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Die Kybernetische Revolution und das Projekt Cybersyn

Eden Medina

/ 17 Minuten zu lesen

Das politische Experiment des sozialistischen Chile bereitete den Boden für ein innovatives und technologisches Experiment: das Projekt Cybersyn. Kybernetik und Computertechnologie sollten der Allende-Regierung helfen, den wirtschaftlichen Wandel des Landes zu steuern.

1970 entschieden die chilenischen Wählerinnen und Wähler, unter der Führung Salvador Allendes einen demokratischen Weg zum sozialistischen Wandel einzuschlagen. Als Chiles erster demokratisch gewählter sozialistischer Präsident versprach Allende einen dritten Weg, der sich von der Politik und Ideologie sowohl der USA als auch der Sowjetunion während des Kalten Krieges unterschied.

Allende wollte aus Chile ein sozialistisches Land machen, diesen Wandel jedoch mit friedlichen Mitteln herbeiführen und dabei die bestehenden demokratischen Prozesse und Institutionen des Landes respektieren. Vermögen und Eigentum ausländischer multinationaler Konzerne und der chilenischen Oligarchie sollten auf den Staat übergehen, Einkommen sollte umverteilt werden, und zur Beteiligung der Arbeitnehmer sollten neue Mechanismen entstehen. Zu den demokratischen Prinzipien und Institutionen, die Allende erhalten wollte, zählten die Respektierung von Wahlergebnissen, die Rechtsstaatlichkeit sowie grundlegende Freiheitsrechte, darunter Meinungs-, Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Dass sich Allende einem sozialistischen Wandel mit konstitutionellen Mitteln verschrieben hatte, unterschied den chilenischen Sozialismus vom Sozialismus in Kuba oder der Sowjetunion. Sein Ansatz wurde bekannt als „chilenischer Weg zum Sozialismus“.

In Lateinamerika war Chile eine Ausnahme. Das Land konnte von 1932 bis 1973 auf eine ununterbrochene demokratische Tradition verweisen, die im lateinamerikanischen Vergleich längste Periode. Allendes offenes Bekenntnis zum friedlichen sozialistischen Wandel und zur freien Meinungsäußerung stand in scharfem Kontrast zur politischen Situation in Nachbarländern wie Argentinien und Brasilien. In beiden Ländern herrschten 1970 repressive Militärregierungen, die Macht übernommen hatten, um die angebliche Bedrohung durch den Kommunismus zu stoppen. Auch Chile war Schauplatz des weltweit geführten Kalten Krieges und stand im Fokus der US-amerikanischen Außenpolitik. Von 1962 bis 1969 erhielt Chile im Rahmen der Alliance for Progress über eine Milliarde US-Dollar an Hilfen, mehr als jedes andere Land in Lateinamerika. Die USA glaubten, dass sie dadurch den Lebensstandard in Chile heben und so die Menschen aus ärmeren Schichten und der Arbeiterklasse davon abhalten könnten, sich dem Kommunismus zuzuwenden.

Die USA reagierten auf die Wahl Allendes mit einer Politik verdeckter Operationen, um eine sozialistische Ausrichtung Chiles zu verhindern. Dazu gehörte, Oppositionsparteien und Medien im Besitz der Opposition zu finanzieren oder die chilenische Wirtschaft zu sabotieren. So richteten die USA eine unsichtbare finanzielle Blockade ein und reduzierten die Hilfe für Chile deutlich. Die Vereinigten Staaten nutzten ihren erheblichen Einfluss, um Kürzungen bei der internationalen und bilateralen Hilfe und den Krediten privater Banken an Chile zu erwirken, hinderten Allende daran, die Staatsschulden, die er von seinem Vorgänger geerbt hatte, neu zu verhandeln, und beschränkten ihre Exporte nach Chile. Allendes Bestreben, die seit Langem bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Strukturen Chiles zu verändern, stieß auch bei den Angehörigen der privilegierten Klassen auf Widerstand. Doch da Chile auf eine lange Tradition solider demokratischer Institutionen zurückblicken konnte, hielten viele Chileninnen und Chilenen und Beobachter aus aller Welt es durchaus für möglich, dass Allende und seine Regierung ein neues politisches Modell entwickeln könnten.

