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Die Wahrheit der Fiktion: Spionagefilme und politische Wirklichkeit

Eva Horn

/ 6 Minuten zu lesen

Gerade weil sie den Anspruch von Historikern oder Journalisten aufgibt, die alleingültige historische Wahrheit über ein Ereignis erkunden zu können, ist Fiktion besser als alle anderen Diskursformen geeignet, um von Geheimnissen zu sprechen, ihre Form zu erläutern, ohne diese Geheimnisse endgültig lüften zu können oder zu wollen.

Die britische Produktion "The Spy Who Came in from the Cold" gilt als einer der Höhepunkte des Spionagefilms. (© The Kiss Kiss Kill Kill Archive)

Checkpoint Charlie an der Berliner Mauer, im amerikanischen Sektor, irgendwann in den ersten zwei Jahren nach dem Mauerbau 1961. Die Grenze ist scharf bewacht, nervöse Grenzer auf beiden Seiten, trübes Licht, ein tödliches Niemandsland in der Mitte. Der britische Agent Alec Leamas, gespielt von Richard Burton, wartet angespannt auf seinen ostdeutschen Agenten, der aufgeflogen ist und mit gefälschten Papieren über die Grenze in den Westen fliehen soll. Er geht am Grenzstreifen entlang, eine weiße Linie im grauen Nachtlicht, Stacheldraht, er späht nach der anderen Seite. – Kaum je wurde die große Grenze des Kalten Krieges brillanter ins Bild gesetzt als in der Anfangsszene von Martin Ritts The Spy Who Came in from the Cold (1965), der Verfilmung von John Le Carrés gleichnamigem Spionage-Thriller (1963). Alles in dieser düsteren Geschichte dreht sich um die Grenze, an der sie auch endet. Am Schluss wird Leamas selbst versuchen, sie zu überqueren; er läuft über den Todesstreifen, springt auf die Mauer – und wird in letzter Minute vom Suchscheinwerfer gestellt und erschossen.

Der Spion auf der Grenze – es sind diese zwei grandiosen Rahmenszenen, die The Spy Who Came in from the Cold zu einer Allegorie der Spionage im Kalten Krieg gemacht haben. Zwischen ihnen entspinnt sich eine komplizierte Intrige um zwei Geheimdienste, die sich gegenseitig unterwandern, einem abgehalfterten Agenten, der seinen sozialen Niedergang inszeniert, um sich von der Gegenseite anwerben zu lassen, und schließlich – sehr am Rande – um eine mit wenig Emphase betriebene Liebesgeschichte, die am Schluss aber zur entscheidenden Falle wird. Der emblematische Ort, um den diese Geschichte kreist, ist der Grenzstreifen mit Kontrollposten, Stacheldraht und Schießbefehl; ein Grenzstreifen, an dem Feinde von globalem Ausmaß aufeinandertreffen. Scharf gesichert verläuft diese Grenze – im manichäischen Politikverständnis der Zeit – zwischen den beiden Hälften der Welt, zwei völlig konträren Gesellschafts- und Kulturformen.

Diesseits der Grenze kann man, wie Alec Leamas zu Anfang im amerikanischen Kontrollhäuschen, das Geschehen aus der Sicherheit des geschützten Territoriums beobachten, man kann das Beobachtete sammeln, interpretieren und seine Schlüsse ziehen – das ist die übliche Tätigkeit der Geheimdienste im eigenen Land. Auf dem Grenzstreifen aber, in der Todeszone, entscheiden einige Meter oder auch das richtige Papier, das Passwort, der Befehl der Grenzposten oder der zuvor durchschnittene Stacheldraht über Leben und Tod. Diese Grenze überschreitet der Spion wieder und wieder, und jedes Mal ist sein erfolgreicher Übertritt eine mehr oder minder dramatische Beschädigung der Grenze. Denn die Grenze des Kalten Krieges ist nicht nur ein territorialer Einschnitt, sondern auch eine Grenze des Wissens. Letztere durchbricht der Spion, indem er verbotenes, hochgefährliches Wissen produziert und transportiert. Was diesseits der Grenze, in den Händen der eigenen Leute, funktionales Wissen war – die Lage von Militärstützpunkten oder der Plan eines Atomkraftwerkes –, wird in den Händen des Feindes zur Waffe, zum strategischen Vorteil, der über Sieg oder Niederlage entscheiden kann. Genau darum ist die Verletzung, die der Spion dieser Grenze des Wissens zufügt, so dramatisch und bedrohlich. Der Spion ist Medium des Staatsgeheimnisses, er transportiert es über jene rechtlichen, geografischen, institutionellen, wissenschaftlichen und personellen Schranken hinweg, die dafür sorgen sollen, dass das geheime Wissen geheim bleibt. So ist er wie kein anderer eine Figur, die die politische Ordnung des Kalten Krieges, die Aufteilung der Welt in "Osten" und "Westen", "Kapitalismus" und "Kommunismus" zugleich infrage stellt und bestätigt. Nur er sieht – wenn er es überlebt – beide Seiten, nur er sieht, was hinter dem Schirm des Nicht-Wissens wirklich verborgen ist. In The Spy Who Came in from the Cold ist das eine denkbar düstere Erkenntnis. Was Leamas am Ende herausfindet, ist die Tatsache, dass der schlimmste Feind des Westens, der DDR-Geheimdienstchef Mundt, in Wirklichkeit ein Agent des Westens ist. Er erkennt, dass trotz der vielbeschworenen Differenz der Systeme – "Freiheit" vs. "Planwirtschaft" oder umgekehrt "Konsumterror" vs. "soziale Gerechtigkeit" – beide mit den gleichen Mitteln arbeiten. Nichts unterscheidet sie moralisch.

