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Nachbarschaftsplattformen – Mehr als ein Geschäftsmodell?

Leonie Meyer

/ 8 Minuten zu lesen

In der Stadt schon recht etabliert, versuchen digitale Nachbarschaftsplattformen auch in ländlichen Räumen Fuß zu fassen. Das birgt Potenziale, erntet aber auch Kritik.

Nachbarschaftsplattformen dienen vor allem der örtlichen Vernetzung für Leihgaben und Verabredungen oder der Verbreitung lokaler Nachrichten. Hinter der digitalen Infrastruktur steht auch ein Geschäftsmodell. (© Riley Edwards Externer Link: unsplash)

Digitale Nachbarschaftsplattformen, das sind soziale Netzwerke, die eine lokale Beschränkung haben und für deren Zugang oftmals ein Beleg notwendig ist, dass man in einer Nachbarschaft wohnt. Sie funktionieren ähnlich wie Facebook und Co., dienen aber vor allem der örtlichen Vernetzung für Leihgaben, Verabredungen oder Verbreitung lokaler Nachrichten. Hinter der digitalen Infrastruktur für die Kontaktaufnahme mit Nachbarinnen und Nachbarn steht allerdings auch ein Geschäftsmodell.

Welche Nachbarschaftsplattformen gibt es?

Die größte deutsche nachbarschaftliche Vernetzungsplattform ist nebenan.de. Seit 2015 wird sie vom Berliner Unternehmen Good Hood GmbH betrieben. Aktuell verzeichnet sie 2,5 Millionen Nutzende, die in verschiedenen Rubriken wie "Marktplatz", "Beiträge" und "Veranstaltungen" miteinander kommunizieren. Für die Registrierung müssen Nutzerinnen und Nutzer zunächst ihren Klarnamen und ihre Adresse angeben. So soll sichergestellt werden, dass nur Menschen aus der Nachbarschaft miteinander in Kontakt treten können.

Neben Profilen für Privatpersonen gibt es auch solche für Gewerbetreibende. Letztere wirbt nebenan.de unter anderem mit der Aussicht auf einen kostenlosen Webauftritt und einem direkten Draht zur Kundschaft an. Laut eigenen Aussagen erzielt nebenan.de zum aktuellen Zeitpunkt keine Gewinne. Anfallende Kosten werden durch Gewerbeprofile, freiwillige Förderbeiträge von Nutzenden, Werbung, Kooperationen mit Städten und gemeinnützige Organisationen, die für eine größere Reichweite bezahlen, gedeckt. Außerdem investierten bereits namhafte Investoren in nebenan.de, etwa die Burda GmbH, die seit 2020 die meisten Anteile an Good Hood besitzt.

Ähnlich funktioniert die Nachbarschaftsplattform Nextdoor, die 2011 zunächst in den USA startete und mittlerweile in elf Ländern verfügbar ist. Seit 2017 ist das Netzwerk auch in Deutschland nutzbar. Laut Website möchte die Plattform Nachbarschaften und Organisationen zusammenbringen und beansprucht dabei nichts Geringeres für sich, als "eine freundlichere Welt [zu] schaffen". Die ökonomischen Anreize für Unternehmen werden von Nextdoor zwar benannt - dass Nextdoor selbst gewinnorientiert arbeitet und personenbezogene Daten ihrer Nutzerinnen und Nutzer zu Werbezwecken an Dritte weitergibt, wird dabei jedoch nicht klar kommuniziert. Die Plattform wird unter anderem durch millionenschwere Investitionen finanziert.

Etwas anders ist etwa die gemeinnützige Plattform wirhelfen.eu aufgezogen, die im Zuge des ersten Corona-Lockdowns von der Rapid Peaks GmbH geschaffen wurde. Selbstformuliertes Ziel der Online-Plattform war es, Hilfesuchende und Helfende zusammenzubringen. Aktuell verzeichnet "Wirhelfen" etwa 90.000 Nutzerinnen und Nutzer. Beim Hochwasser in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen im Juli 2021 entstand zusätzlich die Plattform flut.wirhelfen.eu, über die private Hilfsaktionen organisiert wurden. Das Team hinter "Wirhelfen" hat selbst Aktionen koordiniert und dabei mit öffentlichen Akteuren wie Feuerwehrgruppen zusammengearbeitet. Ihr langfristiges Ziel ist es, eine zentrale Anlaufstelle für Unternehmen, Vereine und öffentliche Institutionen zu werden. Noch ist die Plattform keine klassische Nachbarschaftsplattform, könnte es mit Blick auf dieses Vorhaben allerdings in Zukunft werden.