Dieses politische Experiment bereitete den Boden für ein innovatives und ambitioniertes technologisches Experiment, das sogenannte Projekt Cybersyn. Die wichtigsten Industrien unter staatliche Kontrolle zu bringen, war ein zentraler Punkt von Allendes politischem Programm, stellte die Regierung jedoch vor eine große Herausforderung. Einige Mitglieder der chilenischen Regierung sahen die Lösung in der Nutzung der Computertechnologie und der interdisziplinären Wissenschaft der Kybernetik. Sie sollten der Regierung helfen, den wirtschaftlichen Wandel des Landes zu steuern.

Unerwartete Einladung

Im Juli 1971 erhielt der britische Kybernetiker Stafford Beer zu seiner Überraschung einen Brief aus Chile, der sein Leben dramatisch verändern sollte. Der Absender war ein junger chilenischer Ingenieur namens Fernando Flores, der für die Regierung des gerade gewählten Allende arbeitete. Flores war in der chilenischen Wirtschaftsförderungsbehörde (Corporación de Fomento de la Producción, CORFO) tätig, die für die Verstaatlichung der Wirtschaft zuständig war. Obwohl Flores damals erst 28 war, bekleidete er die dritthöchste Position in der Behörde und übte eine leitende Funktion bei der Verstaatlichung aus. Flores schrieb, er kenne Beers Arbeit zur Managementkybernetik und sei „nun in einer Position, in der es möglich ist, wissenschaftliche Erkenntnisse über Management und Organisation auf nationaler Ebene – auf der kybernetisches Denken zur Notwendigkeit wird – anzuwenden“. Flores bat Beer um Rat bei der Anwendung der Kybernetik auf das Management der chilenischen Staatsbetriebe, deren Zahl aufgrund der aggressiven Verstaatlichungspolitik Allendes stetig zunahm.

Eigentlich ist es unmöglich, eine allgemeine Definition der interdisziplinären, in der Nachkriegszeit zur Blüte gelangten Wissenschaft der Kybernetik zu formulieren. Der Mathematiker Norbert Wiener vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) lieferte 1948 die vielzitierte Beschreibung, Kybernetik sei die Wissenschaft der „Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine“. In der Kybernetik werden oft Metaphern aus dem Ingenieurwesen und der Biologie gemeinsam verwendet, um das Verhalten komplexer Systeme zu beschreiben, die von der elektromechanischen Funktionsweise eines Computers bis zur Funktion des menschlichen Gehirns reichen. Die Kybernetik hat diese und andere Disziplinen zusammengeführt, um die Gemeinsamkeiten von Maschinen und Organismen in den Bereichen Kommunikation, Rückkopplung und Steuerung zu erfassen und damit besser zu verstehen. Einige Kybernetiker sahen in der Kybernetik eine universelle Sprache für die wissenschaftliche Untersuchung von Maschinen, Organismen und Organisationen. Das kybernetische Denken beeinflusste zahlreiche Gebiete wie Informationstheorie, Informatik, Kognitionswissenschaften, Ingenieurwesen, Biologie, Sozialwissenschaften und Industriemanagement.

Beer war führend im Bereich der Managementkybernetik, die sich zum Ziel gesetzt hatte, kybernetische Vorstellungen auf die Leitung und Steuerung von Unternehmen anzuwenden. Seit den 1950er Jahren nutzte Beer sein Wissen über das menschliche Nervensystem, um eine Form des Managements zu entwickeln, die es Unternehmen ermöglicht, sich schnell an ein sich veränderndes Umfeld anzupassen. Ein Hauptthema in Beers Schriften war die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen zentraler und dezentraler Kontrolle und die Frage, wie die Stabilität des gesamten Unternehmens gewährleistet werden kann, ohne die Autonomie der einzelnen Teile zu opfern. Viele dieser Themen definierten auch den chilenischen Sonderweg zu einem friedlichen, demokratischen Sozialismus. So sah sich die Regierung der Unidad Popular etwa mit der Herausforderung konfrontiert, wesentliche soziale, politische und wirtschaftliche Veränderungen herbeizuführen, ohne den bereits bestehenden konstitutionellen demokratischen Rahmen zu zerstören. Der sozialistische Prozess in Chile erforderte, dass der Staat seine Befugnisse ausdehnen musste, ohne die bestehenden bürgerlichen Freiheiten und demokratischen Institutionen des Landes zu opfern.

