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"Man reduziert soziale Probleme auf demografische" | Demografischer Wandel | bpb.de

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"Man reduziert soziale Probleme auf demografische"

Christoph Butterwegge

/ 6 Minuten zu lesen

Die Politik rede demografische Probleme herbei, sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Nicht die aktuelle Bevölkerungsentwicklung sei das Problem, sondern fehlende soziale Gerechtigkeit. Butterwegge fordert, das Renteneintrittsalter nicht anzuheben, mehr Geld in die Bildung zu investieren und eine Bürgerversicherung.

In der Debatte um die Zukunft der Rente fühlen sich viele der jüngeren Arbeitnehmer doppelt belastet. Aber geht es um Generationengerechtigkeit? Oder vielmehr um soziale Gerechtigkeit - unabhängig vom Alter? (© dpa)

bpb.de: In Deutschland sehen wir zwei anhaltende Trends, nämlich eine relativ niedrige Geburtenrate und eine steigende Lebenserwartung. Zugespitzt formuliert: Wir werden weniger und wir werden immer älter. Ist das schlimm?

Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler und Armutsforscher (© Privat)

Christoph Butterwegge: Nein, denn die Alterssicherung ist weniger eine Frage der Demografie oder der Biologie als eine Frage der Ökonomie und der Politik: Wie groß ist der gesellschaftliche Reichtum und wie verteilt man ihn auf die verschiedenen Alters- und Bevölkerungsgruppen? Wenn der erwirtschaftete Reichtum wächst und die Bevölkerung schrumpft, ist für alle mehr da. In unserer Gesellschaft verläuft die soziale Scheidelinie nicht zwischen Jung und Alt, sondern mehr denn je zwischen Arm und Reich.

In der Öffentlichkeit ist schon seit längerer Zeit die Rede von einer schrumpfenden Bevölkerung. Nach der deutschen Vereinigung hat man eine aussterbende Gesellschaft an die Wand gemalt. Doch die Bevölkerung ist durch Zuwanderung, aber auch durch wieder steigende Geburtenraten heute höher als zum Beispiel 1990.

Aber langfristig schrumpft die Bevölkerung. Auch wenn die Geburtenrate zuletzt leicht gestiegen ist, liegt sie unter 2,1 Kindern pro Frau. Das ist die Marke, damit eine Bevölkerung gleich groß bleibt.

Die Bundesrepublik ist ein attraktives Zuwanderungsland, auch für Menschen aus anderen EU-Ländern. Würde man eine weniger restriktive Migrations- und Asylpolitik machen, wäre das Problem einer schrumpfenden Gesellschaft für immer aus der Welt. Ich sehe als Hauptproblem in unserer Gesellschaft, dass über die Steuerpolitik dafür gesorgt wird, dass sich der Reichtum in immer weniger Händen konzentriert und darauf kaum noch Steuern erhoben werden. Zugleich fehlt das Geld an allen Ecken und Enden: in Kitas, in Schulen ebenso im Pflegebereich. Es mangelt überall da, wo es um die öffentliche Daseinsvorsorge geht – und dazu zählt in einem weiteren Sinn eben auch die Rente.

Die Demografie wird hier als Mittel der sozialpolitischen Demagogie genutzt. Man reduziert soziale Probleme auf demografische. Zukunftsängste werden bestärkt, anstatt politisch zu gestalten und zum Beispiel über Einwanderung dafür zu sorgen, dass sich die Bevölkerungsentwicklung positiv gestaltet. Ein schrumpfendes Volk, eine aussterbende Gesellschaft oder auch eine Gesellschaft, der die Arbeit ausgeht, ist die Bundesrepublik Deutschland jedenfalls nicht.

Dennoch zeichnet sich ein Problem ab. Wir haben ab 2025 eine historische Situation: Dann nämlich gehen die sogenannten Babyboomer in Rente. Das sind die geburtenstarken Jahrgänge 1954 bis 1969. Ihnen gegenüber stehen zahlenmäßig sehr viel weniger Erwerbstätige. Doch das deutsche Rentensystem funktioniert so, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Renten der Ruheständler finanzieren – hinzu kommen schon jetzt nötige Steuerzuschüsse. Wie kann in dieser Situation unser Rentensystem funktionieren?

Eine alternde Gesellschaft muss natürlich sowohl für die Altersvorsorge als auch in der Pflege mehr Geld ausgeben. Aber warum sollte das nicht möglich sein? Die Riester-Reform wurde zum Beispiel so gestaltet, dass die Arbeitgeber entlastet werden und die Arbeitnehmer privat vorsorgen sollen. Würde man die vier Prozent des Bruttoeinkommens, die in Riester-Verträge fließen sollen, auch auf die Unternehmer umlegen, wären schon viele Probleme beseitigt.

