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„Es muss nur eine Geschichte von Hongkonger:innen sein, dann ist es ein Hongkong-Film“ Interview mit Regisseurin Erica Kwok

Karen Cheung

/ 8 Minuten zu lesen

Welchen Einfluss hat das "Gesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit in Hongkong" auf das Hongkonger Filmschaffen? Nachdem das Gesetz 2020 in Kraft trat, drehte Regisseurin Erica Kwok noch drei Kurzfilme in der Stadt. Im Interview erzählt sie, wie jeder der Filme von dem neuen Sicherheitsgesetz anders betroffen war und warum sie inzwischen in Berlin lebt.

Portraitfoto der Hongkonger Regisseurin Erica Kwok (© Erica Kwok)

Erica Kwok (郭頌儀) ist Filmregisseurin und gebürtige Hongkongerin. Sie hat Creative Media an der City University of Hongkong mit Kunst in Neuen Medien als Hauptfach studiert. Ihr Hauptinteresse gilt dem Kurzfilm und narrativen Bewegtbildformaten. Nach ihrem Uniabschluss verantwortete sie bei fünf Kurzfilmen Regie und Drehbuch, inklusive eines Beitrags zur RTHK-Fernsehproduktion Minor than Nothing und einer Co-Regie bei einem Hongkong-taiwanisch koproduzierten Kurzfilm. Ihre Filme sind von eigenen Lebenserfahrungen stark geprägt; meist schildern sie Frauenschicksale oder sind Coming-of-Age-Geschichten, in denen Figuren Existenz- oder Identitätskrisen durchleben.



Karen Cheung: Nach der Einführung des Hongkonger Sicherheitsgesetzes haben Sie noch drei Kurzfilme in Hongkong gedreht. Jeder der Filme war von dem Sicherheitsgesetz in unterschiedlicher Weise betroffen. Wie verlief die Entstehungsgeschichte von The Dancing Voice of Youth (與亂世共舞)?

Gesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit in Hongkong

Am 30. Juni 2020 verkündete die Hongkonger Regierung das Inkrafttreten eines neuen Sicherheitsgesetzes. Das „Gesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit in Hongkong“ oder „Chinesische Sicherheitsgesetz für Hongkong“ (zu unterscheiden von dem Chinesischen Sicherheitsgesetz, das auf dem Festland Anwendung findet) sieht hohe Strafen für zahlreiche Vergehen wie "Abspaltung", "Subversion", "terroristische Aktivitäten" und die "Zusammenarbeit mit ausländischen Mächten zur Gefährdung der nationalen Sicherheit" vor. Von kritischen Stimmen wurde es als Einschränkung der Grundrechte in Hongkong verurteilt. Durch ungenaue Formulierungen im Gesetzestext obliegt es letztlich der Justiz, wer sich wodurch strafbar macht. Das Sicherheitsgesetz war zuvor weder vor dem LegCo (Legislativrat von Hongkong) zur Prüfung gekommen noch durch ihn zugelassen worden und wird von vielen als Bruch mit der 1984 vereinbarten Chinesisch-britischen gemeinsamen Erklärung zu Hongkong betrachtet.

Am 5. November 2021 wurde auch das Verfahren zur Freigabe von Filmen im Nachspiel des Sicherheitsgesetzes angepasst. Für die Freigabe von Filmproduktionen zuständige Beamt:innen haben seitdem zu überprüfen, ob ein im Kino anlaufender Film nicht etwa Inhalte enthält, die sich nachteilig auf die staatliche Sicherheit auswirken könnten.

Seitdem das Hongkonger Sicherheitsgesetz in Kraft getreten ist, können die meisten Filme über die pro-demokratische Protestbewegung von 2019, wie die Dokumentarfilme Blue Island (憂鬱之島, Chan Tze-Woon, HK 2022) oder Revolution of our Times (時代革命, Kiwi Chow, HK 2021), nicht im Kino gezeigt werden.

Interner Link: Mehr Informationen über das Gesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit in Hongkong

Erica Kwok: 2020, also kurz nach Interner Link: der prodemokratischen Protestbewegung und zu Zeiten der Corona-Pandemie, erhielt ich von der HK Literary Criticism Society die Einladung, einen Film zu drehen, der später den Titel The Dancing Voice of Youth bekommen sollte. Die HK Literary Criticism Society wird aus dem Budget des Hong Kong Arts Developments Council bestritten, das zur Stadtregierung Hongkongs gehört. Weil gewünscht war, in Pandemiezeiten etwas zu zwischenmenschlicher Interaktion zu drehen, arbeitete ich einen Fragenkatalog aus, den ich fünf jungen Menschen stellte. Inhaltlich kreisten die Interviewfragen hauptsächlich um die Wahrnehmung der chaotischen Zeiten. Die Antworten spiegelten eine sehr abstrakte Wahrnehmung wider, weshalb ich die Zusammenarbeit mit einem Choreographen aufnahm, um die Ergebnisse der Befragung in das Medium Tanz zu überführen.

