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M 01.06 Wider die Skandalisierung | 8. Mai 1945 - erinnern heute | bpb.de

8. Mai 1945 - erinnern heute Einstieg (B1) M 01.04 Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit revisited M 01.05 Die Rückkehr der Opfererinnerung M 01.06 Wider die Skandalisierung M 01.07 Geschichtsfernsehen M 01.08 "Erinnerungskultur ist nicht nur Camouflage" M 01.09 Karikatur: Geschichte zum Einsturz bringen Einstellungen zur NS-Zeit (B2) M 02.01 Methode: Vorbereitung und Durchführung der Entscheidungsübung M 02.03 Auswertungsbogen zur Entscheidungsübung M 02.08 Empirische Untersuchungen zum Geschichtsbewusstsein Auswertung der Daten (B4) M 04.01 Sechs-Punkte-Schema zur Auswertung von Umfragedaten M 04.02 Beispielhypothesen zur Analyse der Befragungsdaten Präsentation (B5) M 05.01 Beispiel einer Dokumentation der Befragungsergebnisse Projektevaluation (B6) M 06.01 Methode: Stummes Schreibgespräch Links und Literatur Links für den Unterricht Angebote in den Medien Sachinfos Literatur Redaktion

M 01.06 Wider die Skandalisierung

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In der Stadt gibt es Platz für viele Erinnerungen - auch für die der Deutschen und an die Deutschen.

Diesen Platz gilt es zu füllen - und die neueste Erinnerungsoffensive trägt dem Rechnung. Sie ist im eigentlichen Sinn keine Spätfolge von Verdrängung und Respektlosigkeit, sondern Teil und vorläufiges Endprodukt jenes Gedächtnisbooms, der seit den achtziger Jahren zu beobachten ist. Sie folgt den spezifischen politischen Konjunkturen dieses Gedächtnisses, das sich zunächst mit den jüdischen Opfern beschäftigte, bevor es sich folgerichtig den Tätern und Mittätern zuwandte. [...]

Anstatt die Revitalisierung der deutschen Opfererinnerung zu skandalisieren, sollte man sie gleichermaßen kritisch wie unverkrampft betrachten. Dabei wären sieben Punkte zu bedenken.

Erstens: An das Leid zu erinnern, das der Krieg im eigenen Land und seine Folgen über die deutsche Zivilbevölkerung gebracht haben, ist legitim und wichtig. Dass das Thema Vertreibung durch die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien eine in Europa unerwartete und deshalb besonders bedrückende Aktualität gewonnen hat, verleiht den Erfahrungen deutscher Vertriebener und Flüchtlinge zudem eine neue Dignität. Ebenso weckt die Bombardierung irakischer Städte durch amerikanische und britische Flugzeuge fast zwangsläufig Erinnerungen an ähnliche Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg.

Zweitens: Solche Erinnerungen politisch stillstellen oder unterdrücken zu wollen, wäre nicht nur sinnlos, sondern auch kontraproduktiv. Gleichwohl müssen sie kritisch kommentiert werden. Erinnerungen sind vor allem dann, wenn sie öffentlich kommuniziert werden, keine bloß subjektiven Äußerungen mehr. Sie beziehen sich auch nicht nur auf Vergangenes, sondern haben ihren Ort in der Gegenwart und reflektieren auf zukünftige Ordnungen. Gerade das macht sie so bedeutungsvoll und kontrovers. Hinzu kommt, dass die Erinnerungen, um die es in der derzeitigen Debatte geht, in der Regel keine Primärerinnerungen mehr sind. Die meisten Menschen, die Bombenkrieg, Flucht oder Vertreibung bewusst erlebt und überlebt haben, leben heute nicht mehr. Erinnerungsträger wie Medien (Bücher, Film, Fernsehen) oder Institutionen (Vertriebenenverbände) treten an ihre Stelle. Gerade sie aber müssen sich fragen lassen, welche aktuellen und in die Zukunft projizierten Interessen sie verfolgen.

