Rassismus
Rassismus lässt sich als ein Diskriminierungsmuster und Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse beschreiben. In modernen Gesellschaften sind es vor allem kulturelle Merkmale, über die Menschen abgewertet und ausgeschlossen werden. Das hat Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Chancen und die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Integration der Betroffenen. Ein Überblick darüber, was Rassismus ist und welche Funktionen er erfüllt.
Rassismus ist ein eingeschliffenes Wahrnehmungssystem
Rassismus lenkt unsere Wahrnehmung, unsere Interpretation und unsere Verarbeitung sozialer Informationen.[1] Er ist damit nicht nur Ausdruck individueller Einstellungen und Handlungen oder eine Ideologie vermeintlich überzeitlicher Strukturen.[2] Rassismus als System besteht aus alltäglichen Wahrnehmungshilfen, aus Wahrnehmungsfiltern, die unsere Einschätzung sozialer Gehalte und Situationen lenken und somit strukturieren.
Zeigen Angehörige von dominierten Gruppen negative Eigenschaften, werden diese als Bestätigung für die Unterlegenheit, des Wesens ihrer Gruppe in ihrer Gesamtheit interpretiert und dargestellt. Durchgesetzt wird diese ungleiche Bewertungspraxis über Wissensstrukturen (Differenzwissen). Die dominierten Gruppen geraten durch diese beständige negative Darstellung in eine exponierte Position. Sie müssen sich daher bspw. von Handlungen einzelner Angehöriger abgrenzen oder gar entschuldigen ("nicht alle ... sind Terroristen", "nicht alle ... sind kriminell", "nicht alle ... sind fundamentalistisch"). Berichterstattung, die die Gruppenzugehörigkeit von Tätern hervorhebt, wenn diese zu dominierten Gruppen gehören oder im Gegenzug die Gruppenzugehörigkeit von Opfern betont, wenn diese zur dominanten Gruppe gehören, verschärft diese Schieflage in der Wahrnehmung rassifizierter, also rassistisch markierter Gruppen. Es erscheint dann so, als seien Angehörige der dominierten Gruppen häufiger kriminell. Diese hervorgehobene, negative Position gleicht einer Brandmarkung, weshalb es hier Sinn macht von durch Rassismus markierten Gruppen oder von rassistisch markierten Personen und Gruppen zu sprechen.
Rassismus schützt das Selbstbild und die gesellschaftliche Stellung der dominanten Gruppe

Eine ähnliche, durch rassistische Wahrnehmungen eingeschliffene, systematische Besserbewertung wird in einem zweiten Beispiel, dem Projective Doll Interviews deutlich, in dem Kinder Puppen oder Figuren unterschiedlicher Hautfarbe Eigenschaften zuordnen sollen. Die rassistisch un/markierten Puppen oder Figuren bilden hier die festgelegten und gesellschaftlich erkennbaren Gruppen. Ihre Eigenschaften (Differenzen) werden in Interviews mit Kindern erschlossen. Die negativen Zuschreibungen, die mit rassistischer Markierung verknüpft werden, sind im Gehalt der Interviewgespräche erkennbar (böse, dumm, hässlich). Die automatische positive Wahrnehmung weißer Subjekte (gütig, hilfsbereit, schön), ist offenbar als gesellschaftliches Wissen im Kindesalter bereits eingeprägt. Rassismus zahlt sich also aus als positives Selbstbild (Doll Test) und als positive Deutung der Handlungen weißer Akteur_innen (Bike Theft Test). Weißsein bildet somit eine unsichtbar herrschende Normalität.[3] Rassistisch markierte Andere müssen sich hingegen daran gewöhnen, dass ihre Handlungen systematisch rassistisch bewertet werden.[4] Rassismus ist infolgedessen ein Diskriminierungsmuster.[5]
Moderner Rassismus: Die Gleichzeitigkeit von Rassismus und egalitären Menschenrechten

Kultur als Platzhalter für "Rasse":
[9]Von biologistischen zu kulturalistischen Differenzmarkierungen