Das Angebot aus Chile war für Beer unwiderstehlich. Flores bot ihm die Möglichkeit, seine Ideen zum Management auf nationaler Ebene anzuwenden, noch dazu in einer Zeit des politischen Umbruchs. Beer entschied, dass er mehr tun wollte, als nur gute Ratschläge zu geben. Entsprechend enthusiastisch fiel seine Antwort aus. „Glauben Sie mir, ich würde jeden meiner Verträge kündigen, um an diesem Projekt mitarbeiten zu können“, schrieb Beer. „Ich glaube nämlich, dass Ihr Land es wirklich schaffen wird.“ Vier Monate später reiste der Kybernetiker nach Chile, um als Wirtschaftsberater für die chilenische Regierung zu arbeiten.

Schlacht um die Produktion

Stafford Beer traf am 4. November 1971 in Chile ein, am ersten Jahrestag der Regierung Allende. Am gleichen Tag wandte sich der Präsident im Nationalstadion an die chilenische Bevölkerung und beschrieb, was seine Regierung bisher erreicht hatte. Zu den wichtigsten Maßnahmen gehörten wirtschaftliche Interventionen sowie die Verstaatlichung und Enteignung von Unternehmen in chilenischem und ausländischem Besitz. Aufgrund dieser Fortschritte sah sich Allende in seinem zweiten Amtsjahr mit der dringenden Notwendigkeit konfrontiert, Wege zu einer effizienten Verwaltung des neuen und ständig wachsenden öffentlichen Sektors zu finden.

Die strukturalistische Wirtschaftspolitik und die keynesianische „Ankurbelung“ hatten zu einer größeren Kaufkraft und höheren Beschäftigungsquote geführt, die sich wiederum in Wirtschaftswachstum niederschlugen. Bis November 1971 waren die Reallöhne der Arbeiter in den chilenischen Fabriken im Durchschnitt um 30 Prozent gestiegen. Infolgedessen hatte ein wachsender Teil der Bevölkerung mehr Geld zur Verfügung, wodurch die Wirtschaft stimuliert, die Nachfrage gesteigert und die Produktion erhöht wurden, und der Rückhalt für die UP-Koalition in der Bevölkerung wuchs. Im ersten Jahr der Regierung Allende stiegen das Bruttoinlandsprodukt um 7,7 Prozent, die Produktion um 13,7 Prozent und der Konsum um 11,6 Prozent. Bis Ende 1971 hatte die Regierung alle großen Bergbauunternehmen und 68 weitere wichtige Industrien Chiles vom privaten in den öffentlichen Sektor überführt. Die Geschwindigkeit muss Beer beeindruckt haben, der Regierungen oft für ihre träge Bürokratie und ihre Unfähigkeit, Veränderungen umzusetzen, kritisierte.

Chile schlug eine „Schlacht um die Produktion“, das heißt, dass die Steigerung der Industrieproduktion als Schlüssel zum Erfolg des chilenischen Sozialismus angesehen wurde. Erreichen wollte man dieses Ziel, indem man die „Kommandohöhen“ der Wirtschaft übernahm. Eine Steigerung des Produktionsniveaus würde auch dazu beitragen, dass das Angebot mit der durch die Umverteilung des Reichtums gestiegenen Nachfrage Schritt hielt und die Inflation eingedämmt werden konnte. Allendes oberstes politisches Ziel war es, einen sozialistischen Wandel in einem demokratischen Rahmen herbeizuführen. Er wusste, dass die Wirtschaft dabei eine zentrale Rolle spielte; er konnte Chile nicht zum Sozialismus führen, wenn er nicht auch die Wirtschaft zum Blühen brachte.

