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Postdigitale Bildungskonzepte in ländlichen Räumen | Digitalisierung auf dem Land | bpb.de

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Postdigitale Bildungskonzepte in ländlichen Räumen

Viktoria Flasche

/ 7 Minuten zu lesen

Die jungen Generationen unterteilen die Welt nicht mehr in "analog" und "digital" - das Digitale ist unhinterfragbarer Bestandteil ihres Alltags. Unsere Gastautorin Viktoria Flasche wirft einen Blick darauf, wie die Situation bei Jugendlichen in ländlichen Regionen aussieht, wo die digitale Infrastruktur mancherorts noch nicht so ausgeprägt ist wie in den Städten.

Eine gute digitale Infrastruktur ist im ländlichen Raum nicht immer gewährleistet – trotzdem gehören Smartphones und Co. in den Alltag der meisten Jugendlichen. (© Elin Tabitha Externer Link: unsplash.com)

Digitale Lebenswelten

Jugendliche wachsen heute selbstverständlich mit und in digitalen Kulturen auf. Ihre Lebenswelten können als "post-digital" bezeichnet werden – wobei die Vorsilbe "post" hier nicht meint, dass die Phase der Digitalisierung schon abgeschlossen wäre. Sie soll vielmehr zeigen, dass wir schon jenseits der Phase sind, in der irgendetwas als explizit digital bezeichnet werden muss.

Strukturen, die sich aus Digitalisierungsdynamiken ergeben haben, prägen heute auch nicht-digitale Lebensbereiche immer schon mit. Das Digitale ist damit insbesondere für Jugendliche eine grundlegende Bedingung ihres Alltages – ein "permanentes Hintergrundrauschen" (Jörissen/Carnap/Schröder 2020)

Post-digitale Bildungsprozesse

Gleichzeitig halten medienpädagogische Konzepte an Begriffen der "Medienkompetenz" oder der "digitalen Souveränität" fest (exemplarisch: Baacke 1997; Blossfeld et al. 2018). Dabei bauen sie auf einem Verständnis auf, das darauf abzielt, mediale Darstellungs- und Kommunikationsverfahren zu entschlüsseln und so die Nutzerinnen und Nutzer zu einem kritisch-distanzierten Umgang mit diesen Medien zu erziehen (Zahn 2021).

Hier bietet es sich an, stärker auf den Begriff der Medienbildung zu setzen, da dieser sich nicht nur auf die Bildung über Medien oder die Bildung mit Medien bezieht, wie sie beispielsweise in E-Learning-Formaten umgesetzt wird. Wenn Bildung die Veränderungen beschreibt, wie Individuen ihre Umgebung (und sich selbst) sehen und Medien die Strukturen dieses Sehens wesentlich bestimmen, dann umschreibt Medienbildung die Welt- und Selbstverhältnisse von Menschen in medial geprägten kulturellen Welten. Medienbildung meint immer mehr als die klassische PC- oder Internet-Schulung im Sinne einer Kompetenzvermittlung, sie ist vielmehr die Ermöglichung spielerisch-erkundender Haltungen, die insbesondere den Umgang mit den Unbestimmtheiten post-digitaler kultureller Phänomene proaktiv aufgreifen. Diese Unbestimmtheiten ergeben sich beispielsweise aus den algorithmischen Entscheidungsprozessen, die den meisten populären Anwendungen zugrunde liegen und für (fast) alle Nutzerinnen und Nutzer weder transparent noch berechenbar erscheinen.

Kritische Distanz kann immer nur eine mögliche, angestrebte Haltung gegenüber digitalen Medien sein und Kritik auch ohne Distanz bzw. im Medium selbst geäußert werden. So bergen Positionen, die unmittelbar mit und in vernetzten medialen Kulturen artikuliert werden, auch das Potenzial, sich ästhetisch mit ihrer eigenen Verwicklung auseinandersetzen zu können. Subversive Parodien und Überschreitungen verweisen beispielsweise spielerisch-kritisch auf Möglichkeiten und Abweichungen. (Flasche/Carnap 2021).

Wie sehen post-digitale Lebenswelten Jugendlicher in ländlichen Räumen aus?

Ländliche Jugendwelten sind – wie die städtischen – grundlegend post-digital verfasst, aber dieses Post-Digitale differenziert sich regional-, bzw. raumtypisch aus. Auch wenn eine räumlich-vereinfachende Perspektive zu kurz greift, ist das Aufwachsen beispielsweise in einem bestimmten Orts- oder Stadtteil nach wie vor alltagsprägend für Jugendliche (vgl. Herrenknecht/Hillig 2015). Für ländliche Räume liegen diesbezüglich aktuell keine aussagekräftigen Daten, sondern nur einzelne Befunde vor: So erleben Jugendliche beispielsweise ein unzureichendes Kultur- und Freizeitangebot als Nachteil einer ländlichen Wohnsituation (Opitz/Pfaffenbach 2018, S. 174). Sie erfahren sich – durch mangelndes Angebot, räumliche, aber auch digitale Unerreichbarkeit – als von der Kommunikation und Öffentlichkeit teilweise ausgeschlossen (Beierle/Tillmann/ Reißig 2016, S. 16).