Nachdem der Schnitt von The Dancing Voice of Youth fertig war, wurde er 2021 an zwei Orten, dem Hong Kong Institute of Contemporary Culture und in der Jao Tsung-I Academy jeweils einmal gezeigt. 2022 wurde der Film dann für das unabhängige Kurzfilmfestival des ifva Hong Kong Arts Centre ausgewählt. Die amtliche Überprüfung für eine Vorführgenehmigung nahm dieses Mal fünf ganze Monate Zeit in Anspruch. Im Mai 2022 verlangte das Hongkonger Office for Film, Newspaper and Article Administration dann, dass zwei Sequenzen aus dem Film herausgeschnitten werden.

Die erste Stelle betrifft die Interviews mit den fünf Personen zu ihrer Wahrnehmung der chaotischen Zeit. Einer der Befragten spricht dabei über seine Ansichten zu der Pandemie; er findet, dass die Regierung die Pandemie missbrauche, um Zusammenkünfte und Aktivitäten der Protestbewegung zu bremsen. Das Hongkonger Office for Film, Newspaper and Article Administration gab als Grund für die Zensur der Stelle an, dass überzeugende Argumente für dieses Statement fehlen, dass dort eine absichtliche Irreführung mit hineinspielt und dass Zuschauende so fälschlich annehmen müssten, die Hongkonger Regierung mache sich die Pandemie-Politik zunutze, um Demonstrant:innen auszubremsen, zu unterdrücken und vor weiteren Aktivitäten abzuschrecken.

Die zweite Stelle betrifft den gesprochenen Satz: „Auch wenn ich Schnittwunden am ganzen Körper habe, bleibt mir nur, mit aller Kraft Widerstand zu leisten, mit aller Kraft zu tanzen“ (縱使遍體鱗傷,也只能盡力抵抗,盡全力起舞). Da verlangte die Regierungsstelle, dass der dazugehörige englische Untertitel „I resist the unjust rules“ verschwindet.

Ich lehnte ab, diese Sequenzen zu streichen: Mit den Kürzungen würde man im Grunde Richtiges entfernen. Obwohl es die Handlung nicht über die Maßen berührt und Ereignisse davor und danach nicht beeinträchtigt, denke ich, dass, wenn ich einem Streichen der Stellen zugestimmt hätte, ich zu einem gewissen Grad ihre Anschuldigungen anerkannt und auch ihrer Aussage zugestimmt hätte, der geäußerte Standpunkt sei ungerechtfertigt. Weil ich dieser Aussage nicht zustimme, lehne ich die Streichungen ganz klar ab.

KC: Wegen dieser Reaktion durfte der Kurzfilm seitdem in Hongkong nicht mehr gezeigt werden. Wie lief es bei den nächsten beiden Filmen, April's Interlude (四月的變奏) und 27 (廿七)?

EK: Zwar durften sie letztendlich beide gezeigt werden, trotzdem lief es auch hier nicht reibungslos. Als ich die Kurzfilme April's Interlude und 27 drehte, machte ich mir wegen des Sicherheitsgesetzes noch gar keine Gedanken. Als die beiden Filme abgedreht waren, habe ich sie, und da war es bereits Februar 2022, zur Prüfung eingereicht.

April's Interlude ist ein Projekt, das vom Goethe-Institut ausging. Dafür drehten vier Filmschaffende jeweils einen Kurzfilm. Jeder und jede reichte für sich ihren Film beim Hongkonger Office for Film, Newspaper and Article Administration zur Prüfung ein. Bei April's Interlude dauerte es zweieinhalb Monate, bis der Brief mit der amtlichen Genehmigung kam. Die später eingereichten Filme aus dem Projekt bekamen ihre Vorführgenehmigung viel schneller, teilweise schon nach zwei Wochen. Danach habe ich täglich bei der Behörde angerufen, um nach dem Stand der Bearbeitung zu fragen. Jedes Mal bekam ich dieselbe Antwort: „Wegen der derzeitigen Pandemie sind wir noch nicht zu den gewohnten Arbeitszeiten zurückgekehrt. Deswegen haben wir mit dem Genehmigungsverfahren ihres Films noch nicht begonnen.“ Damals hielt ich die Begründung für eine Ausrede: Warum musste nur mein Film noch auf seine Bewilligung warten? Aber nachdem The Dancing Voice of Youth nicht mehr gezeigt werden durfte, wurde mir klar, wie sehr mich das Sicherheitsgesetz und die immensen Veränderungen in Hongkong beeinträchtigten.