Datenschutz und Datenökonomie der Plattformen

Wie bei allen sozialen Plattformen spielen auch bei nachbarschaftlichen Vernetzungsplattformen die Themen Datenschutz und Datenökonomie eine Rolle. Eine Besonderheit der Nachbarschaftsplattformen ist die verbreitete Klarnamenpflicht. Auch müssen Nutzende ihre Anschrift angeben – andere soziale Netzwerke erfordern dies in der Regel nicht.

Hannes Federrath, der an der Universität Hamburg zu Datenschutz forscht, verweist in Bezug auf Nachbarschaftsplattformen darauf, dass Nutzende digitaler Plattformen grundsätzlich darauf achten sollten, welche Daten sie preisgeben möchten. Spezifische Empfehlungen für Nachbarschaftsplattformen in Abgrenzung zu anderen sozialen Netzwerken habe er nicht. Auch glaubt er, dass die Sensibilität für den Schutz persönlicher Daten in den letzten Jahren stark zugenommen habe. Die Verbraucherzentrale Niedersachsen geht des Weiteren davon aus, dass die Daten der Nutzenden auf Nachbarschaftsplattformen grundsätzlich sicher sind. Die Plattformen seien der DSGVO verpflichtet.

Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass bei Nutzenden durch die Lokalität ein subjektives Sicherheitsgefühl entstehen könnte, was zum Teilen privater Daten verleiten könnte. Auch wenn der Anschein eines geschützten Raumes erweckt wird, sollte die Weitergabe sensibler Informationen vermieden werden.

Jonas Pentzien, stellvertretender Forschungsfeldleiter am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW), sieht einen Grundkonflikt der Datenökonomie digitaler Plattformen darin, dass deren Betreiber zwar das Sammeln und Auswerten von Userdaten als Geschäftsmodell etabliert hätten, den Nutzerinnen und Nutzern jedoch keinerlei Mitspracherecht über die Verwendung ihrer Daten zugestehen würden. Mit dem Plattform-Kooperativismus sei in den letzten Jahren eine Art Gegenbewegung entstanden, die genau diese Eigentumsfrage in den Fokus rückt, so Pentzien. So gehe es den Akteuren dieser Bewegung darum, genossenschaftliche Prinzipien in die Plattformökonomie zu übertragen: kollektives Eigentum und demokratische Entscheidungsfindung. Das propagierte Ziel: die User werden selber zu Besitzerinnen und Besitzern der Plattformen – und können somit auch über die geltenden Regeln und die Verwendung ihrer Daten mitbestimmen, so Pentzien. Die Hoffnung sei, dass hierdurch auch die Nachhaltigkeitspotenziale der Plattformökonomie gestärkt werden könnten.

Eine genossenschaftliche Ausrichtung garantiert jedoch noch keine Gemeinwohlorientierung. Ob eine Plattform mit ihrem Geschäftsmodell tatsächlich zum Gemeinwohl beiträgt, müsse Jonas Pentzien zufolge nicht an der Rechtsform, sondern am tatsächlichen Outcome bemessen werden. Im Kontext von Nachbarschaftsplattformen würde das beispielsweise folgende Fragen in den Fokus rücken: Ermöglicht die Plattform neue soziale Bindungen? Werden gesellschaftliche Teilhabepotenziale erschlossen? Begünstigt die Nutzung der Plattform ressourcenschonende Lebensweisen? Eine primär auf die Inwertsetzung von Nutzerinnendaten abzielende Plattform sei Pentzien zufolge nur schwerlich als gemeinwohlorientierte Plattform zu bezeichnen.

