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Analyse: Starke Zunahme der Coronavirus-Infizierten in Russland | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Starke Zunahme der Coronavirus-Infizierten in Russland

Judy Twigg

/ 10 Minuten zu lesen

Mit über 326.000 Corona-Fällen liegt Russland auf dem zweiten Platz hinter den USA. Die Kreml bemüht sich darum, die Sterberate niedrig zu halten.

Vor dem ehemaligen Hotel Ukraina in Moskau versprühen Kehrmaschinen Desinfektionsmittel und reinigen die menschenleeren Straßen. (© picture alliance/dpa | Ulf Mauder)

Zusammenfassung

Die Verbreitung des Coronavirus erreicht in Russland laufend neue Höchstwerte. In dieser Lage bemüht sich der Kreml darum, die Covid-19 bedingte Sterberate niedrig zu halten und sich aus der Verantwortung zu stehlen. Die Mitarbeiter im Gesundheitswesen hingegen stellen sich der Verantwortung ihres Berufsstandes und bemühen sich darum, die Epidemie auch mit dürftiger Grundausstattung zu bewältigen. Währenddessen warten bereits die nächsten versteckten sozialen Herausforderungen auf sie.

Einleitung

Russland ist in der weltweiten Statistik der bestätigten Corona-Infektionen auf einen wenig beneidenswerten Platz geklettert. Es liegt nun mit insgesamt über 326.000 Fällen und in den vergangenen zwei Wochen täglich über 9.000 bestätigten Neuinfektionen hinter den USA auf dem zweiten Platz (Stand: 21. Mai 2020). Rund die Hälfte der Infektionen entfällt auf Moskau. Die übrigen sind in einigen anderen Hotspot-Regionen konzentriert. Da sich die Zahl der täglich verzeichneten Neuinfektionen einpendelt, und mit neuen Gesundheitsmaßnahmen im Gepäck (unter anderem einem ausgedehnten System von stichprobenartigen Antikörpertests, das gerade für die Hauptstadt angekündigt wurde), erklären offizielle Vertreter Russlands, dass in der Epidemie eine wichtige Schwelle der Stabilität erreicht worden sei. Zentrale Fragen bleiben allerdings unbeantwortet.

Todesursache: nicht Covid-19

Es besteht weiterhin Ungewissheit über die grundlegenden Ziffern. Russland hat sich zwar stolz über die relativ hohe Zahl der seit Beginn der Pandemie vorgenommenen Tests gezeigt. Es behauptet, dass mit Stand vom 17. Mai 2020 fast sieben Millionen Tests durchgeführt seien, doch gibt es immer noch Bedenken hinsichtlich der Genauigkeit der Tests. Insbesondere besteht der Verdacht, dass es eine hohe Zahl falscher negativer Testergebnisse gab. Noch kontroverser wird die relativ niedrige Zahl der bestätigten Todesfälle in Verbindung mit Covid-19 diskutiert. Mit knapp über 2.600 Todesfällen liegt die Sterberate bei unter 1 Prozent und somit beträchtlich niedriger als in anderen schwer betroffenen Ländern. Die politischen Führer des Landes erklären, das sei ein Zeichen für die überlegene Qualität des russischen Gesundheitssystem; die höhere Rate an Genesenen sei hierauf zurückzuführen. Viele Analytiker haben allerdings diese Diskrepanz dadurch erklärt, dass die Daten frisiert sind. In mindestens einem Fall, in der Atomstadt Sarow (ehem. Arsamas-16 – Anm. der Red.) bei Nischnij Nowgorod, werden die Zahlen zu Coronainfektionen in der geschlossenen Stadt bewusst aus der kumulierten offiziellen Statistik herausgehalten. Weiter verbreitet ist der Umstand, dass durch ganz profane Bürokratie oder mit manipulativer Absicht Sterbefälle bei Patienten mit Covid-19 mit anderen Todesursachen gelistet werden, mit Lungenentzündung, Herzstillstand oder anderen naheliegenden Todesursachen, wodurch die Covid-19-Sterberate gedrückt wird. Die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation WHO fordern, dass jede Infektion mit dem Coronavirus als Todesursache zu führen ist, sobald ein infizierter Patient stirbt, es sei denn in ganz offensichtlichen Fällen wie einem Sturz oder anderen Verletzungen, die eindeutig nicht mit der Infektion in Verbindung stehen. Die Berichte des Moskauer Gesundheitsamts haben deutlich gemacht, dass Russland diese Richtlinien missachtet, da explizit gesagt wird, 60 Prozent der Todesfälle mit Covid-19 in Moskau würden nicht in die Zählung der Covid-19-Toten einfließen. Untersuchungen, die von der New York Times, der Financial Times und anderen Medien vorgenommen wurden und die russischen Sterbezahlen vom April 2020 mit den durchschnittlichen Aprilwerten des letzten Jahrzehnts vergleichen, kommen zu dem Schluss, dass die Zahl der Covid-19-Toten um bis zu 70 Prozent unter der tatsächlichen liegen könnte. Das russische Außenministerium hat diese Berichte lauthals in Frage gestellt und die Redaktionen dieser Zeitungen formal aufgefordert, einen Widerruf zu veröffentlichen, doch stehen die Autoren weiterhin zu den Berichten.

