Inhaltsbeschreibung
Als im Herbst 1989 mutige DDR-Bürgerinnen und -Bürger die SED-Diktatur stürzten und die Mauer durch Deutschland zu Fall brachten, hatte der Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung erst begonnen. Viele Ostdeutsche waren weder auf die Chancen noch die Anforderungen, ja Zumutungen demokratischer Eigenverantwortung vorbereitet.
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk deutet die seit Jahren wachsende Abwendung von der Demokratie in Ostdeutschland als Langzeitfolge unverarbeiteter Diktatursozialisation: Seinerzeit seien erlernte Erwartungen an einen starken Staat umstandslos auf die neuen Verhältnisse übertragen und die Rolle demokratischer Parteien und rechtsstaatlicher Institutionen kaum je reflektiert oder vermittelt worden.
Zahlreiche westliche Protagonisten hingegen hätten mit moralischer Überheblichkeit berechtigte Gestaltungsansprüche ignoriert. Inzwischen generationell tradiert, habe sich im Osten verbreitet das Empfinden verfestigt, in der eigenen Lebensleistung nicht gewürdigt und von der Demokratie ent- und getäuscht worden zu sein. Auf dem Nährboden wechselseitiger Un- und Missverständnisse sowie unerfüllter Erwartungen gedeihe, so Kowalczuk, politische Instrumentalisierung ebenso wie eine kommerzialisierte Ostalgie. Letztere spiele den Gewinn individueller Freiheit in der Demokratie gegen den vermeintlichen Verlust eines imaginierten gesellschaftlichen Zusammenhalts in der Diktatur aus. Die Beharrungskraft solcher Umdeutungen spiegele tiefe Verletzungen, aber auch die Neigung, den eigenen Anteil an der jeweiligen Lebenssituation selbstentlastend auszublenden.