Aufbau von Cybersyn

Nach seiner Ankunft in Santiago machte sich Beer mit einem kleinen Team, das Flores zusammengestellt hatte, an die Arbeit. Der Kybernetiker informierte sich über die Managementprobleme im wachsenden öffentlichen Sektor und begann, seine kybernetischen Modelle auf das Wirtschaftssystem zu übertragen. Außerdem entwickelte er das Projekt Cyberstride, ein „vorläufiges Informations- und Kontrollsystem für die industrielle Wirtschaft“. Bei diesem Projekt wurde erstmals ein Computersystem beschrieben, um das Problem des staatlichen Wirtschaftsmanagements zu lösen. Beer merkte an, dass das System, wenn es gebaut würde, „die Hauptmerkmale des kybernetischen Managements demonstrieren“ und der Regierung „ab März 1972 bei der Aufgabe der tatsächlichen Entscheidungsfindung helfen“ könnte – also bereits nach vier Monaten.

Das Projekt Cyberstride umfasste Ideen aus Beers früheren Schriften und Vorträgen einschließlich seiner Idee für eine „Freiheitsmaschine“. Diese Maschine sollte der „immensen Trägheit“ entgegenwirken, indem neue Netzwerke für den Informationsaustausch in nahezu Echtzeit geschaffen werden, um eine schnelle Entscheidungsfindung zu erleichtern und langwierige bürokratische Verfahren zu vermeiden. Beer meinte, dass eine solche Freiheitsmaschine eine Regierung schaffen könnte, in der „kompetente Informationen frei handeln können“ – dass also Regierungsbeamte, sobald sie von einem Problem Kenntnis erhielten, dieses direkt angehen könnten; nicht bürokratisches Denken, sondern Expertenwissen sollte die Politik leiten. Beer stellte sich vor, dass die Freiheitsmaschine aus einer Reihe von Kontrollräumen bestehen würde, in denen Echtzeitinformationen von verschiedenen Systemen eingingen und Computer dazu eingesetzt würden, „den Informationsgehalt zu destillieren“. Das chilenische System sollte schließlich aus einem Kontrollraum bestehen, der mit täglich gesammelten Daten aus den staatlich kontrollierten Industrien gespeist werden und mithilfe von Großrechnertechnologie statistische Vorhersagen über das zukünftige Wirtschaftsverhalten treffen sollte.

Damals besaß das Nationale Computerzentrum Chiles (Empresa de Computación e Informática de Chile, ECOM) gerade einmal vier Großrechner, die alle sehr gefragt waren. Der ECOM-Leiter stellte Beer nur einen einzigen davon zur Verfügung. Damit die Netzwerkarchitektur dennoch funktionierte, mussten Beer und sein Team einen Weg finden, numerische Daten und Text kostengünstig und nahezu in Echtzeit über große Entfernungen zu übertragen. Die Lösung schien in einem Netz aus Telexgeräten beziehungsweise Fernschreibern zu liegen, das mit dem Großrechner verbunden werden sollte: Über Fernschreiber sollten sogenannte Interventors die Produktionsdaten aus den Betrieben an den Fernschreiber des ECOM übermitteln. Computerfachleute würden dann die Daten auf Lochkarten übertragen und sie in den Zentralrechner einspeisen. Ein Statistikprogramm würde die neuen Daten mit den bereits erfassten vergleichen und nach signifikanten Abweichungensuchen. Sollte das Programm eine solche Abweichung feststellen, würde es die Computerexperten alarmieren, die die Daten über das Fernschreibnetz an die CORFO und die betroffenen Unternehmen weiterleiten würden. Die CORFO könnte dann eingreifen und mit den Beteiligten kommunizieren, um das Problem zu lösen. Da die Telextechnologie relativ einfach war, konnten Beer und das chilenische Team ein solches Netzwerk ohne große technische Herausforderungen aufbauen, solange sie Zugang zu den Geräten hatten.

ENTEL, das nationale Telekommunikationsunternehmen, hatte 400 Fernschreiber auf Lager, die die vorherige Regierung in den 1960er Jahren angeschafft, aber nie installiert hatte. Mit diesem Fund konnte das Team mit dem Aufbau des von Beer vorgeschlagenen Netzes beginnen, ohne zusätzliche Geräte importieren zu müssen, was angesichts der schwindenden Devisenreserven Chiles und der Blockade durch die USA ein Problem gewesen wäre.

