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Christliche Ethik und sozialrechtliche Forderungen | APuZ 21/1966 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 21/1966 Artikel 1 Eigentum als soziale Ordnungsinstitution Mitbestimmung und evangelische Sozialethik Christliche Ethik und sozialrechtliche Forderungen Mitbestimmung-eine gesellschaftspolitische Forderung der Christlich-Sozialen Anpassung der Wirtschaftsverfassung an die modernen gesellschaftlichen Erfordernisse Partnerschaft in einer freiheitlichen Ordnung

Christliche Ethik und sozialrechtliche Forderungen

Eberhard Müller

Mitbestimmung und Freiheit

Die Frage nach der Mitbestimmung des Menschen ist ein altes Grundthema der christlichen Ethik. Die dem Christen gebotene Mitmenschlichkeit erstreckt sich nicht nur darauf, dem Nächsten zu angemessenen wirtschaftlichen Verhältnissen zu verhelfen. Fast noch wichtiger ist seine Annahme als menschlicher Partner: Er sollte das Recht haben, in eigener Verantwortung im Rahmen seiner Fähigkeit das mitzugestalten, was gemeinsam zu tun ist. Diese ethische Grundforderung ist nicht einfach gleichbedeutend mit der Forderung der wirtschaftlichen Mitbestimmung, wie sie von den Gewerkschaften erhoben wird. Man muß vielmehr überlegen, wie sich beide Forderungen, die ethisch-christliche und die sozialrechtlichgewerkschaftliche, zueinander verhalten. Die Kirche maßt sich nicht an, ein „dritter Sozial-partner" zu sein, wenn sie versucht, zu diesen Fragen eigene Vorstellungen zu entwickeln.

Verfolgt man in diesem Bemühen die Argumentation beider Sozialpartner, so muß man feststellen, daß beide von den gleichen Ausgangspunkten zu entgegengesetzten Ergebnis-sen kommen. Beide behaupten, die Freiheit des Menschen sei in Gefahr, wenn sich die Auffassung ihres Sozialpartners durchsetze. Beide behaupten, ihre eigene Auffassung sei der wirtschaftlichen Entwicklung förderlich, die ihrer Gegenspieler dagegen schädlich. Beide behaupten, die Diskussion werde dadurch erschwert, daß die leitenden Männer in den mitbestimmten Betrieben der Montanindustrie es nicht wagten, sich offen über die positiven bzw. negativen Auswirkungen des Mitbestimmungsgesetzes zu äußern. Die Gewerkschaften behaupten, die positiven Stimmen wagten sich in Unternehmerkreisen nicht heraus. Die Unternehmer behaupten, die negativen Stimmen würden in Gegenwart der Arbeitsdirektoren und gegenüber der Gewerkschaft unterdrückt. Kann es einem kirchlichen Arbeitskreis, der aus Fachleuten besteht und sich um eine neutrale, unabhängige Auffassung bemüht, gelingen, in dieses Dunkel Licht zu bringen?

Bei den Überlegungen in den zuständigen kirchlichen Gremien stehen folgende Gesichtspunkte einander gegenüber:

Machtüberhang der Kapitalbesitzer?

Von Seiten der Arbeitnehmerschaft wird mit Recht gefragt, ob es sozialethisch berechtigt und in unserer Gesellschaftsordnung wirtschaftlich unausweichlich ist, dem Kapital-besitzer die überwiegenden oder gar — wie früher — die alleinigen Bestimmungsrechte in einem Betrieb zu überlassen. Produktionsmittel sind kein Wert an sich. Sie erhalten ihren Wert dadurch, daß mit diesen Gütern gearbeitet wird. Viele Kapitalbesitzer verdanken ihr Vermögen der Tatsache, daß sie selbst oder ihre Väter früher für andere Kapitalbesitzer ein Geschäft geführt und die Inhaber genötigt haben, sie selbst als Geschäftspartner aufzunehmen. Etwas Ähnliches wird heute für die Arbeitnehmerschaft insgesamt mit den Forderungen der Vermögensstreuung und der Mitbestimmung angestrebt. Das ist gewiß eine andersartige Partnerschaft als die eines einzel-B nen Teilhabers. Kann man aber im einen oder anderen Falle von einer Aushöhlung des Eigentumsrechtes sprechen, wenn die Eigentümer genötigt werden, denjenigen Mitbestimmungsrechte einzuräumen, ohne die ihr Eigentum nicht fruchtbar gemacht werden kann?