Kompetenter Umgang bei dürftiger Grundausstattung

Wie die genauen Zahlen auch sein mögen – es wird zunehmend deutlich, dass Russlands anfängliche Zuversicht aus dem Februar und März 2020, es werde den schweren Folgen der Pandemie entgehen, nicht begründet war. Die ersten Fälle haben Moskau zwar durch Urlauber erreicht, die aus Italien, Spanien und anderen stark betroffenen Regionen zurückkehrten, doch erfolgte die Ausbreitung innerhalb der Hauptstadt und weiter in andere russische Städte über eine ganze Reihe von Vektoren: unter den Arbeitern auf den Öl- und Gasfeldern in der Arktis, in Sibirien und im Fernen Osten, unter Bewohnern und Arbeitern in den Nachbarregionen von Moskau, die wohl durch Besucher aus der Hauptstadt infiziert wurden, unter Menschen in Dagestan, Inguschetien und anderen Republiken des Nordkaukasus, wo ein geringes Vertrauen in die Regierung dazu führte, dass in der Bevölkerung Abstandsgebote und Quarantänemaßnahmen missachtet werden, und – wohl am wichtigsten – beim medizinischen Personal und unter Krankenhauspatienten, die nicht durch das Coronavirus infiziert waren.

Als es in Russland zu den ersten Covid-19-Fällen kam, galt eine Hauptsorge den Kapazitäten des Gesundheitssystems: Verfügt Russland über genug Beatmungsgeräte? Sind die Krankenhauskapazitäten qualitativ ausreichend, um schwere Covid-19-Fälle gut behandeln zu können, insbesondere in ländlichen Regionen? Gibt es ausreichend qualifizierte Fachkräfte für Atemwegserkrankungen, Anästhesie und andere Bereiche, um hohe Patientenzahlen bewältigen zu können? Mit der Entwicklung der Epidemie wurde deutlich, dass Russlands Kapazitäten für einen Anstieg der Fallzahlen im Großen und Ganzen angemessen waren, um die Covid-19-Welle zu bewältigen. Tausende russischer Medizinstudenten wurden mobilisiert, um in dem Kampf gegen die Pandemie zu helfen. Lokal hat es in Moskau manchmal Engpässe gegeben, wie an den mitunter langen Schlangen von Krankenwagen zu erkennen war, die warten mussten, bis sie die Patienten in bestimmten Krankenhäusern abliefern konnten. Die Regierung hat allerdings schnell reagiert und bestehende reguläre Krankenhäuser zu Covid-19-Einrichtungen umgewandelt sowie neue gebaut. Ab und zu machten Fragen der Qualitätskontrolle Schlagzeilen. Im jüngsten Fall ging es um hastig in Massenproduktion hergestellte Beatmungsgeräte aus einer Fabrik in der Nähe von Jekaterinburg, bei denen es zu Kurzschlüssen kam, die in Moskauer und Petersburger Krankenhäusern tödliche Brände auslösten. Abgesehen von solchen aufsehenerregenden Ausnahmen scheinen aber sowohl die Menge wie auch die Qualität der verfügbaren Hightech-Geräte und Präparate ausreichend gewesen zu sein.