Riester-Rente und Umlageverfahren

Die "Riester-Rente" wurde 2002 eingeführt. Damit sollte die private Altersvorsorge gefördert werden und zwar durch staatliche Zulagen. Grundlage dafür ist die Rentenreform von 2001, mit der die betriebliche und vor allem private Altersvorsorge gestärkt werden sollte. Die Riester-Rente ist kapitalgedeckelt, das heißt die Versicherten bauen einen Kapitalstock auf, der sich zum Beispiel durch Zinserträge vermehren soll, um im Alter Rentenzahlungen zu ermöglichen. Im Gegensatz dazu steht das Umlageverfahren, auf dem das deutsche Rentensystem basiert. Dabei werden die laufenden Zahlungen an die Rentenbezieher aus den laufenden Einnahmen durch die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber beglichen, ebenso sind Steuerzuschüsse nötig. Mehr Infos zum Thema Umlage- versus Kapitaldeckungsverfahren finden Sie hier.

Außerdem könnte die Rentenversicherung zu einer solidarischen Bürgerversicherung oder Erwerbstätigenversicherung gemacht werden. Auch bisher nicht einbezogene Selbstständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister müssten Beiträge zahlen. Würde die Beitragsbemessungsgrenze abgeschafft oder stark angehoben, wären die Finanzprobleme der gesetzlichen Rentenkasse deutlich geringer.

Beitragsbemessungsgrenze

Die Beitragsbemessungsgrenze zu den Sozialabgaben wird jährlich von der Bundesregierung festgesetzt. Aktuell beträgt sie in der gesetzlichen Rentenversicherung 6.500 Euro pro Monat (West) und 5.800 Euro pro Monat (Ost). Bis zu dieser Grenze müssen gesetzlich Versicherte für ihr Arbeitsentgelt Beiträge in die Sozialversicherung leisten. Das über diesen Grenzbetrag hinausgehende Entgelt ist beitragsfrei.

Bleiben wir noch bei der Rente. Denn es gibt eine weitere Stellschraube, um das Rentensystem anzupassen – das Renteneintrittsalter. Das liegt zurzeit bei 65 Jahren und wird bis 2029 schrittweise auf 67 Jahre angehoben. Diese 65 Jahre gelten seit gut hundert Jahren. In dieser Zeit ist die Lebenserwartung im Durchschnitt um rund 30 Jahre gestiegen. Müssen wir nicht das Renteneintrittsalter viel stärker flexibilisieren?

1916 wurde das gesetzliche Renteneintrittsalter von 70 auf 65 Jahre heruntergesetzt. Das war ein riesiger kultureller Fortschritt und eine soziale Errungenschaft von Rang. Ich vermag nicht einzusehen, warum es sich eine Gesellschaft, die sehr viel reicher ist als es das Kaiserreich jemals war, nicht leisten können soll, Menschen auch mit 65 in den Ruhestand gehen zu lassen. Viele von ihnen müssen aus gesundheitlichen Gründen weit vorher aufhören. Zwar ist der Zeitraum zwischen Renteneintritt und dem Versterben im Durchschnitt länger, aber darin besteht der gesellschaftliche Fortschritt. Zwischenzeitlich ist schließlich die Arbeitsproduktivität enorm gestiegen.

Aber war das Renteneintrittsalter von 65 nicht schon vor 100 Jahren willkürlich? Damals sind nur wenige Menschen 65 geworden. Und heute gibt es durchaus welche, die auch nach 65 noch arbeiten wollen. Gerade im Zuge der Digitalisierung gibt es Berufe, die das möglich machen.

Das können sie ja auch. Niemandem soll verwehrt werden, länger zu arbeiten. Aber hier geht es doch darum, dass derjenige, der aus gesundheitlichen Gründen mit 65 aufhören muss, Abschläge auf seine Rente hinnehmen muss – und zwar bis ans Lebensende. Ich bin 67, im Ruhestand und arbeite auch weiterhin, was als Professor einfacher ist als zum Beispiel als Dachdecker. Aber den Dachdecker zu zwingen, weit über ein Alter von 65 Jahren hinaus zu arbeiten oder seine Rente beschnitten zu bekommen, finde ich unzumutbar. Und das ist die entscheidende Frage beim Renteneintrittsalter.