Von gewerkschaftlicher Seite wird außerdem vorgebracht, daß das bisherige Betriebsverfassungsgesetz gar nicht voll ausgeschöpft werde. Dies sei darin begründet, daß es die Belegschaft in vielen Fällen nicht wage, sich einem Mehrheitsaktionär und dem von ihm bestellten Vorstand gegenüber unbeliebt zu machen. Sie verzichte dann lieber auf Rechte im Betriebsverfassungsgesetz, weil sie sich darüber klar sei, daß sie im Ernstfall doch nichts durchsetzen könne. Das sei vor allem dann der Fall, wenn etwa ein ausländischer Mehrheitsaktionär vorhanden sei, dem es lediglich auf Ge15 winnmaximierung ankomme. Dieser gewerkschaftliche Einwand hat zwar sicherlich in einer Zeit der Vollbeschäftigung nur ein beschränktes Gewicht, da bei Vollbeschäftigung das gute Verhältnis zu den Mitarbeitern besonders dringlich ist. Trotzdem muß dieser Frage nachgegangen werden. Auch die unternehmerische Seite hat ausdrücklich zugesagt, daß sie sich um eine volle Ausschöpfung des Betriebsverfassungsgesetzes in Zukunft mehr als bisher bemühen werde. Dabei sollte geprüft werden, ob dieses Bemühen, wenn es erfolgreich sein soll, eine gewisse Veränderung der gegenwärtigen gesetzlichen Bestimmungen nötig macht. Diese Frage ist deshalb für die Kirche interessant, weil hier das sozialethisch wichtige Problem der gegenseitigen Wirkung von institutioneilen Ordnungen und persönlichem Verhalten des einzelnen angeschnitten ist. In der modernen Industriegesellschaft hängt der ethische Spielraum des einzelnen immer davon ab, daß die institutionellen Ordnungen in einer den guten Willen fördernden und ihn ermunternden Weise eingerichtet sind. Wenn es wahr wäre, daß eine ungenügende Sicherung des Mitspracherechtes der Arbeitnehmerschaft dazu führt, daß ganze Gruppen von Arbeitnehmern sich fürchten müssen, ihre Rechte wahrzunehmen, dann wäre hier ein ethischer Sachverhalt gegeben, der zu Bedenken Anlaß gibt. Damit soll nicht behauptet werden, daß man in jedem Fall die Zivilcourage durch gesetzliche Bestimmungen ersetzen könne. Zuweilen sind aber die Möglichkeiten, Zivilcourage zu beweisen und darin erfolgreich zu sein, allzu ungleich in der Gesellschaft verteilt. Dann ist es sittliche Pflicht, die bestehende Ordnung zu verbessern.

Künftige Machtkonzentration bei den Gewerkschaften?

Neben diesen Fragen, die unter sozialethischen Gesichtspunkten gewissermaßen an die Unternehmerseite gerichtet sind, gibt es andere Fragen, die sich an die Adresse der Gewerkschaften wenden. Diese setzen oft in einer unkritischen Weise Mitbestimmungsrechte der Gewerkschaften mit den menschlichen Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmerschaft gleich. Sie sprechen zum Beispiel von einer Verstärkung der Kontrolle über marktbeherrschende Unternehmen durch ein Mitbestimmungsrecht. Dieses ist jedoch zweifellos zunächst eine Funktion des Staates, aber nicht die Aufgabe einer Organisation, die in anderem Zusammenhang ihren privatrechtlichen Charakter betont. Sie lehnt den Erlaß eines Gewerkschaftsgesetzes entschieden ab. Man muß fragen, ob das nicht mit der angestrebten Rolle eines Kontrolleurs wirtschaftlicher Macht kollidiert.