Die gravierendsten Mängel bei der Qualitätskontrolle im Gesundheitswesen sind nicht auf Hightech-Versagen zurückzuführen, sondern eher auf profanere Bereiche der Seuchenschutzmaßnahmen und ein Defizit von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), also Masken, Kittel, Handschuhen und anderer einfacher Kleidung. Insbesondere in der Frühphase der Epidemie gingen die Einrichtungen in Russland bei der Quarantäne oder der Überführung aus einfachen Krankenhäusern in Covid-19-Kliniken hinsichtlich der Isolierung Infizierter von nicht infizierten Patienten willkürlich vor. Auch wurden infizierte Ärzte vielerorts nicht schnell genug aus dem Dienst genommen. In der Republik Komi im Norden Russlands beispielsweise breitete sich das Coronavirus aus, als Patienten von Krankenhäusern in der Republikhauptstadt in entlegene Einrichtungen verlegt wurden – über eine Region mit einer Fläche größer als Deutschland hinweg.

Zudem bleibt persönliche Schutzausrüstung auf alarmierende Weise immer noch Mangelware im Land. Unzureichend geschütztes medizinisches Personal, Krankenwagenfahrer und Patienten sind überdurchschnittlich gefährdet. Viele Krankenhäuser im Land sind zu Covid-19-Hotspots geworden. Die Regierung von St. Petersburg berichtete vergangene Woche, dass es in der Stadt allein unter Ärzten und anderem medizinischem Personal 1.500 Infektionen mit dem Coronavirus gegeben habe. Hieran sind sowohl Anmaßung als auch Druck durch die russische Bürokratievertikale schuld. Zu "normalen" Zeiten, bis unmittelbar vor der Pandemie, hatte Russland (wie andere Länder auch) den Großteil seiner PSA importiert. Eine Massenproduktion in Russland hatte keinen Sinn ergeben, da man die Produkte billig in China kaufen konnte. Im Januar und Februar 2020 führten die Covid-19-Fallzahlen in China dazu, dass die Produktion von PSA in einem Moment zurückging, da das Land selbst mehr Kleidung benötigte. Also verkaufte Russland eine Menge seiner Vorräte zurück nach China. Als sich die Ausbreitung des Virus im April und Mai in Moskau und anderen Regionen Russlands beschleunigte, hatte das Land Schwierigkeiten, diese Situation zu bewältigen. In der ganzen Welt überbieten sich nationale Regierungen und kommunale Verwaltungen, Privatunternehmen und charitative Organisation gegenseitig, um knappe Vorräte an PSA zu erlangen. Und die Anlagen, die zum Hochfahren einer innerrussischen Massenproduktion benötigt werden, sind nur in Europa und China zu erhalten. Es ist eine gute Nachricht, dass die russische Produktion jetzt zentral beim Ministerium für Handel und Industrie zusammengeführt wurde, und dass lokale Wohlfahrtsorganisationen und große Arbeitgeber vielerorts die Versorgungsketten für PSA stützen. Allerdings zögern viele Chefärzte und Vertreter der kommunalen Verwaltungen trotz des verzweifelten Mangels in vielen Krankenhäusern (, der in den sozialen Medien von Ärzten und Krankenschwestern bestätigt wird), um mehr Nachschub zu bitten, weil sie nicht negativ auf sich aufmerksam machen wollen. Der Druck, der hierdurch auf das heldenhafte medizinische Personal in Russland entsteht, ist gewaltig, weil sie viele Stunden unter gefährlichen Bedingungen und unzureichend ausgerüstet arbeiten müssen. Hinzu kommt der Druck ihrer Verwaltungsapparate, in einer Situation Ergebnisse zu liefern, in der dies unmöglich sein könnte. Nachdem in den letzten Wochen mindestens drei russische Ärzte in oberen Stockwerken aus dem Fenster gefallen waren, sprachen Gerüchte, die sich auf nicht fundierte Verschwörungstheorien stützten, von heimtückischen Komplotten, mit denen Ärzte, die sich beschwerten, zum Schweigen gebracht werden sollen. Sehr viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass diese Ärzte tragischerweise wegen der Belastung ihrem Leben ein Ende setzten. Und es wurde zusätzlich Salz in diese Wunden gestreut: Nicht überall, wo dem medizinischen Personal, das Covid-19-Patienten betreut, Lohnzuschüsse und Bonuszahlungen versprochen wurde, ist dies auch tatsächlich erfolgt.