Plattformlogiken

Es gibt verschiedene Effekte, die bei Nutzerinnen und Nutzern sozialer Netzwerke Abhängigkeiten erzeugen. Insbesondere große Plattformen profitieren von diesen Effekten, sodass ein Anreiz für sie entsteht, möglichst viele Menschen als User zu gewinnen. Es gibt etwa die sogenannten Netzwerkeffekte, die bewirken, dass Plattformen mit steigender Anzahl an Nutzenden attraktiver werden, weil die Netzwerke potenzieller Nutzerinnen und Nutzer mit höherer Wahrscheinlichkeit abdeckt werden. Skaleneffekte beschreiben, dass aufgrund hoher Userzahlen, die Kosten pro User für die Betreibenden abnehmen. Konkret spiegelt sich das zum Beispiel darin wider, dass größere Plattformen mehr Userdaten zur Verfügung haben, durch die sie einen besseren Einblick in die Bedürfnisse der Nutzenden gewinnen können. Darüber hinaus gibt es die sogenannten Lock-In-Effekte, die dafür sorgen, dass Nutzende nicht zu anderen Plattformen wechseln, da ein Plattformwechsel verschiedene Unannehmlichkeiten bereiten würde.

Doch wie lassen sich digitale Nachbarschaftsplattformen hier verorten? Kulturwissenschaftler Michael Seemann weist darauf hin, dass bei digitalen Nachbarschaftsplattformen vor allem lokale Netzwerkeffekte auftreten. Das bedeutet: Für Nutzerinnen und Nutzer ist es zunächst irrelevant, wie viele User die Plattform insgesamt umfasst. Lediglich die Abdeckung in der eigenen Nachbarschaft wirkt sich auf die Attraktivität der Plattform aus. Hier unterscheidet sich die Dynamik also von anderen Social-Media-Plattformen, bei denen internationale, finanzstarke Player besonders profitieren. Vorteile für größere Nachbarschaftsplattformen bestünden allerdings an anderer Stelle, wenn es etwa darum geht, eine Zusammenarbeit mit Kommunen und lokalen Verwaltungen zu verhandeln. In solchen Fällen schreibt Seemann größeren Plattformen eine höhere Verhandlungsmacht zu.

Kommunale Anwendung

Ein Beispiel für eine Zusammenarbeit zwischen einer Kommune und einer Nachbarschaftsplattform lässt sich im niedersächsischen Meyenburg finden. Der Ortsbürgermeister Dominik Schmengler hat "Nebenan" vor Ort etabliert und wirbt sogar auf nebenan.de für die Plattform. Schmengler suchte schon eine Weile nach einer Kommunikationsplattform für seine Gemeinde, als er 2017 zufällig auf nebenan.de stieß. Digitale Vernetzungsversuche über Messenger und etablierte soziale Netzwerke hatten ihn nicht überzeugt, und auch eine klassische Website stellte sich als ungeeignete Option heraus – diese sei zu aufwendig in der Pflege. Dennoch sei eine digitale Plattform für seinen Ort notwendig gewesen, weil traditionelle Räume des regelmäßigen Zusammenkommens, wie etwa die Sonntagsgottesdienste in der Kirche, an Relevanz verloren hätten. Aus diesem Grund nutzen er und zahlreiche Bewohnerinnen und Bewohner Meyenburgs nun die Nachbarschaftsplattform zum Teilen lokaler Nachrichten und von Veranstaltungsinformationen.

Probleme in der digitalen Nachbarschaft habe es erst einmal gegeben: ein Bewohner hatte das Portal für eine politische Auseinandersetzung zum Thema Corona genutzt. Eine grundsätzliche Schwäche sehe Schmengler jedoch nicht – auf Facebook gebe es diese Art von Konflikten schließlich im Sekundentakt. Auch die Kritik an der Finanzierung von Nachbarschaftsplattformen über Werbung lokaler Betriebe kann er nicht nachvollziehen – stattdessen bezeichnet er dies sogar als "charmant".