Die komplizierte Intrige, die The Spy Who Came in from the Cold entspinnt, ist damals, in einer der kältesten Perioden des Kalten Krieges, mit ungeheurer Faszination aufgenommen worden. Anstelle alberner Gentleman-Spione wie James Bond entwarf die Geschichte, trotz ihrer irrwitzigen Wendungen, plötzlich ein abgeklärtes, düstres und seltsam scharfsichtiges Porträt einer Geheimdienstwelt, die eben nicht so sehr die Freiheit oder den Weltfrieden sicherte, sondern sich auf grausame und hinterhältige Täuschungsspielchen einließ, die am Ende keinen Gewinner kannten. Dieser düstere Blick auf die geheimnisvolle Welt der Spionage basierte auf Informationen aus erster Hand: Le Carré war einige Jahre als Resident des Britischen Auslandsnachrichtendienstes MI6 in Bonn stationiert und erzählte, wenn man so will, aus der Perspektive des Insiders.

Dies bedeutet allerdings nicht, dass seine Romane einfache Enthüllungsgeschichten sind, Memoiren eines ernüchterten Ex-Spions. Le Carré ist weder Historiker noch Memoirenschreiber, sondern durch und durch Romancier, wenn auch seine Bücher, insbesondere Tinker, Tailor, Soldier, Spy (1974), auf wahre historische Ereignisse zurückgreifen wie die Affäre um den sowjetischen Maulwurf Kim Philby, der jahrelang im britischen Geheimdienst gearbeitet hatte und erst 1963 aufflog. Was Le Carré interessiert, sind nicht genaue historische Abläufe, sondern ist vielmehr die Logik einer politischen Situation: Hier die Logik eines Kalten Krieges, der vor allem ein geheimer Krieg ist, ein Krieg, der weniger mit Waffengewalt als durch Verrat, Unterwanderung, Betrug, Täuschung und Erpressung geführt wurde. Wie, so fragt sich Le Carré etwa, verhält sich ein Maulwurf in seinem sozialen Umfeld? Warum bemerkt niemand etwas von seinen geheimen Aktivitäten? Was für eine Gesellschaft ist das, die einen Mann wie Philby jahrelang Karriere machen lässt, ohne zu merken, dass er für den Feind arbeitet? Wie kommt man ihm auf die Spur? Welche Wirkung hat die Welt der Geheimdienste auf Leben und Persönlichkeit derer, die sich in ihr bewegen?

Mit solchen Fragen und mit Geschichten, die sie ausmalen und beantworten, stehen Le Carrés Romane exemplarisch für das, was politische Erkenntnisleistung von Fiktion sein kann. Gerade weil sie den Anspruch von Historikern oder Journalisten aufgibt, die eine historische Wahrheit über ein Ereignis erkunden zu können, ist Fiktion besser als alle anderen Diskursformen geeignet, von Geheimnissen zu sprechen, ihre Form zu erläutern, ohne diese Geheimnisse endgültig lüften zu können oder zu wollen. Fiktionen – seien es Romane oder Filme – sind, wenn sie gut sind, weder pure Unterhaltung noch freie Erfindung. Vielmehr untersuchen sie mögliche Versionen eines Ereignisses, ohne der Illusion zu verfallen, dass man über komplizierte politische Intrigen und Geheimaffären, jenes noch immer geheimnisvolle Land hinter der Grenze des Wissens, eine abschließende Wahrheit vortragen könne. Fiktion analysiert Geheimnisse, sie ist fähig, ihre Struktur zu durchleuchten, gerade weil sie deren Logik, ihre diffizile und rätselhafte Ökonomie von Hell und Dunkel, Präsentiertem und Verborgenem, nicht aufbricht sondern nachvollzieht. Sie bleibt, wenn man so will, auf der Mauer und schaut nach drüben.

Nicht zuletzt verstrickt sie sich darum auch nicht in jene Verbote, die das Staatsgeheimnis notwendigerweise umgeben, seien es Schweigeverpflichtungen von Insidern oder die Klassifikation bestimmter Informationen. Als früherer Geheimdienstmitarbeiter hätte Le Carré nie von seinen realen Erlebnissen berichten dürfen – aber Romane schreiben war nicht verboten und so findet das, was er damals begriffen hat, nun Eingang in seine Geschichten. Fiktionales Erzählen ist in der Lage, das Rätsel, um das eine Erzählung kreist, in seiner Rätselhaftigkeit zu lesen zu geben und genau damit eine Einsicht in das Funktionieren des Geheimnisses zu ermöglichen, ohne es jedoch zu lösen. Erst in einer solchen Lektüre erschließt sich die Struktur einer Wissensform, die Wissen und Unwissen, Wahrheit und Lüge in eine unauflösliche Verbindung bringt. Deshalb sind politische Thriller oft die besseren Analysen der schattenhaften Welt der politischen Geheimhaltung: Sie können Diagnosen stellen und Probleme benennen, sie können Antworten auf ungeklärte Fragen geben, die als Klartext nicht vorzubringen wären. So benutzt Fiktion vielleicht in letzter Konsequenz selbst eines der ältesten Mittel der Spionage, die Tarnung. Die Wahrheit in den Geschichten, die sie vorträgt, tarnt sie ganz harmlos mit der berühmten Fiktionalitätsklausel: "Alle hier erzählten Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig."

Eva Horn, 1965 in Frankfurt am Main geboren, ist seit 2009 Universitätsprofessorin für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Literatur und politische Theorie, Militärgeschichte, Konzepte und Medialisierung von Feindschaft sowie politisches Geheimnis und Verschwörung im 20. Jahrhundert.