Die seit der Zeit der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert vorherrschende Idee, Menschen ließen sich nach biologischen Kriterien in klar voneinander abgegrenzte Rassen unterteilen, wurde wissenschaftlich konsequent zurückgewiesen.[10] Damit hat sich aber das Aussagesystem des Rassismus keineswegs erübrigt. Der Gegenstand rassistischer Markierung hat sich lediglich verschoben von biologisch begründeten Differenzen zu kulturalistisch begründeten Differenzen (Kulturdifferenz).[11] Kulturelle Differenzen unterliegen ebenfalls einem Ranking, in dem das der dominanten Kultur zugeschriebene Eigenschaftsset ganz oben und die den rassistisch markierten Kulturen zugeschriebenen Eigenschaftssets in untergeordneter Position eingeordnet werden. Die 'Kultur' von Menschen gilt nunmehr als Wesensmerkmal, als Sozialcharakter. Aspekte kultureller Identität (Sprache, Kleidung, Auftreten) geraten in den Fokus der Differenzmarkierung und werden stilisiert zum neuen Unterscheidungskriterium. Diese Aspekte gelten jetzt als Zeichnen der Unzulänglichkeit. Kulturdifferenz wird zur neuen rassifizierten Konfliktlinie und zum Ort der Herstellung sozialer Grenzziehungen und sozialer Hierarchien.Kulturrassismus basiert zudem auf Vorstellungen einer Unvereinbarkeit von als kulturell unterschiedlich konstruierten gesellschaftlichen Gruppen. Es geht also nicht darum, eine gleichberechtigte Pluralität kultureller Lebenskonzeptionen, eine gleichberechtigte Koexistenz zu fördern. Es geht vielmehr darum, 'Kultur' als Differenzmarkierung zu etablieren und als hergestellte Grenze oder soziale Hierarchie wirksam werden zu lassen. Kulturelle Praxisformen (religiöse Praktiken, Formen der Erziehung, Geschlechterarrangements) werden als unvereinbare Gegensätze konzipiert. Das hat den Nutzen, dass eine kulturelle Hegemonie entsteht, mit der dominanten Kultur an ihrer Spitze. Dieses Arrangement schützt wiederum das positive Selbstbild der Angehörigen der Dominanzkultur, deren Handlungsweisen wohlwollender ausgelegt und bei Fehltritten nicht folgenreich auf die Gesamtheit ihrer Gruppe als Negativeigenschaft projiziert werden. Rassistisch markierte Akteur_innen werden dagegen als nicht-integrationsfähige Belastung für die Dominanzgesellschaft dargestellt. Konkrete Beispiele dieser kulturalisierenden Dominanzperspektive sind die Leitkulturdebatte des Jahres 2000 und die Thesen des ehemaligen SPD Politikers Thilo Sarrazin (2010).[12]
Die systematische Schlechterbewertung von rassistisch markierten sozialen Gruppen und Akteur_innen birgt folgenreiche Einschränkungen für ihren Alltag, da sich diese Diskriminierungsmuster auf ihre Chancenstruktur auswirken. Zu gängigen kulturalisierenden Praxisformen des Alltags gehören zum Beispiel rassistische Türpolitiken oder der ambivalente Umgang mit weiblichen Beschäftigten, die eine Kopfbedeckung tragen[13]: Zahlreiche Clubs und Diskos verweigern rassistisch markierten Männern den Zutritt. Der Ausschluss basiert auf der Zuschreibung eines negativen Eigenschaftssets (kriminell, hypersexuell, gewalttätig). Diese Differenzmarkierung ist für die Wahrnehmung Schwarzer Männer und Männer of Color und ihre Freizeitgestaltung in öffentlichen Räumen folgenreich. Kulturalisierende Argumentationsmuster sind ebenfalls Grundlage für die Wahrnehmung von weiblichen Beschäftigten, die als Kopfbedeckung ein Kopftuch tragen. Ihre Arbeitsmarktsituation ist von einer Doppelmoral geprägt. Es stellt offenbar keine Störung dar, wenn beim Reinigungspersonal Akteurinnen eine Kopfbedeckung tragen. Es wird hingegen als höchst problematisch eingeschätzt, wenn Beschäftigte (der gleichen Institution) in einflussreichen Positionen arbeiten und eine Kopfbedeckung tragen. Das gilt als gesellschaftliches Problem, als eine nicht hinnehmbare kulturelle Differenz.[14] Diese Wahrnehmung basiert auf einer Zuschreibung eines negativen Eigenschaftssets (passiv, fundamentalistisch, unterdrückt). Die systematische Verweigerung eines Zugangs zu einem einflussreichen Segment des Arbeitsmarktes wirkt sich negativ auf die Chancenstruktur rassistisch markierter Akteurinnen aus. Namen, die als Hinweis auf einen Migrationshintergrund gelesen werden, werden kulturalistisch wahrgenommen und markiert. Das führt zu Benachteiligungen in Bewerbungs- und Auswahlverfahren sowie auf den Wohnungsmarkt. Kulturalisierende Markierungen schränken also faktisch Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten und auch Wohnmöglichkeiten ein. Diese Beispiele sind Konkretisierungen einer systematischen Kulturalisierung rassistisch markierter Akteur_innen und der damit zusammenhängenden Ungleichbehandlung.