Aus den Interviews mit pädagogischen Expertinnen und Experten sowie aus Gruppendiskussionen mit Jugendlichen im ländlichen Raum, die im Rahmen des Projektes BiDiPeri geführt wurden, zeichnen sich vorläufig zwei zentrale Problemfelder ab.

Ein erster wichtiger Punkt ist die grundsätzliche Netzanbindung. Die Jugendlichen gehen hier so weit, in Analogie zu "fließendem Wasser" von "fließendem Internet" zu sprechen, dessen Nichtvorhandensein ihren Alltag präge – in dieser Metaphorik ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Netzzugang nicht als Nebensache, sondern als Grundbedürfnis des täglichen Lebens empfunden wird. Für Jugendliche, die in Gemeinden ohne stabiles Netz aufwachsen, besteht die Gefahr, dass – beispielsweise durch die Verlagerung kultureller Angebote ins Netz – bestehende Ungleichheiten gegenüber urbanen Räumen nicht nivelliert, sondern sogar verstärkt werden.

Zweitens weist insbesondere die Auswertung der Expertinnen- und Experten-Interviews darauf hin, dass Jugendarbeit in ländlichen Räumen generell als prekär und bedroht erlebt wird. So muss die finanzielle und/oder infrastrukturelle Ausstattung von Angeboten für Jugendliche vor Ort immer wieder über Projekt- und Förderanträge sichergestellt werden. Solche Analysen knüpfen nahtlos an die von Herrenknecht (Herrenknecht 2000) bereits mit Beginn des Jahrtausends festgehaltenen Befunde zum "massiven baulichen Verschwinden […] jugendlicher Attraktions- und Geheimorte" an (ebd., S 51f.). In Korrespondenz dazu verstehen sich die befragten Expertinnen und Experten vorrangig als "Anwalt oder Anwältin" der Jugendlichen und reagieren auf diese prekäre Lage, indem sie Jugendangebote in besonderer Weise betreuen und vermarkten. Dabei versuchen sie die sogenannte "Bürgeröffentlichkeit" mitzudenken: Denn je kleiner die Gemeinde ist, desto größer ist die Tendenz, Angebote für Jugendliche mehrgenerational zu vernetzen und so nicht nur Sichtbarkeits-, sondern auch Anerkennungsstrukturen herzustellen.

Aus diesen Prozessen geht eine starke mehrgenerationale Eingebundenheit der kulturellen Jugendarbeit hervor, die – so eine vorläufige These – auf den mehr-generationalen Bezug verweist, der von Bätzing (vgl. 2020, S. 44 ff.) als ein zentrales Kennzeichen "des Landlebens" herausgearbeitet wurde. Dabei nimmt die Organisation wiederkehrender und seit Jahrzehnten veranstalteter Feste oder Sommerlager viel Raum ein. Demgegenüber muss sich jedes neue Angebot erst als überhaupt kulturell wertvoll erweisen. Sogar jugendszenische Angebote, die sich explizit von traditionellen Bräuchen und Ritualen abgrenzen und jugendszenetypische Formen oder Netzwerke aufgreifen, bleiben implizit in die jeweilige "Dorfkultur" eingebunden, bzw. auf diese bezogen – so etwa, wenn Jugendliche in einer Graffiti-Aktion selbstverständlich und undiskutiert regionale Codes und Symbole in ihre Bilder mit einbeziehen (Flasche/Jörissen 2021). In dieser eher zyklisch ausgerichteten Logik werden in einzelnen Fällen innovative kulturelle Angebote von und für Jugendliche verhindert oder ausgebremst.

Wie können Ansätze der Medienbildung in ländlichen Räumen wirksam werden?

Vor dem Hintergrund post-digitaler Lebenswelten und im Rahmen einer an Medienbildung orientierten Pädagogik gilt es, diese zyklischen Logiken mit ihren tradierten Anerkennungsprozessen zu durchbrechen. Neue – eher netzwerkförmige – und weniger hierarchische Prozesse in der ländlichen Jugendarbeit können post-digitale Dynamiken stärker aufgreifen.