Erica Kwok und ihr Kameramann am Set des Kurzfilms 27 (© Erica Kwok)

Kurz bevor ich die Stadt verließ, drehte ich einen letzten Film in Hongkong: 27 ist ein Kurzfilm, den ich mit der finanziellen Unterstützung vom Hong Kong Arts Developments Council realisierte. Nachdem ich das Geld erhalten hatte, musste ich an einem juristischen Workshop zum Sicherheitsgesetz teilnehmen, und eine Einverständniserklärung unterschreiben, dass ich eine Vortragsreihe besuche, anderenfalls wäre die Unterstützung wieder gestrichen worden. Die Vorträge wurden dann per Zoomsitzung gehalten. Alle Teilnehmenden schalteten ihre Kamera aus, deshalb kam es mir wie eine rein symbolische Arbeit vor.

KC: Der Independent Film in Hongkong ist größtenteils auf staatliche Förderung angewiesen. Die Fördergelder stammen meist von der Hongkonger Regierung oder dem Hong Kong Arts Developments Council. Inwiefern haben diese auch inhaltliches Mitspracherecht bei neuen Projekten?

EK: Sobald du Förderung erhalten hast, bist du gezwungen, Kompromisse einzugehen. Bei Förderung vom Arts Developments Council oder durch andere von der Hongkonger Regierung finanzierte Stellen ist seit Inkrafttreten des Sicherheitsgesetzes noch mehr zu berücksichtigen. Selbst bei einem Thema wie beispielsweise soziale Ungerechtigkeit werden schöpferische Freiheiten immer mehr eingeschränkt. Oder mal angenommen, ich hätte jetzt ein neues Projekt, das das Wegziehen der Hongkonger:innen aus ihrer Stadt, das Zeitalter der Abwanderung, beschreibt. Da bräuchte ich mir in Hongkong keinen Kopf über eine Förderung zu machen, das würde nichts werden.

KC: Warum sind Sie 2022 schließlich nach Deutschland gezogen?

EK: Ich bin immer noch der Hoffnung, dass ich unabhängig eigene Werke umsetzen kann. Ich finde einfach, wenn es in Hongkong immer so weiter geht, ist das für mich keine Lösung mehr. Die immer schwieriger werdenden Auseinandersetzungen mit den verschiedenen Behörden sagen mir, dass ich andere Wege beschreiten muss.

Ich drehe, seit ich in Berlin bin, weiterhin eigene Filme. Vielleicht, weil mich das Verlassen der Hongkonger:innen ihrer Heimatstadt gegenwärtig selber betrifft und allgegenwärtig ist, möchte ich als nächstes einen Film drehen, der von Frauen handelt, die allein im Ausland leben. Im Vergleich zu England gibt es in Berlin sehr wenige Hongkonger:innen. Deswegen empfinden die Leute sie hier wohl eher als Ballast, als das in England der Fall ist. Durch die Hongkonger Community in Berlin konnte ich zahlreiche Geschichten sammeln, die mich beim Schreiben inspirieren.

KC: Andere Filmschaffende berichten von Auswirkungen des Sicherheitsgesetzes auch auf Übersee-Hongkonger:innen. Manche Expats haben beispielsweise Angst, sich filmen zu lassen. Jetzt wo Sie nicht mehr in Hongkong leben, verspüren Sie weiterhin den Einfluss des Sicherheitsgesetzes?

Erica Kwok am Set der dritten Episode der Serie MINOR THAN NOTHING (© Erica Kwok)

EK: Neben der Arbeit als Filmschaffende organisiere ich noch das „Hong Kong Kino Berlin“ mit, bei dem wir in Hongkong verbotene Filme, beziehungsweise die niemals eine Vorführgenehmigung erhalten würden, nach Deutschland holen und dem hiesigen Publikum zeigen. Bei der Filmsuche bemerke ich immer wieder, wie sehr das Sicherheitsgesetz inzwischen den Stil der jungen Filmschaffenden beeinflusst. Viele Werke sind zunehmend abstrakt. Zum Beispiel ist da ein fünf minütiger Film, in dem es eigentlich nur darum geht, dass viele Menschen vor einem Wasserspender Schlange stehen und Wasser trinken. Erst, als ich die Beschreibung des Films las, merkte ich, dass der Regisseur auf die Protestbewegung von 2019 anspielt, in der alle immer sagten, man solle „wie Wasser“ sein („Be Water“), also ohne Führungsperson, ohne Team in verschiedenen Zustandsformen innerhalb der Protestbewegung fließend existieren.