Verborgene Covid-19-bedingte Herausforderungen

Auch andere Aspekte der medizinischen Versorgung und des Gesundheitswesens sehen sich im Zusammenhang mit Covid-19 Herausforderungen und Sekundärfolgen gegenüber, die sich möglicherweise langfristige negative auf die individuelle und die allgemeine Gesundheit auswirken können. Personen mit chronischen Vorerkrankungen – nicht übertragbaren Krankheiten wie Herzerkrankungen, hohem Blutdruck und Diabetes oder aber Infektionen wie Tuberkulose und HIV – zögern, zu ihrem Arzt zu gehen, weil sie in medizinischen Einrichtungen eine Ansteckung mit dem Coronavirus befürchten. Routineimpfungen und -untersuchungen, auch Mammographien, Abstriche zur Krebsvorsorge und Darmspiegelungen wurden verschoben oder entfallen. Dieses Problem betrifft nicht allein Russland. In den USA haben Studien in einigen Gegenden einen Rückgang von 50 Prozent bei Arztbesuchen zur Primärversorgung festgestellt. Für Russland liegen keine Vergleichsdaten vor, doch ist es wahrscheinlich, dass für viele Patienten die Routinebehandlung und die Medikationspläne unterbrochen wurden. Eine Frauengruppe schätzt, dass seit Beginn der Pandemie 100.000 schwangere Frauen in Moskau nicht in der Lage waren, einen angestrebten medikamentösen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Das verweist auf einen weitgehend eingeschränkten Zugang zur reproduktionsmedizinischen Versorgung. Für jene, die eine Behandlung wegen chronischer oder akuter Beschwerden benötigen, die nicht im Zusammenhang mit Covid-19 stehen, könnten nur wenig Krankenhausbetten und -personal zur Verfügung stehen, da ein großer Teil des Gesundheitswesens zur Bekämpfung der Pandemie abgeordnet wurde.

Die sozialen Folgen für bedürftige Bevölkerungsgruppen sind ebenfalls erheblich. Nach zehn Jahren eines hart errungenen Rückgangs des durchschnittlichen Alkoholkonsums ist der Verkauf von Wodka während der ersten russlandweiten Quarantänewoche Ende März um 65 Prozent angestiegen. Die Menschen trinken wegen der Einschränkungen und der Sorgen über ihre wirtschaftliche Lage, und als Reaktion auf irrige Mythen, dass Alkohol eine vorbeugende Wirkung gegen das Virus habe. Beschwerden über häusliche Gewalt, die zweifellos durch Alkoholkonsum verstärkt wird, haben sich in der Zeit der Quarantäne verdoppelt, da viele Frauen mit ihren Peinigern in der Wohnung gefangen sind und Schutzeinrichtungen geschlossen und andere unterstützende Maßnahmen eingeschränkt wurden. In Moskau und anderen großen Städten werden Zehntausende Obdachloser (darunter jene, die erst jetzt obdachlos geworden sind) nicht auf das Coronavirus getestet; sie haben nur eingeschränkt Zugang zu Sozialdiensten. Viele ältere Personen und Menschen mit Behinderungen sind von ihren gewohnten Unterstützungsnetzwerken abgeschnitten. Arbeitsmigranten (mit und ohne gültige Papiere), für die aufgrund der Reisebeschränkungen eine Rückkehr nach Hause nicht möglich ist, die in beengten sowie ungeregelten Verhältnissen und Schlafsälen hausen und die "reif" für eine Ausbreitung des Virus sind, fallen ebenfalls durch die Maschen.