Im Januar 1972 wandte sich Beer – inzwischen von seiner Chile-Reise zurückgekehrt – an die Unternehmensberatung Arthur Andersen in London mit dem Auftrag, die Software für das Projekt Cyberstride zu entwickeln. Zur Reduzierung der Kosten beschlossen Flores und Beer dann aber, die Softwareentwicklung zwischen London und Chile aufzuteilen, zudem konnte man dadurch Zeit gewinnen. Das britische Team konzentrierte sich auf die Programmierung einer vorläufigen Version, die als Machbarkeitsnachweis dienen sollte, während die chilenischen Ingenieure eine permanente Version entwickeln sollten, die die spezifischen Parameter der chilenischen Wirtschaft berücksichtigte. Die Software nutzte Techniken der Bayesschen Statistik, um signifikante Schwankungen in den Produktionsdaten zu erkennen und vorherzusagen, ob neue Daten den Beginn eines linearen Trends oder eine Abweichung darstellten. Dadurch war die Software in der Lage, Vorhersagen zur wirtschaftlichen Entwicklung zu treffen und diese Vorhersagen im laufenden Betrieb zu korrigieren.

Beers Konzept sah vor, dass die Cyberstride-Software es der chilenischen Regierung schließlich ermöglichen würde, auf ihre traditionellen Berichtsverfahren zu verzichten, das heißt auf detaillierte, gedruckte Berichte von beträchtlicher Länge, die auf monatlich oder jährlich gesammelten Daten basierten. Stattdessen könnte die Regierung Prioritäten setzen und könnte sich auf die Sektoren mit dem größten Bedarf konzentrieren. Die Technologie sah nicht vor, dass der Staat überall gleichzeitig eingreift, sondern sollte dem Staat helfen, die begrenzten Ressourcen dort einzusetzen, wo sie am meisten gebraucht werden. Zusätzlich gründete Beer ein Team, das die Aufgabe hatte, einen Wirtschaftssimulator zu bauen. Der Simulator sollte die Cyberstride-Software ergänzen und als „Versuchslabor der Regierung“ dienen. Nach seiner Fertigstellung würde der Simulator Entscheidungsträgern die Möglichkeit geben, über das Tagesgeschäft hinaus zu planen und mit verschiedenen langfristigen Wirtschaftsstrategien zu experimentieren.

Im März 1972 reiste Beer erneut nach Chile. Zu diesem Zeitpunkt war das chilenische Projektteam von zehn auf 35 Mitglieder gewachsen. Mitte März übermittelte das ECOM die ersten Ergebnisse des von Arthur Andersen entwickelten provisorischen Cyberstride-Programms, das die tägliche Praxis simulierte, wenn das von Chile entwickelte permanente Programm in Betrieb war. Bis zur permanenten Version war es jedoch noch ein weiter Weg, denn die chilenischen Experten für Prozess- und Planungsoptimierung mussten alle staatlichen Unternehmen analysieren und festlegen, welche Produktionsindikatoren die Software überwachen sollte.

Während Beers Besuch wurden an Cyberstride wesentliche Veränderungen vorgenommen. Vor allem erhielt das Projekt einen neuen Namen: Projekt Cybersyn, eine Kombination aus cybernetics und synergy. Der neue Name verwies auf die kybernetischen Grundlagen des Projekts und die Idee, dass das Gesamtsystem – Mensch und Maschine – größer war als die Summe seiner Teile. Der Name Cyberstride bezog sich nur noch auf das Softwarepaket, das von Arthur Andersen und dem ECOM programmiert wurde. Auf Englisch klang der Projektname Cybersyn einleuchtend, aber auf Spanisch ging er nicht so leicht über die Lippen, und so erhielt das Projekt den spanischen Namen SYNCO, was für Sistema de Información y Control steht.

Zusätzlich zu den drei Projekten, aus denen sich das Cyberstride-System bisher zusammengesetzt hatte – dem Telexnetz (Cybernet), der Statistiksoftware (Cyberstride) und dem Wirtschaftssimulator – umfasste Cybersyn noch eine vierte Komponente: den Operations Room, eine in die Realität umgesetzte Version des Kontrollraums, den Beer in seinem Essay „The Liberty Machine“ beschrieben hatte. „Ziel von CYBERSYN“, erklärte Beer, „ist es, [diese Werkzeuge] in einem effektiven Kontrollzentrum zusammenzufassen – dem Operations Room, der bis November 1972 installiert werden soll.“