Bei der Debatte um den demografischen Wandel geht es auch um Generationengerechtigkeit und politische Teilhabe. In 25 Jahren wird jeder dritte Deutsche über 65 sein: Die Älteren sind eine wachsende Wählergruppe. War das ein Grund dafür, dass die Rente kein Thema im Bundestagswahlkampf 2017 war?

Es hat mich gewundert, dass die Themen Altersvorsorge, Rente und Altersarmut im Bundestagswahlkampf so eine geringe Rolle gespielt haben. Das hat aber nichts mit mangelnder Generationengerechtigkeit zu tun, sondern damit, dass die etablierten Parteien den Kurs des Um- und Abbau des Sozialstaates modifiziert fortsetzen wollen.

Zum Beispiel hat die Union in ihrem Wahlprogramm und dann die neue Große Koalition die Probleme auf eine Rentenkommission vertagt – verbunden mit dem Hinweis, dass bis 2030 mit der gesetzlichen Rentenversicherung alles im Lot sei. Aber das stimmt nicht. Denn bis 2030 kann das Rentenniveau auf 43 Prozent sinken. Das Bundesarbeitsministerium hat 2016 ausrechnen lassen, dass das Rentenniveau bis 2045 sogar auf 41,7 Prozent sinken könnte. Man sollte die Weichen neu stellen, denn es gibt schon verbreitet Altersarmut, nicht erst Jahrzehnte später.

Rentenniveau

Das Rentenniveau ist die Relation zwischen der Höhe der Standardrente und dem Entgelt eines Durchschnittsverdieners. Als Standardrentner gilt, wer 45 Jahre Beiträge auf Basis eines Durchschnittsverdienstes gezahlt hat. Im Jahr 2000 lag das Rentenniveau bei 52,9 Prozent; 2016 bei 48,1 Prozent. Wenn das Rentenniveau sinkt, bedeutet das nicht unbedingt, dass die Rentenzahlungen geringer ausfallen. Aber die Relation ändert sich. Laut Externer Link: Deutscher Rentenversicherung hat sich zwischen 2012 und 2016 der Durchschnittsverdienst von jährlich 27.249 Euro auf 29.880 Euro erhöht: ein Anstieg von rund zehn Prozent. Im selben Zeitraum stieg die Standardrente von jährlich 13.465 Euro auf 14.367 Euro: ein Plus von rund sieben Prozent. Dennoch fiel das Rentenniveau von 49,4 auf 48,1 Prozent.

Kommen wir zu einem anderen Thema. Die Wirtschaft befürchtet, dass ihr als Folge des demografischen Wandels die Fachkräfte ausgehen. Zugleich erleben wir eine steigende Kinderarmut und fehlende Chancengleichheit bei Schülern. Liegt darin nicht ein Widerspruch?

Ja, das wäre ein Widerspruch, wenn es diesen Fachkräftemangel auf breiter Front gäbe. Dann müssten eigentlich die Löhne stark steigen, was nicht passiert. Folglich scheint der Fachkräftemangel nicht zu existieren, jedenfalls nicht in großem Umfang. Wo es ihn gibt, haben die Unternehmen nicht ausreichend ausgebildet und zahlen zu geringe Löhne. Mit der demografischen Entwicklung hat das Problem weniger zu tun.

Aber warum wird im Bereich der Bildung auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels nicht mehr getan?

Man könnte in der Tat sagen: Wir haben weniger Geburten, dann müssen wir die Kinder, die wir haben, besonders gut ausbilden und mehr Geld in diesen Bereich stecken. Aber da sind wir wieder bei dem Grundproblem: Auch in die öffentliche Bildung fließen relativ wenig Gelder. Die Bundesrepublik gibt im OECD-Maßstab sehr viel weniger als der Durchschnitt für Bildung aus [Die OECD ist die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Anm. d. Red.].

Der Demografie-Diskurs müsste genutzt werden, um positive Veränderungen in der Gesellschaft herbeizuführen. Es geht darum, zum Beispiel Kindern aus sozial benachteiligten Familien mehr Chancen zu eröffnen und das Bildungssystem so auszubauen, dass alle Kinder besser gebildet werden und dadurch das Problem eines Fachkräftemangels gar nicht aufkommt.

Das Interview führte Sonja Ernst.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge ist Politikwissenschaftler und Armutsforscher. Bis zu seinem Ruhestand 2016 lehrte er Politikwissenschaft an der Uni Köln. Zuletzt erschien im April 2018 zusammen mit Gudrun Hentges und Bettina Lösch sein Buch „Auf dem Weg in eine andere Republik? Neoliberalismus, Standortnationalismus und Rechtspopulismus“. Weitere Texte des Autors unter Externer Link: www.christophbutterwegge.de