Drittens: Die derzeitige Opferdiskussion steht unter dem Generalverdacht, dass Leid mit Leid, Schuld mit Schuld verrechnet werden soll. Ein solcher Aufrechnungsmodus hat eine lange, unrühmliche Tradition, in allen politischen Lagern. Ging es in der Nachkriegszeit darum, das den Deutschen im Osten angetane Unrecht gegen mögliche Reparations- und Entschädigungsforderungen aus diesen Ländern zu wenden, neigte man auf der Linken dazu, die Leiderfahrungen der Deutschen als logische Folge des vom Nationalsozialismus verursachten Unrechts zu betrachten und damit gleichsam zu rechtfertigen. Beide Positionen instrumentalisierten die "Vertriebenen" bzw. "Umgesiedelten" für politische Zwecke; umso schlimmer, dass manche Vertriebenenfunktionäre dieses Spiel bedenkenlos mitspielten und die Polarisierung weiter anheizten. Damit aber muss nun endlich Schluss sein. Die politische Großwetterlage hat sich gravierend geändert und macht die Fortsetzung der alten Grabenkämpfe ebenso überflüssig wie lächerlich. Der psychologische Reflex, auf einen massiven Schuldvorwurf mit Entlastungsargumenten zu antworten und den eigenen Opferstatus hervorzukehren, sollte sich jedenfalls nicht noch einmal dauerhaft einschleifen und erinnerungspolitisch verfestigen.

Viertens: An dieser Stelle sind Historiker gefordert, die jeweilige Gruppenerinnerung in ihren geschichtlichen Zusammenhang einzuordnen. Ohne die Leidenserfahrungen der Opfer zu schmälern oder abzuwerten, muss die Dynamik von Unrecht und Leid angemessen gewichtet werden. Immerhin war es das nationalsozialistische Deutschland, das mit der Vertreibung und Vernichtung ganzer Bevölkerungen begann. Ob jene Handlungskette in dem für Berlin projektierten Zentrum gegen Vertreibungen tatsächlich berücksichtigt wird, bleibt abzuwarten. Derzeit sehen die Pläne eher nach einer nationalen Nabelschau aus, die ihren Gegenstand isoliert, anstatt ihn zeitlich, räumlich und sachlich zu kontextualisieren.

Dieser Kontext ist auch für eine Geschichte des Bombenkrieges notwendig, wie Jörg Friedrich sehr wohl weiß. Coventry und Rotterdam werden in seiner Darstellung nicht unterschlagen. Dennoch gleitet sie in historischen Relativismus ab. Viele Rezensenten haben darauf hingewiesen, wie suggestiv der Autor die Erfahrungen des Flächenbombardements an diejenigen der Gaskammern heranrückt. Indem er sich derselben Begrifflichkeit bedient (Holocaust, wörtlich "Brandopfer" vs. "Der Brand"), stellt er den alliierten Bombenkrieg auf die gleiche Stufe wie die Vernichtungsorgien der Nationalsozialisten. Damit aber hat er dem Gespann Hitler/Himmler nicht nur britische Verbrechenspartner (Churchill/Harris) beigesellt und den Deutschen die Einsamkeit der Schuld genommen. Er hat im gleichen Atemzug auch die NS-Verbrechen, speziell den Völkermord an den Juden, in ihrer Dimension eingeebnet und entdramatisiert. Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ liegen jedoch Welten zwischen den alliierten Kriegszerstörungen deutscher Städte und der gezielten Vernichtung ganzer Völker aus "rassischen" Gründen.

Fünftens: Spätestens seit dem "Historikerstreit" Mitte der achtziger Jahre sind die Gefahren des Analogisierens sattsam bekannt. Geendet hat er nicht mit einem Verbot des analytischen Vergleichs, der nach wie vor zu den wichtigsten methodischen Instrumenten der Geschichtsforschung gehört und vor dem Nationalsozialismus keineswegs Halt macht. Warnschilder allerdings stellte er dort auf, wo es um implizite oder explizite Gleichsetzungen geht. In der politischen Debatte verfolgen sie gemeinhin den Zweck, ein Phänomen zu dramatisieren. Das trifft auf Friedrichs Buch ebenso zu wie auf die Äußerung des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, der Ende 2002 in der Vermögenssteuerdebatte davon sprach, hier solle Menschen "eine neue Form von Stern" an die Brust geheftet werden. Auch der politisch folgenreiche Vergleich des amtierenden amerikanischen Präsidenten mit Hitler, den die damalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin im gleichen Jahr bemühte, verschrieb sich dieser Logik der Dramatisierung. Dass damit zugleich die Politik des Nationalsozialismus verharmlost wird, scheint vielen Politikern und Publizisten immer noch nicht klar geworden zu sein. Auch hier müssen Historiker stets von neuem Aufklärungsarbeit leisten.