Dieser Raum sollte sich später als wegweisend für die Gestaltung von Benutzeroberflächen erweisen, nicht wegen seiner innovativen Technik, sondern weil seine Designer den Benutzer in den Mittelpunkt stellten. „Besondere Aufmerksamkeit wird der Entwicklung von Mensch-Maschine-Schnittstellen gewidmet“, so Beer, und weiter: „Der Kontrollraum sollte NICHT als ein Raum mit interessanten Geräten betrachtet werden, sondern als eine Kontrollmaschine, die Menschen und Artefakte in einer symbiotischen Beziehung umfasst. Er muss als Ganzes und als operative Einheit konzipiert werden“ . Der Kontrollraum, auch Opsroom (für Operations Room) genannt, sollte später zum Aushängeschild des Projekts werden und das symbolische Herzstück bilden. Allende besuchte Ende 1972 den Prototyp des Raumes, den das Team in Santiago gebaut hatte.

Allendes letztes Jahr

Die Arbeiten am Projekt Cybersyn wurden 1972 kontinuierlich fortgesetzt. Im Oktober ereignete sich jedoch ein einschneidendes Ereignis, das weitreichende Folgen für die Regierung Allende und das Projekt hatte: Ein landesweiter Streik Tausender chilenischer Lastwagenfahrer versetzte das Land in einen Ausnahmezustand. Der Streik sollte die Macht des bürgerlichen Lagers demonstrieren, die Wirtschaft zum Stillstand zwingen und die Voraussetzungen für einen Putsch schaffen.

Um sich durch den Streik nicht in die Knie zwingen zu lassen, musste die Allende-Regierung einen Weg finden, die Lebensmittelversorgung des Landes aufrechtzuerhalten. Angesichts der Krise beschloss die Regierung, das für Cybersyn eingerichtete Fernschreibnetz zu nutzen. Das Netz wurde über die Industrie hinaus erweitert, um Nachrichten schnell und zuverlässig von den nördlichsten bis zu den südlichsten Regionen des Landes (etwa 5.152 Kilometer), von Arica bis Punta Arenas, zu übermitteln. Beer schätzt, dass während des Streiks täglich 2.000 Nachrichten über das Telexnetz verschickt wurden. „Der Lärm war unbeschreiblich“, erinnert sich Beer an das gleichzeitige Klappern von 20 Telexgeräten in der Kommandozentrale, die das Team in der CORFO eingerichtet hatte. Das Telexnetz half der Regierung, Rohstoffe, Treibstoff und Transportmittel dorthin zu leiten, wo sie am dringendsten benötigt wurden. Es ermöglichte der Regierung auch, den Überblick über die regierungstreuen Lkw-Fahrer zu behalten und zu wissen, welche Straßen blockiert und welche frei waren. Dank des Telexnetzes konnte die Regierung auf viele der durch den Streik verursachten Notfälle reagieren, was wesentlich zu ihrem politischen Überleben beitrug.

Dennoch markierte der Streik einen Wendepunkt. Die Opposition hatte die Regierung dauerhaft in die Defensive gedrängt, sie kämpfte im Grunde nur noch um den Machterhalt. Der Oktoberstreik veränderte auch die Sicht von Beer und Flores auf die Beziehung zwischen Technologie und Politik. Flores hielt Cybersyn zwar immer noch für nützlich, hatte aber inzwischen erkannt, dass das System nicht in der Lage war, die wirtschaftlichen und politischen Probleme Chiles in ihrer Gesamtheit zu lösen oder die Struktur der chilenischen Gesellschaft zu verändern. Selbst wenn die technologischen Komponenten des Projekts fertiggestellt würden, könnte Cybersyn die wachsenden Probleme, wie galoppierende Inflation, fehlende Auslandskredite, fallende Kupferpreise, Schwarzmarkthandel und die Möglichkeit von Gewaltausbrüchen, nicht lösen. Während Flores immer mehr Machtpositionen in der Allende-Regierung übernahm, änderte sich seine Einstellung. Statt in Wissenschaft und Technologie den Schlüssel zur revolutionären Umgestaltung Chiles zu sehen, erkannte er nun deren Grenzen angesichts der realen Möglichkeit eines Militärputsches.