Die gewerkschaftliche Seite fordert eine Ausdehnung der Montanmitbestimmung auf die Großbetriebe anderer Industriezweige. Wenn diese Forderung sich allgemein durchsetzte, würden den Gewerkschaften in allen Großbetrieben 50 Prozent der Stimmrechte in den Aufsichtsräten eingeräumt. Man kann mit Recht fragen, ob hier nicht die Gefahr droht, daß die Quantität in eine Qualität umschlägt. Das heißt: Entsteht auf diese Weise nicht eine zusammengeballte wirtschaftliche Macht, die eines Tages alle sonstigen wirtschaftlichen Machtentfaltungen in den Schatten stellen könnte? Damit soll keineswegs ein persönliches Mißtrauen gegen die derzeitigen Gewerkschaftsführer ausgesprochen werden. Wenn eines Tages jemand auf den Gedanken käme, die menschlichen Rechte der Arbeitnehmer würden am besten durch die Kirche wahrgenommen, diese müßten darum 50 Prozent aller Stimmrechte erhalten, würde jedermann von einer klerikalen Machtkonzentration sprechen, und das mit Recht. Es geht hier also nicht um Personen, sondern um die Macht von Institutionen — gleich, welcher Art sie sind.

Nach dem Betriebsverfassungsgesetz wird ein Drittel der Aufsichtsräte von der Belegschaft gewählt. In der von den Gewerkschaften bevorzugten „qualifizierten Mitbestimmung“ der Montanindustrie werden Aufsichtsräte und Arbeitsdirektoren praktisch von der Gewerkschaft bestellt. Jedenfalls können sie nicht gegen deren Willen ins Amt gebracht oder darin bestätigt werden. Es ist zu prüfen, ob das sinnvoll ist und in dieser Form die ethisch berechtigte Forderung nach Mitbestimmung der Arbeitnehmer in ihrem Betrieb erfüllen würde. Die Tatsache, daß bei einer Ausdehnung der „qualifizierten Mitbestimmung" auf alle Großbetriebe die Gefahr einer Machtzusammenballung entsteht, ergibt sich auch aus folgender Überlegung: Die Gewerkschaften waren in der Lage, alle von der Gewerkschaft nominierten Aufsichtsräte zur Abgabe eines Teils ihrer Aufsichtsratsbezüge zugunsten der „Stiftung Mitbestimmung" zu veranlassen. Das ist eine anerkennenswerte soziale und solidarische Maßnahme. Wenn aber die gewerkschaftlichen Aufsichtsräte den Vorschlägen der Gewerkschaften dort folgen, wo es sie hohe Opfer kostet, wieviel mehr würden viele den Weisungen der Gewerkschaft folgen, wo es sie persönlich nichts kostet als eine Anpassung an die wirtschaftspolitischen oder gar parteipolitischen Auffassungen der für sie zuständigen Gewerkschaft! Diese bestimmt ja weithin über ihre Wiederwahl. So sehr man also fragen muß, ob es richtig ist, daß die Kapital-seite ein so überwiegendes Herrschaftsrecht im Betrieb hat, so sehr kann man auf der anderen Seite fragen, ob es richtig ist, diesen Machtüberhang an die Gewerkschaften abzugeben.

Ähnliche Bedenken kann man gegen die Ausweitung der Institution des gewerkschaftlich bestellten Arbeitsdirektors auf die übrige Großindustrie erheben. Die Verhandlungspartner der Unternehmen gegenüber der Gewerkschaft sind normalerweise die Personalchefs. Werden diese von der Gewerkschaft bestellt, so kontraktiert diese in gewissem Sinne mit sich selbst. Damit droht die Sozialpartnerschaft aufgehoben und in eine überwiegende Entscheidungsbefugnis der Gewerkschaften verwandelt zu werden.