Delegierte Entscheidungsautorität

Die Reaktion von Präsident Wladimir Putin auf die Pandemie ist merkwürdig passiv ausgefallen. Nach seiner anfänglichen Anordnung einer Grenzschließung und einer landesweiten mehrwöchigen "arbeitsfreien Zeit", die Ende März begann, hat er die Verantwortung weitgehend an die regionale Ebene delegiert. Vor rund einer Woche hat er die angeordnete Schließung nicht lebenswichtiger Unternehmen beendet und dabei die Entscheidung, ob, wann und wie zur "Normalität" zurückzukehren sei, den Gouverneuren zugeschoben. Die politische Strategie hinter diesem Schritt – die regionalen Führungen zu Sündenböcken zu machen, falls die Dinge schlecht laufen – scheint nach hinten loszugehen. Anstelle eines Popularitätszuwachses durch ein Zusammenstehen der Nation, wie ihn andere Staatschefs erfahren, muss Putin nun sehen, dass seine Zustimmungswerte hinter den durchschnittlichen Werten der Gouverneure hinterherhinken. Die Gouverneure wiederum befinden sich gleichwohl in einer prekären Lage: Sie waren weitgehend aufgrund ihrer Bereitschaft ernennt worden, als Jasager zu dienen, die Anweisungen von oben zu befolgen und sicherzustellen, dass die vom Kreml diktierten Zielvorgaben erfüllt werden. Plötzlich und inmitten einer beispiellosen globalen Krise sehen sie sich nun unerwartet – und in den meisten Fällen wohl auch unerwünscht – mit der Vollmacht ausgestattet, Fragen von Leben oder Tod zu entscheiden, die sich vom Gesundheitswesen über die Wirtschaft, die sozialen Dienste bis hin zur inneren Sicherheit und einer Reihe anderer Bereiche erstrecken. Die meisten Gouverneure verfügen weder über die Ressourcen noch über die administrative Kapazität, diese Entscheidungen wirksam umzusetzen.

Ausblick

Im Weiteren wird die Stadt Moskau selbst bei ausgeweiteten Tests vor dem Risiko stehen, dass sich das Coronavirus erneut ausbreitet, wenn die Kontaktbeschränkungen gemildert werden (, was derzeit für frühestens Ende Mai anvisiert wird). Einige andere Regionen heben die Beschränkungen umgehend auf, aus Frustration, dass ihre Wirtschaft wegen eines Gesundheitsproblems einen Rückschlag erlitt, das aus ihrer Sicht ein reines Moskauer Problem ist. Es gibt keinerlei Anzeichen, dass in irgendeinem Teil des Landes ein System zur Nachverfolgung eingerichtet wurde, was ein wichtiger Bestandteil einer langfristigen Bekämpfung der Epidemie wäre. Bei dem anhaltenden Mangel an PSA und einer potenziellen weiteren Ausbreitung des Virus in entlegenere Regionen des Landes, in denen das Gesundheitssystem im Vergleich zu Moskau weniger gut ausgerüstet und finanziert ist, bleibt eine Überlastung des Gesundheitssystems sehr wohl möglich. Das verständliche Gebot, die Menschen wieder arbeiten zu lassen und die Wirtschaft Russland wieder voranzubringen, könnte wie in anderen Ländern der Welt auch im Widerspruch zu dem stehen, was zur Eindämmung des Coronavirus erforderlich ist. Da nun die Gouverneure am Ruder sind, wird es von der regionalen Regierungsführung und deren Kapazitäten abhängen, wie sich die Dinge im Weiteren entwickeln.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Fussnoten

Dr. Judy Twigg ist Professorin für Politikwissenschaft an der Virginia Commonwealth University in Richmond (Virginia) und Beraterin bei der Weltbank, dem Center for Strategic and International Studies in Washington, DC, und mehreren anderen Institutionen. Sie verfasst derzeit ein Buch über eine Reform des Gesundheitswesens in Eurasien.