Historisierung versus Moralisierung: auf der Suche nach europäischen Erinnerungsorten



Sechstens: Andererseits spricht die Tatsache, dass sich die Analogiebildung nach wie vor großer Beliebtheit erfreut und in der politischen Rhetorik ihren festen Platz behauptet, entschieden gegen die These, wonach der Nationalsozialismus in den vergangenen Jahren historisiert worden sei und für die Berliner Republik keine Rolle mehr spiele. Diese These lässt nicht nur außer Acht, dass das Thema nach wie vor einen hohen Streit- und Aufmerksamkeitswert verbucht. Sie verkennt darüber hinaus, dass Historisierung nicht zwangsläufig Entaktualisierung bedeutet und schon gar nicht identisch ist mit Entproblematisierung. Den Aufstieg und die Erfolgsbedingungen des Nationalsozialismus aus der Zeit heraus zu erklären, ihn dabei mit anderen Regimen zu vergleichen, um seine Spezifik genauer ermessen zu können - all das ist keine Verharmlosung, Entschuldigung oder Relativierung.

Begreift man Historisierung als Gegenstrategie zur Moralisierung, springen ihre Vorzüge rasch ins Auge. Gehen moralisierende Argumentationen in der Regel von der a priori behaupteten Singularität des Nationalsozialismus aus und verleihen ihm einen dämonischen, der rationalen Analyse letztlich nicht zugänglichen Charakter, beharrt der historisierende Zugriff auf der prinzipiellen Erkennbarkeit seines Gegenstandes. Große Fragen - Wie konnte das geschehen? Warum tun Menschen so etwas? - werden kleingearbeitet, das Monströse in Handlungsketten zerlegt und damit nachvollziehbar. Es wird dadurch keineswegs weniger verwerflich und "abgründig" (Reinhart Koselleck), aber es verliert die Aura des Undurchdringlichen - eine Aura, die dem distanzierenden, kritischen Begreifen alles andere als zuträglich ist und den Nationalsozialismus als das ganz Andere, Fremde mumifiziert und abspaltet. Genau genommen läuft gerade die moralisierende Ausgrenzung darauf hinaus, die Gegenwart zu entlasten und in der vorgeblichen Sicherheit des Korrekten, Guten und Richtigen einzulullen.

Siebtens: Insofern tut Historisierung auch der politischen Debatte gut und stattet sie mit selbstkritischen Obertönen aus. Indem sie auf Kontextualisierungen beharrt, könnte sie auch den aktuellen Streit um ein Zentrum gegen Vertreibungen in sachlichere und zukunftsfähigere Bahnen leiten. Dazu gehört zum einen, die Dynamik von Ursache und Wirkung, die Kausalität, zu betonen und Täter- und Opfererinnerungen zu synchronisieren. Zum anderen fordert die historische Perspektive dezidiert dazu auf, die Vertreibungserfahrung zu europäisieren. Gerade die Erkenntnis, dass "ethnische Säuberungen", wie wir Vertreibung seit den Jugoslawien-Kriegen in den neunziger Jahren nennen, keine exklusive Leidenserfahrung der Deutschen nach 1945 gewesen sind, sondern die gesamte europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts durchziehen, ließe sich dafür nutzen, über gemeinsame europäische Erinnerungsorte nachzudenken. Das könnte Breslau/Wroc|law sein, aber auch Straßburg und Lemberg und andere Städte, die im Zentrum aufgezwungener Migrationen standen.

Das Projekt gemeinsamer europäischer Erinnerungsorte ist kompliziert und überaus voraussetzungsvoll, wie die scharfen Gegenreaktionen in den betroffenen Ländern zeigen. Vielleicht muss noch mehr Zeit vergehen, bis man solche Gemeinsamkeiten annehmen kann. Der beeindruckendste transnationale Erinnerungsort des Ersten Weltkriegs, das Historial de la Grande Guerre in Péronne, ist erst siebzig Jahre nach dem Kriegsende entstanden. Dennoch sollte man daran arbeiten - und damit zugleich ein Stück gelebtes Europa realisieren, anstatt sich in der eigenen Nationalgeschichte einzuigeln und die Schlachten von gestern und vorgestern immer wieder neu zu schlagen.

Aus: Ute Frevert, Der jüngste Erinnerungsboom in der Kritik, in: Interner Link: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/2003

Fussnoten