Beer hingegen kam nach dem Streik zu der Überzeugung, dass nicht nur das Produktionsmanagement, sondern auch viele andere Aspekte des chilenischen Sozialismus von der Kybernetik profitieren könnten. In den Monaten nach dem Streik dachte er über neue Möglichkeiten nach, sozialistische Werte in das Design und die Architektur von Cybersyn einzubauen, und stellte die Theorie auf, dass diese eingebetteten Werte die sozialen Beziehungen in den Betrieben und in der chilenischen Gesellschaft verändern könnten. Zum Beispiel bestand er darauf, dass die Arbeiter die Kontrolle über die Nutzung von Cybersyn haben und dazu befähigt werden sollten. Der Kontrollraum sollte für die Arbeiter jederzeit zugänglich sein, und Beer setzte sich sogar für die Entwicklung einer Benutzeroberfläche ein, die keine Tastaturkenntnisse voraussetzte. Außerdem empfahl er, die Modelle für die staatlich kontrollierten Fabriken von den Arbeitern entwerfen zu lassen: „Niemand ist besser geeignet, eine Fabrik zu entwerfen, als der Mann, der sein Leben lang in ihr gearbeitet hat. Er kennt sie.“

Beer drängte die Regierung, Cybersyn in der staatlichen Propaganda als Symbol der technologischen Errungenschaften Chiles im Sozialismus zu verwenden. Im Dezember verfasste er einen Bericht, in dem er die Rolle der Kybernetik beim Übergang Chiles zum Sozialismus beschrieb, und zwar nicht nur bei der Regulierung der Produktion, sondern auch bei der Regulierung der Verteilung und des Verbrauchs. In einem Vortrag im Februar 1973 erläuterte er, wie sein kybernetischer Managementansatz das chilenische Volk befähigen und ihm die Macht der Wissenschaft zur Verfügung stellen würde. „Ich weiß, dass ich mich maximal für die Dezentralisierung der Macht einsetze“, sagte er dem Publikum.„ Die Regierung hat ihre Revolution um sie herum aufgebaut; ich denke, das ist gute Kybernetik.“ Beer betonte, dass die Werkzeuge, die er in Chile in Absprache mit Arbeitern entwickelt habe, „Werkzeuge des Volkes“ seien. Die chilenische Opposition konterte und verglich das System mit einer neuen Form staatlicher Überwachung, die zu mehr Kontrolle und Missbrauch führe.

Im August organisierte die Opposition einen zweiten Streik der Lastwagenfahrer, um den Güterverkehr lahmzulegen, die Wirtschaft zu sabotieren und die Regierung zu stürzen. Erneut nutzte die Regierung das für das Projekt Cybersyn aufgebaute Telexnetz, um in Echtzeit mit adaptivem Management zu reagieren. Dank dieser Informationen wussten die Behörden, welche Lastwagen zur Verfügung standen, wo sich die Ressourcen befanden und welche Straßen frei waren. Aber das konnte die Oppositionellen nicht davon abhalten, die Lastwagen, Busse und Züge anzugreifen, die weiterhin in Betrieb waren. Bis Mitte August starben 20 Menschen. In den Fabriken schlossen sich immer mehr chilenische Arbeiter der Bewegung der Radikalen Linken an und begannen, sich auf einen bewaffneten Konflikt im Land vorzubereiten. Mitten in dieser Entwicklung ernannte Allende Flores zum Generalsekretär der Regierung und damit zum Verantwortlichen für die interne und externe Kommunikation. Mit gerade einmal 30 Jahren bekleidete Flores nun eine der höchsten Positionen in einer Regierung, die unter Beschuss stand.

Wenige Tage bevor die Militärs das sozialistische Experiment in Chile gewaltsam beendeten, bat der Präsident darum, den Cybersyn-Kontrollraum von seinem bisherigen Standort in den Präsidentenpalast zu verlegen. Warum Allende den Kontrollraum in La Moneda haben wollte, ist unklar. Vielleicht wollte er mit allen Mitteln versuchen, die Kontrolle über sein Land zurückzugewinnen und griff nach einem so kleinen Strohhalm wie der Einrichtung eines kybernetischen Kontrollraumes. Doch dazu kam es nicht mehr.