KC: Der Unterschied zwischen dem Chinesischen Sicherheitsgesetz für Hongkong und dem für Festlandchina ist, dass es keine örtliche Begrenzung gibt. Auch wenn man im Ausland lebt, läuft man Gefahr, sich im Sinne des Hongkonger Sicherheitsgesetzes strafbar zu machen. Deshalb haben Menschen, die sich außerhalb der Grenzen Hongkongs aufhalten, nicht unbedingt mehr Meinungsfreiheit als solche, die in Hongkong bleiben. Die Regisseurin von Comrades (手足) Kanas Liu sagte, es gäbe einige im Ausland ansässige Hongkonger Filmschaffende, die aus Sorge, mit dem Sicherheitsgesetz in Konflikt zu kommen, Interviews zu ihren Filmen absagen. Haben Sie vergleichbare Erfahrungen gemacht?

EK: Ich habe festgestellt, dass das Sicherheitsgesetz auch die Filmauswahl und die Arbeit von Kurator:innen beeinflusst. Als mein Film 27 zu einem Filmfestival in Paris eingeladen wurde, das von Auslands-Hongkonger:innen veranstaltet wird, erklärten sie mir lang und breit alles über die Hintergründe des Festivals. Der Grund war, dass einige der Regisseur:innen, die kommerzielle Filme drehen, sehr besorgt waren, das Festival könnte in irgendeiner Form eine politische Ausrichtung haben, die sich für sie negativ auswirken könnte.

KC: Jetzt wo Sie im Ausland leben, wie blicken Sie auf Hongkong?

EK: Jedes Mal, wenn ich zurück in Hongkong bin, spreche ich mich mit meinen Freund:innen vor Ort über kürzliche Veränderungen und die Lage in der Stadt aus. Durch das Sicherheitsgesetz kommt es tagtäglich zu politischen Verfolgungen. Seitdem die politische Situation so deprimierend geworden ist, finden meine Freund:innen, sie leben nur noch von einem Tag auf den nächsten, ohne jegliche Motivation, ohne Ziel. Deswegen kann man sie auch nicht mehr aus der Reserve locken. Es gibt nichts mehr, das sie motiviert.

KC: Angesichts des Sicherheitsgesetzes, der Abwanderungswelle, und der ständigen Diskussionen um Identität, auch bei Dreharbeiten in Übersee: Wie steht es um den Hongkonger Film heute?

EK: In Hongkong gibt es noch sehr viele Film- und Kunstschaffende, die auch weiterhin eigene Werke hervorbringen, die strittigen Themen in Hongkong ihre Aufmerksamkeit schenken, oder die es brennend interessiert, wie Hongkong sich weiterentwickeln wird.

KC: Gleichzeitig erlebt Hongkong gerade seine bisher größte Immigrationswelle. Seit Inkrafttreten des Sicherheitsgesetzes ist der Wanderungssaldo angestiegen auf 300.000 Kopf pro Jahr. Das ist eine größere Abwanderungsbilanz, als um die Jahre 1989, 1997, 2003 und 2014 [entspricht jeweils den Jahren des Interner Link: Tian’Anmen-Massakers, Interner Link: der Machtübergabe an die Volksrepublik China, von Massenprotesten gegen ein früheres Sicherheitsgesetz und der sogenannten Regenschirm-Bewegung (Anm.d.Red.)]. Was ziehen Sie aus dieser Entwicklung?

Erica Kwok (r.) mit einer Darstellerin am Set des Kurzfilms HUMAN ERROR (© Erica Kwok)

EK: Ich denke, dass Hongkonger:innen zurzeit damit beginnen, nach anderen Lebensentwürfen zu suchen. Aber auch die Folgegeneration der Eingewanderten, die Deutschhongkonger:innen, haben ihre speziellen eigenen Geschichten. Ich habe momentan ziemlich Lust darauf, diese Lebensläufe zu erforschen. Es muss sich nur um eine Geschichte von Hongkonger:innen handeln, dann ist es auch ein Hongkong-Film.

Übersetzung aus dem Kantonesischen: Martina Hasse

Fussnoten

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Karen Cheung ist eine Produzentin, Kuratorin und Forscherin aus Hongkong. Zu den von ihr kuratierten Filmprogrammen gehören The Waves of Freedom (2023, Berlin), Programm 6 beim Experiments in Cinema (2023, New Mexico), Voices of the Ground: Short Film in Chinese languages (2021, Berlin) und das Berlin Hong Kong Independent Film Festival (2019).