Zusammenfassung
Rassismus kann als eine Infrastruktur, als ein vielschichtiges System verstanden werden. Er gewinnt seine Stabilität aus einem komplexen Ineinandergreifen intersubjektiver Wahrnehmungen und Handlungen (soziale Praxis), instituierter Ungleichheiten (soziale Strukturen) und der Produktion von Bildern hierarchisierter Differenz (symbolische Ordnung). Rassismus ist nicht umkehrbar. Soziale Experimente (z.B. "Dunkles, rätselhaftes Österreich"[15]), die die dominante Herstellung von Differenz umdrehen, sind aufschlussreich, um die Mechanismen von rassistischer Markierung nachzuvollziehen. Sie setzen sich aber nicht als rassistisches Wissen durch, da ihnen instituierte Strukturen fehlen. Rassismus ist kein individuelles Vorurteil, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis, ein Ausdruck gesellschaftlicher Machtbeziehungen. Rassismus äußert sich nicht unabhängig von gesellschaftlichen Machtstrukturen, er ist auf einen Verstärkungsraum angewiesen, nämlich auf die Einheit von Wissen und Institution.[16] Rassismus ist zudem schwer greifbar, weil er in gleichstellungsorientierten Gesellschaften illegitim ist. Er wird daher oft in öffentlichen Debatten mit Ausweichbegriffen (Xenophobie, Ethnozentrismus) ersetzt. Solche Begriffe erschweren eine Thematisierung von Machtdimensionen und Dominanzen. Mit dem Begriffsfeld Rassismus lassen sich schließlich spezifische Rassismen gegen Schwarze Menschen, gegen jüdische Menschen, gegen Sinti und Roma und gegen muslimische Menschen erfassen. Diese Rassismen basieren auf verwandten Prozessen der Erfindung und Herstellung von Differenz, der Markierung, der Hierarchisierung und der sozialen Grenzziehung.Literatur
Arndt, Susan (2011): Rassismus. In: Susan Arndt, Nadja Ofuatey-Rahal (Hg.) Wie Rassismus aus Wörtern spricht, (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein Kritisches Nachschlagewerk. Münster, Unrast. S. 37 – 43Balibar, Etienne und Wallerstein, Emanuel (1990): Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg; Berlin: Argument-Verlag
Barskanmaz, Cengiz (2009): Intersektionalität und das Antidiskriminierungsrecht. In: GLADT e. V. (Hg.): Tagungsdokumentation: Mehrfachzugehörigkeit und Mehrfachdiskriminierung, eine Veranstaltung im Rahmen der Reihe Crosskultur 2009 zwischen dem Internationalen Tag der Toleranz (16. November) und dem Internationalen Tag der Migrant_innen (18. Dezember), Berlin, Selbstverlag S. 4 – 6. Online: http://www.gladt.de/archiv/mehrfachdiskriminierung/Mehrfachdiskriminierung.pdf
Farr, Arnold (2005): Wie Weißsein sichtbar wird. Aufklärungsrassismus und die Struktur eines rassifizierten Bewusstseins. In: Eggers, Maureen Maisha; Kilomba, Grada; Piesche, Peggy; Arndt, Susan (Hrsg.). Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. 1. Auflage. Münster: Unrast- Verlag, 2009, S. 40-55
Kalpaka, Annita (2005): Pädagogische Professionalität in der Kulturalisierungsfalle – Über den Umgang mit "Kultur" in Verhältnissen von Differenz und Dominanz, in: Rudolf Leiprecht und Anne Kerber (Hrsg.): Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Ein Handbuch, Schwalbach, S. 387 – 403 Mills, Charles Wade (1999): The Racial Contract, Ithaca, Cornell University Press
Morrison, Toni (1993): Playing in the Dark. Whiteness and the Literary Imagination. London and Basingstoke
Terkessidis, Mark (1998): Psychologie des Rassismus, Opladen, Wiesbaden Rommelspacher, Birgit (2011): Was ist eigentlich Rassismus. In: Paul Mecheril und Claus Melter, (Hrsg.). Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und –Forschung. 2. Auflage. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 25-38
Wachendorfer, Ursula (2001): "Weiß-Sein in Deutschland. Zur Unsichtbarkeit einer herrschenden Normalität." In: Arndt, Susan (Hrsg.): AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland. Münster: Unrast, S. 87-101.
Internetquellen (Hyperlinks)
Bike Theft Experiment im Rahmen der Sendung "What Would You Do?" des US-amerikanischen Senders abc. Sendung vom 7. Mai 2010. Online: http://www.nydailynews.com/news/national/watch-white-black-bike-thieves-treated-differently-article-1.1368401Zusammenschnitt des Projective Doll Interviews in verschiedenen nationalen Kontexten. Online: https://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=tkpUyB2xgTM
Mocumentary "Dunkles, rätselhaftes Österreich". Online: https://www.youtube.com/watch?v=8--cZEq-vwU&list=FLbTqcwZT7lMCvOcb_duqZAw&index=135