Am 11. September 1973 hielt der Präsident kurz nach 9 Uhr morgens seine letzte Radioansprache. Gegen Mittag feuerten Hawker-Hunter-Kampfflugzeuge Raketen auf den Präsidentenpalast. Um 14 Uhr war Allende tot. Mit dem gewaltsamen Ende des politischen Experiments des Sozialismus in Chile beendete das Militär auch das technologische Experiment des kybernetischen Managements.

Die Geschichte des chilenischen Versuchs, eine ehrgeizige, unvollkommene und in vielerlei Hinsicht futuristische Technologie zu schaffen, veranschaulicht die komplexe Art und Weise, in der Menschen versuchen, Computer- und Kommunikationstechnologie zu nutzen, um soziale, wirtschaftliche und politische Veränderungen herbeizuführen. Chiles innovatives politisches Experiment des demokratischen Sozialismus und die Schaffung dieses innovativen technologischen Systems zeigen, dass politische Innovationen technologische Innovationen vorantreiben können. Wissenschaft, Technologie und Design waren charakteristische Merkmale des sozialistischen Prozesses in Chile. Politische Kontexte können neue Räume für technologische Möglichkeiten eröffnen. Sie können sie aber auch verhindern, unabhängig von den Vorzügen oder Unzulänglichkeiten des Systems.

Überarbeiteter Auszug aus Eden Medina, Cybernetic Revolutionaries: Technology and Politics in Allende’s Chile, Cambridge MA, MIT-Press 2011.

Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, Pforzheim

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. United States Senate, Covert Action in Chile, 1964–1973: Staff Report of the Select Committee to Study Governmental Operation with Respect to Intelligence Activities, Washington, D.C. 1975, S. 151.

  2. Am Ende von Allendes Präsidentschaft machten die Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes im staatlichen Sektor etwa 40 Prozent der gesamten chilenischen Industrieproduktion aus, gemessen am Umsatz. Siehe Juan G. Espinosa/Andrew S. Zimbalist, Economic Democracy: Workers’ Participation in Chilean Industry, 1970–1973, New York 1978, S. 50.

  3. Fernando Flores, Brief an Stafford Beer, 13.7.1971, Box 55, Stafford Beer Archive, Liverpool John Moores University Special Collections & Archives.

  4. Norbert Wiener, Cybernetics: Or Control and Communication in the Animal and the Machine, Cambridge MA 19652.

  5. Stafford Beer, Brief an Fernando Flores, 29.7.1971, Box 55, Beer Archive.

  6. Vgl. Peter Winn, Weavers of Revolution: The Yarur Workers and Chile’s Road to Socialism, New York 1986, S. 142.

  7. Vgl. Sergio Bitar, Chile: Experiment in Democracy, Philadelphia 1986, S. 52.

  8. Vgl. ebd., S. 45.

  9. Stafford Beer, Project Cyberstride, November 1971, Box 56, Beer Archive.

  10. Ebd.

  11. Stafford Beer, The Liberty Machine: Can Cybernetics Help Rescue the Environment?, in: Futures 4/1971, S. 343.

  12. Ebd., S. 347.

  13. „Interventor“ ist eine chilenische Wortschöpfung. Auf Unternehmensebene (ein Unternehmen konnte mehrere Produktionsstätten haben) ernannte die Regierung einen oder mehrere sogenannte Interventors, die das Tagesgeschäft anstelle der bisherigen Eigentümer und Manager leiteten.

  14. Vgl. Stafford Beer, Cyberstride: Preparations, Januar 1972, Box 57, Beer Archive. Später sollte diese Funktion dem Team dabei helfen, auf die Vorwürfe zu reagieren, es baue ein übermäßig zentralisiertes System zur Kontrolle der chilenischen Arbeiter auf.

  15. Ebd.

  16. Stafford Beer, Project Cybersyn, März 1972, Box 60, Beer Archive.

  17. Ebd.

  18. Eigenes Interview mit Stafford Beer, Toronto 15./16.3.2001. Raúl Espejo nannte die Zahl der Telexgeräte, als ich ihn 2006 interviewte.

  19. Stafford Beer, One Year of (Relative) Solitude: The Second Level of Recursion, Dezember 1972, Box 60, Beer Archive.

  20. Ders., Fanfare for Effective Freedom: Cybernetic Praxis in Government, New York 1975, S. 428.

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ist Wissenschafts- und Technikhistorikerin und Associate Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT).
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