Erste Ergebnisse des Projekts BiDiPeri verweisen positiv auf Ansätze, die im Sinne eines "Interner Link: Design Thinking" Angebote mit und für Jugendliche entwickeln. Dabei wird kein starres Konzept erdacht und umgesetzt, sondern es werden partizipativ und iterativ – also gemeinschaftlich und mit Hilfe von Wiederholungen – Angebote schrittweise ausprobiert und weiterentwickelt. Dies geschieht in Korrespondenz, aber nicht in Abhängigkeit zu Geräten, digitalen Techniken oder Programmen. Diese aus der Do-It-Yourself- und Maker-Szene entlehnten Strategien, die ursprünglich auch von Techniken des Hackings inspiriert waren, können auf andere Kontexte übertragen und dort innovative Potenziale freisetzen (Kurzeja/Thiele/Klagge 2020). Zentral hierfür ist es, dass sich das Selbstverständnis der Beteiligten wandelt, so dass sie sich nicht mehr als einzeln handelnde Subjekte oder Gruppen verstehen, sondern mehr im Sinne eines Netzwerk-Knotens, der sein Können aus der Vernetzung mit anderen Dingen und Menschen zieht. Dieses Selbstverständnis konkretisiert sich beispielsweise dann, wenn der örtliche Handarbeitsverein mit jugendlichen Cosplayerinnen und -playern vernetzt wird. Das Denken mit und in Netzwerken ist so – im Sinne des Post-Digitalen – nicht unbedingt und unmittelbar an die technische Infrastruktur geknüpft.

Wenn post-digitale Bildungskonzepte nicht auf das Vermitteln von Kompetenzen oder das Entschlüsseln von medialen Techniken abzielen, sondern sich grundlegend mit Selbst- und Weltverhältnissen in immer schon medialen Kulturen auseinandersetzen, dann können gerade mit den oben genannten Ansätzen spielerisch pädagogische Möglichkeitsräume auch in der ländlichen Jugendarbeit eröffnet werden.

Baacke, D. (1997): Medienpädagogik. Tübingen: Niemeyer.

Bätzing, Werner (2020): Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform. München: C.H. Beck.

Beierle, S./Tillmann, F./Reißig, B. (2016): Jugend im Blick – Regionale Bewältigung demografischer Entwicklungen. Abschlussbericht. Deutsches Jugendinstitut e. V. https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/jugendimblick/Abschlussbericht_Final.pdf [08.06.2021].

Blossfeld, H.-P. et al. (2018): Digitale Souveränität und Bildung. Münster: waxmann, https://www.waxmann.com/index.php?eID=download&buchnr=3813 [27.07.2021]

Flasche, V./Carnap, A. (2021): Zwischen Optimierung und ludischen Gegenstrategien - Ästhetische Praktiken von Jugendlichen an der Social Media Schnittstelle. In: Zeitschrift für MedienPädagogik, 40 (Im Erscheinen).

Flasche, V./ Jörissen, B. (2021): Bibliotheken, Digitalisierung und kulturelle Bildung in ländlichen Räumen – Kulturorte im Kontext post-digitaler Jugendkultur. In: Kolleck, N./Büdel, M./ Fobel, L. (Hrsg.): Forschung zu Kultureller Bildung in ländlichen Räumen. Weinheim, Basel: Beltz Juventa (Im Erscheinen).

Jörissen, B./ Schröder, K./Carnap, A. (2020): Postdigitale Jugendkultur: Kernergebnisse einer qualitativen Studie zu Transformationen ästhetischer und künstlerischer Praktiken. In: Timm. S. et al. (Hrsg): Kulturelle Bildung: Theoretische Perspektiven, methodologische Herausforderungen, empirische Befunde. Münster u. New York: Waxmann, S. 61-78.

Kurzeja, M./Thiele, K./Klagge, B. (2020): Makerspaces. Dritte Orte für eine zukunftsfähige (Postwachstums-)Gesellschaft? In: Lange, B. et al. (Hrsg.): Postwachstumsgeografien. Raumbezüge diverser und alternativer Ökonomien. Bielefeld: transkript, S. 159-176.

Herrenknecht, A./Hillig C. (2015): Mobile Jugendarbeit in differenzierten lokalen Sozialräumen. IN: Deutsche Jugend, 63, 3, S. 121-133.

Herrenknecht, Albert (2000): Jugend im regionalen Dorf. In: Deinet, U./Sturzenhecker, B. (Hrsg.): Jugendarbeit auf dem Land. Opladen: Budrich.

Opitz, S./Pfaffenbach, C. (2018): Lebensqualität im ländlichen Raum. Wiesbaden: VS.

Zahn, M. (2020): Ästhetische Praktik als Kritik. In: Dander, V. et al. (Hrsg.): Digitalisierung – Subjekt – Bildung. Opladen: Budrich, S. 213-233.

Weitere Inhalte

Viktoria Flasche ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Kultur und ästhetische Bildung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.