

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Neue Ansätze, spannende Fragen und kontroverse Positionen: Prof. Dr. Harald Welzer, Universität Flensburg, Prof. Dr. Michael Wildt, Humboldt-Universität Berlin, Elke Gryglewski, wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz und Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung ziehen nach drei Konferenztagen Bilanz für die Holocaustforschung und ihren Transfer in die Praxis.

Abschließende Diskussion (© Mirko Tzotschew / Kooperative Berlin)

Volksgemeinschaft als "prozessuale Ausgrenzung"

Die 4. Internationale Konferenz zur Holocaustforschung hat keine handfesten Ergebnisse, aber neue Ansätze, spannende Perspektiven und viele kontroverse Diskussionen zum Forschungsthema "Volksgemeinschaft – Ausgrenzungsgemeinschaft“ hervorgerufen – das zeigte das abschließende Podium. "Die Bedeutung des Fächers der Alltagsstrukturen wurde für die Forschung durch die Konferenz weiter aufgemacht. Es wurden Aspekte dieser nationalen Gesellschaft beleuchtet, die im dichotomischen Blick normal nicht auftauchen", sagt Prof. Dr. Harald Welzer, Universität Flensburg. Die Herstellung der Volksgemeinschaft sei eine "prozessuale Ausgrenzung" gewesen, die im Alltag stattfand. Diese Perspektive könne auch zur schwierigen Beantwortung der Frage beitragen: “Wie konnte es zu diesem historischen Vorgang einer kategorialen Ausgrenzung in so extrem kurzer Zeit kommen – ohne relevante Gegenmacht?“ Prof. Dr. Michael Wildt, Humboldt-Universität zu Berlin stimmt Welzer hier zu: "Ich fand an dieser Konferenz ausgesprochen interessant, dass wir gerade über diese Dynamiken der Herstellung von Gemeinschaft im Alltag gesprochen haben. Im Modell der Volksgemeinschaft werden die Kategorien der Zugehörigkeiten über Kultur und Emotionen, über Bilder und Visualität hergestellt. Sie sind eben nicht nur politischer Natur."

Praxistransfer partizipativer gestalten

Die Betrachtung der Alltagsstrukturen der Volksgemeinschaft auch für die Bildungsarbeit zu nutzen, um das Interesse auf andere Weise zu wecken, hält Elke Gryglewski, wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, für einen interessanten Aspekt der Konferenz. Sie spricht sich dafür aus, junge Leute zu befähigen, eigene Schlussfolgerungen aus der Geschichte zu ziehen. Bildungsarbeit und Erinnerungskultur sollten partizipativer gestaltet werden, vorgefertigte Antworten seien kontraproduktiv. Dabei sollten NS-Geschichte und -Gesellschaft als so facettenreich und komplex dargestellt werden, wie sie waren. Das Thema Ausgrenzungsgemeinschaft habe ihr in den Panels der Konferenz allerdings "zu implizit" eine Rolle gespielt. Denn zur Einbindung des Themas in die Bildungsprozesse brauche es alle Perspektiven: "Ansonsten besteht das Risiko der Plausibilität."

Kontroverse I: Geschichtsvermittlung ohne "Gebrauchsanweisung"

Wie weit aber sollte die historisch-politische Bildung bei der Vermittlung der Komplexität der NS-Geschichte gehen? Diese Frage löst auf dem Podium eine kontroverse Diskussion aus: Welzer sieht es als problematisch an, zu stark in der Geschichtsvermittlung die verschiedenen Aspekte und Perspektiven darzustellen. Wenn man das einfache Bild einer Täter-Opfer-Zuschreibung habe, sei das Verständnisproblem gering. "Warum müssen wir die Gebrauchsanweisung gleich mitliefern? Das halte ich für psychologisch unproduktiv." Die Antwort würde dann schwieriger, wenn der Vergleich gezogen würde zu "rechtsstaatlich scheinbar funktionierenden Systemen“ – auch zu den heutigen. Das Podium reagiert auf Welzers' Meinung mit Einspruch: "Seit 1985 befasse ich selbst mich nun mit Geschichte und Gesellschaft im Nationalsozialismus – und selbst ich habe heute immer noch offene Fragen", erklärt Gryglewsk, "Geschichte sollte nicht zu schnell ins Hier und Jetzt transportiert werden. Je mehr die jungen Menschen in Ansätzen von der Geschichte verstehen, umso mehr sind sie in die Lage versetzt, die Strukturen auch zu verstehen.“ Wildt stimmt ihr zu und führt weiter aus: "Die Klarheit der Täter-Opfer-Zuschreibungen ist ganz klar in Frage zu stellen. Sie ist auch heute noch in Erinnerungskulturen nicht einfach zu lösen." Eine gemeinsame Betrachtung des Themas Volksgemeinschaft aus den verschiedenen Forschungsdisziplinen heraus und gemeinsam mit den Gedenkstätten sei hierfür unbedingt notwendig – es brauche mehr davon, das habe die Konferenz deutlich gezeigt.

Kontroverse II: "Judenboykott“ – der "Shitstorm“ des Nationalsozialismus?

Die Vergemeinschaftung durch facebook in Gegenüberstellung zur Gemeinschaftsbildung durch Massenmedien im Nationalsozialismus war Thema des Interner Link: Workshop 4 der Konferenz. Mit dem Vorschlag, in der Geschichtsvermittlung die Boykotte der jüdischen Geschäfte 1933 durch die Sturm-Abteilung der NSDAP (SA) mit dem Social Media-Phänomen des "Shitstorms" heute vergleichen zu können, löst Welzer im Abschlussplenum eine weitere kontroverse Diskussion aus: "Dies zeigt doch ganz klar die Veränderungen in den Beziehungsverhältnissen zwischen Menschen und Machtverhältnissen, was man als unbedingte Verbindung für die heutige Vermittlungsarbeit nutzen kann", so Welzer. Gryglewski und Stimmen aus dem Publikum finden Welzers' Ansatz falsch: Ein Shitstorm sei viel schneller wieder vorbei und daher keineswegs mit den Denunziationen, die in die Massenvernichtung mündeten, zu vergleichen. Gryglewski stellt abschließend heraus: "Aktuelle Beispiele per se zur Geschichtsvermittlung heranzuziehen, ist an vielen Stellen kontraproduktiv."

Fazit: Sensibilisiert für unsere Gesellschaft

Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, der die Runde moderiert, lobt abschließend die Konferenz als "ertragreich und auf höchstem Niveau". Die Teilnehmenden könnten – wenn nicht mit Antworten, so doch mit vielen Fragen im Gepäck – zurück an ihre Arbeit in der Holocaustforschung in Wissenschaft und Praxis gehen, "sensibilisiert für unsere demokratische Gesellschaft, für die die historisch-politische Bildung ein so wichtiges Instrument ist."

Fussnoten