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Editorial | Chile | bpb.de

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Editorial

Lorenz Abu Ayyash

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Vor 50 Jahren, am 11. September 1973, stürzten Teile des chilenischen Militärs die demokratisch gewählte Regierung von Salvador Allende. Mit der Wahl Allendes stand 1970 weltweit erstmals ein bekennender Marxist an der Spitze eines demokratisch regierten Landes. Nach dreijähriger Amtszeit kam es zum Putsch: Die Luftwaffe bombardierte den Präsidentenpalast, Allende nahm sich das Leben, und der Oberbefehlshaber der chilenischen Armee, Augusto Pinochet, kam an die Macht. Folter, politische Morde und Terror gegen Oppositionelle folgten. Die Gewaltherrschaft forderte nach offiziellen Angaben über 3.200 Tote und "Verschwundene" sowie rund 38.000 politische Gefangene und Folteropfer – die Dunkelziffer wird deutlich höher vermutet. Viele chilenischen Familien wissen bis heute nichts über den Verbleib ihrer verschleppten Angehörigen.

Zum Machtapparat der Diktatur gehörte auch eine Siedlung, die 1961 von ausgewanderten Deutschen rund um den Laienprediger Paul Schäfer gegründet worden war: die Colonia Dignidad. Rund 350 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago wurde dort systematisch sexualisierte Gewalt an Minderjährigen verübt – sowohl an Mitgliedern der Kolonie als auch an chilenischen Kindern aus der ländlichen Umgebung. Nach dem Putsch wurde die Colonia Dignidad zu einem Werkzeug der Diktatur und zu einem Ort, an dem politische Gegner gefoltert und ermordet wurden. Die Aufarbeitung der Verbrechen, an denen deutsche Behörden eine Mitverantwortung tragen, verläuft schleppend.

Die Pinochet-Diktatur endete 1990, aber sie wirkt auch jenseits der Menschenrechtsverletzungen nach: Das Wirtschaftssystem der sogenannten Chicago Boys – einer Gruppe liberaler chilenischer Ökonomen, die in den USA studiert hatten – gehört ebenso zu ihrem Erbe wie die Verfassung, die die Diktatur dem Land 1980 gab. Beides war Gegenstand der Massenproteste 2019, die schließlich zu sozialen Reformen und einem neuen Verfassungsentwurf führten. Eine deutliche Mehrheit der chilenischen Wählerinnen und Wähler lehnten diesen jedoch im September 2022 ab – eine schmerzliche Niederlage für alle, die die diktatorische Vergangenheit überwinden wollen. Nun liegt ein neuer Verfassungsentwurf vor, über den im Dezember 2023 abgestimmt werden soll.