Einordnung aus der Perspektive der Nachbarschaftsarbeit

Dass nachbarschaftliche Vernetzung Potenziale bietet, ist spätestens seit der Corona-Pandemie offenkundig. Zahlreiche Hilfsbereite boten an, für Nachbarinnen und Nachbarn, die Risikogruppen angehören, einzukaufen oder auf andere Weise zu unterstützen. Doch welchen Vorteil bieten hierbei digitale, privatwirtschaftliche Angebote?

Soziologe und Gemeinwesensarbeiter Armin Kuphal sieht den Vorteil digitaler Kommunikationsmittel in der Nachbarschaftsarbeit darin, dass diese eine niedrigschwellige Form der Kontaktaufnahme ermöglichen. Die Hemmschwelle, jemanden von Angesicht zu Angesicht anzusprechen und um Hilfe zu bitten, sei analog einfach größer als im Digitalen. Elizabeth Calderón Lüning vom Weizenbaum-Institut hat einen anderen Blick auf digitale Nachbarschaftsarbeit: Sie begrüßt den Einsatz digitaler Technologien zwar grundsätzlich, möchte jedoch für die digitale Spaltung zwischen den Generationen sensibilisieren. Ältere Menschen seien in der Regel weniger digital affin und somit von der Nutzung digitaler Nachbarschaftsplattformen ausgeschlossen – dabei sei es gerade Aufgabe von Nachbarschaftsarbeit, diese Menschen aufzufangen.

Armin Kuphal hingegen glaubt nicht, dass digitale und analoge Vernetzungsinitiativen einander ausschließen oder in Konkurrenz zueinanderstehen. Kommerziellen Nachbarschaftsplattformen steht er dennoch kritisch gegenüber. Kuphal befürchtet: "Bei Nachbarschaftsplattformen geht es eigentlich nicht um gute Nachbarschaft, sondern um gutes Geld." Er sieht die Gefahr von Nachbarschaftsplattformen darin, dass aus dem Bedürfnis von Menschen nach Nähe ein Geschäft gemacht wird, indem Plattformbetreibende und Werbepartner die Plattformen nutzen, um ihre lokale Kundschaft kostengünstig anzusprechen.

Auch Calderón Lüning bemängelt, dass die Betreibenden von Vernetzungsplattformen in den meisten Fällen private Unternehmen seien. Sie glaubt: "Wenn wir Technologien für unsere Bedürfnisse entwickeln würden, dann würden diese anders aussehen, als wenn sie für die Bedürfnisse von Firmen entwickelt werden". Eine komplette Abkehr von den etablierten Plattformen fordert sie dennoch nicht. Stattdessen wünscht sie sich, dass Netzwerke untereinander kompatibel und interoperabel würden, sodass kleinteilige Funktionen, die den lokalen, nachbarschaftlichen Anforderungen entsprechen, implementiert werden könnten.

Fazit

Im Zeitalter der Plattformen sind der intransparente Umgang mit Daten und deren kommerzielle Weiterverarbeitung so sehr zum Alltag geworden, dass diese von einem Großteil der User meist unkritisch hingenommen werden. Der praktische Nutzen der Plattformen und die damit einhergehenden Plattformeffekte stechen im Alltag die negativen Aspekte der Datenökonomie aus. Auf kommunaler Ebene sollte der Anspruch an (Nachbarschafts-)Plattformen aber ein anderer sein – insbesondere, wenn öffentliche Gelder in die Implementierung vor Ort fließen. Darüber hinaus gilt: Kommerzielle Plattformen sind nicht alternativlos. Modelle wie der Plattform-Kooperativismus zeigen, dass es durchaus anders gehen kann. Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt deutlich, dass die öffentliche Infrastruktur langfristig nicht ohne Plattformen auskommt. Aus diesem Grund kann es sinnvoll sein, wenn öffentliche Träger zukünftig offene und kooperative Angebote fördern oder schaffen – gerade für die Vernetzung in der Kommune oder Nachbarschaft.

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Leonie Meyer ist Redakteurin für werkstatt.bpb.de. Daneben studierte sie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn im Master Politikwissenschaft. Ihr thematischer Schwerpunkt liegt auf den Wechselwirkungen von Sozialen Netzwerken und Politik bzw. politisch-historischer Bildung.