Chancen des guten Willens?

Man kann freilich billigerweise nicht bestreiten, daß die Gewerkschaften in Deutschland von der Macht ihrer großen Organisationen in den letzten 20 Jahren einen wesentlich maß-volleren Gebrauch gemacht haben als die Gewerkschaften anderer Länder. An dem Willen zur Selbstbeschränkung der heutigen Gewerkschaftsführung und an ihrer Bereitschaft zu einem fairen Einhalten demokratischer Spielregeln sollte niemand Zweifel erheben, es sei denn, er wäre bereit, diese Zweifel mit demselben Ernst gegen die Vertreter seines eigenen Verbandes zu erheben. Eine Lösung in diesen Fragen kann sicher nicht gefunden werden, wenn man sich gegenseitig verteufelt. Die Behauptung, daß das menschliche Wesen sündlich sei, ist zwar ein Bestandteil der kirchlichen Lehre. Aber so böse sind die Menschen wiederum nicht, wie die widerstreitenden Gruppen in unserem Volk vielfach voneinander zu denken geneigt sind. Die kirchlichen Vertreter glauben, realistischer zu sein als die im täglichen Gefecht stehenden Sozialpartner, wenn sie beiden Seiten mehr guten Willen zutrauen als diese sich gegenseitig selbst.

Aber das mag sein, wie es will. Sozialrechtliche Ordnungen müssen auch einen möglichen Mißbrauch in der Zukunft im Auge haben, der von den gegenwärtigen Inhabern einer Macht nicht zu befürchten ist. Bei den Gesprächen, die von kirchlicher Seite mit beiden Sozialpartnern geführt wurden, wurde von jeder Seite betont, bei gutem Willen würden die von ihr gemachten Vorschläge auch zu guten Ergeb-nissen führen. Von Unternehmerseite wird gesagt, daß eine vernünftige Betriebsleitung im Zeitalter der Vollbeschäftigung doch ganz von selbst die äußersten Anstrengungen mache, um die menschlichen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte ihrer Arbeitnehmer so weit als nur irgend möglich zu befriedigen. Von gewerkschaftlicher Seite wird gesagt, daß eine vernünftige Gewerkschaftsführung doch ganz von selbst auf die Substanzerhaltung und Rentabilität der Betriebe bedacht sei, in denen sie Mitbestimmung ausübt. Festzustellen ist, daß beide Seiten dem guten Willen und der Vernunft innerhalb der eigenen Reihen so viel zutrauen, daß sie die von ihnen vorgeschlagenen Lösungen für unbedenklich halten können. In der Praxis heben sich dann beide Hinweise auf den guten Willen gegenseitig auf, so richtig sie auch sind.

Sicher läßt sich ohne ein gewisses Maß an gutem Willen die beste gesetzliche Absicht nicht verwirklichen. Es geht aber eben um die Aufgabe, gesetzliche Ordnungen zu finden, die auf keiner Seite die Bereitschaft zum Vertrauen auf den guten Willen übermäßig in Anspruch nehmen. In gewissem Sinne setzt die Lösung dieser sozialrechtlichen Fragen auch die Bereitschaft zur Selbstkritik an der eigenen Gruppe und ein Wagnis des Vertrauens gegenüber der Gegenseite voraus. Eine Erhitzung der Debatte über die Mitbestimmung wird dem schwerlich dienen. Eine Abkühlung und Versachlichung des Gesprächs über diese Fragen kann ihrer Lösung nur dienlich sein.

Fussnoten

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Eberhard Müller, D. Dr. phil., Pfarrer, Direktor der Evangelischen Akademie Bad Boll, Vorsitzender des Leiterkreises der Evangelischen Akademien in Deutschland, Vorsit-