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Bedrohte Demokratie | China und seine Nachbarn | bpb.de

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Bedrohte Demokratie Der Konflikt in der Taiwanstraße

Frédéric Krumbein

/ 17 Minuten zu lesen

Die Volksrepublik China sieht das de facto souveräne und demokratische Taiwan als Teil ihres eigenen Staatsgebietes und fordert eine "Wiedervereinigung". Während China den Druck fortwährend erhöht, wird das Szenario einer Annexion immer wahrscheinlicher.

Taiwan gehört zu den am meisten bedrohten Staaten der Welt: Die Volksrepublik China beansprucht das de facto souveräne Land als Teil des eigenen Territoriums. Aus ihrer Sicht ist der Inselstaat eine abtrünnige Provinz, die mit dem Festland "wiedervereinigt" (tongyi) werden muss. Dabei ist der Begriff "Wiedervereinigung" missverständlich, da Taiwan zum einen nie Teil der Volksrepublik gewesen ist und zum anderen die große Mehrheit der taiwanischen Bevölkerung kein Teil davon werden möchte. Zutreffender für die Interessen Beijings ist der Begriff der "Annexion", der im Völkerrecht die illegale militärische Eroberung eines fremden Territoriums bezeichnet.

Die Republik China, wie Taiwan offiziell genannt wird, wurde 1912 auf dem chinesischen Festland gegründet. Das Territorium reduzierte sich im Verlauf des Chinesischen Bürgerkrieges zwischen 1927 und 1949 auf Taiwan und weitere kleine Inseln, nachdem der Widersacher Mao Zedongs, Chiang Kai-shek, und seine Partei Kuomintang eine Niederlage gegen die Kommunisten hinnehmen mussten. Seit der Flucht von Chiang Kai-shek mit rund zwei Millionen seiner Soldaten sowie weiterer Gefolgsleute nach Taiwan 1949 sind Taiwan und die Republik China weitgehend synonym zu verstehen.

Das offizielle Ziel der Volksrepublik China ist ein friedlicher und freiwilliger Zusammenschluss von Taiwan mit dem chinesischen Festland. Allerdings erscheint dies unwahrscheinlich, da die taiwanische Bevölkerung ihre eigene Freiheit und demokratische Selbstbestimmung nicht aufgeben möchte. Als Teil der autoritären Volksrepublik würden die Taiwaner:innen ihre Freiheit, ihre Menschenrechte und das Recht, ihre eigene Regierung zu wählen, verlieren.

Seit den ersten freien Wahlen in Taiwan in den 1990er Jahren hat sich die Inselrepublik zu einem demokratischen Vorbild in Asien entwickelt. Der Demokratieindex des britischen Forschungsinstituts Economist Intelligence Unit sieht Taiwan bei der Qualität der Demokratie und der Menschenrechte seit 2020 auf dem ersten Platz in Asien. Weltweit steht Taiwan 2022 auf dem zehnten Platz. Andere unabhängige Organisationen, wie Freedom House, Reporter ohne Grenzen oder die beiden größten Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch, kommen zu vergleichbaren positiven Einschätzungen. Beispielsweise sieht Reporter ohne Grenzen Taiwan im Bereich der Pressefreiheit auf dem ersten Platz in Asien.

Im Folgenden wird zunächst die Strategie skizziert, die Beijing verfolgt, um Taiwan politisch, militärisch und wirtschaftlich zu schwächen. Anschließend werden die Beziehungen zwischen Taiwan und den Vereinigten Staaten als seine Schutzmacht erläutert und schließlich verschiedene Szenarien dargestellt, mit denen China eine Annexion erzwingen oder zumindest versuchen könnte.

Chinas Strategie zur Schwächung Taiwans

Die offizielle Strategie Chinas ist eine "friedliche Wiedervereinigung". Allerdings läuft dieses Ziel auf eine Veränderung des seit 70 Jahren bestehenden Status quo und die Auflösung der bestehenden Republik China hinaus. Die Vision eines Zusammenschlusses Taiwans mit dem chinesischen Festland hat Beijing in sogenannten Weißbüchern dargelegt, die 1993, 2000 und 2022 veröffentlicht wurden. Das jüngste Weißbuch zeigt eine Verhärtung der chinesischen Position: Taiwan soll unter der Formel "Ein Land, zwei Systeme" eine gewisse politische Autonomie genießen. Allerdings zeigt das Beispiel von Hongkong, auf das diese Formel bereits angewandt wurde, dass diese "Autonomie" weder Demokratie noch umfassende Freiheitsrechte beinhalten würde. Das Weißbuch von 2022 droht ebenfalls allen Taiwaner:innen, die sich gegen die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) wenden, mit politischer Verfolgung. Darüber hinaus wird eine Umerziehung der taiwanischen Bevölkerung gemäß der Parteilinie angestrebt, um die Menschen von demokratischen Wertevorstellungen abzubringen.

China setzt gegenüber Taiwan auf eine Doppelstrategie: Auf der einen Seite werden Anreize für einen Zusammenschluss geschaffen, auf der anderen Seite politischer, wirtschaftlicher und militärischer Druck aufgebaut, um Taiwan einzuschüchtern und den Status quo unattraktiv zu gestalten. Die überwältigende Mehrheit der Taiwaner:innen möchte nicht Teil der Volksrepublik China werden, insofern sind die Anreize, die Beijing setzt, bislang nicht ausreichend. Das Hauptproblem ist dabei, dass es kein attraktives Angebot gibt, das im Zuge einer "Wiedervereinigung" Demokratie und Freiheit garantieren würde. Die Formel "Ein Land, zwei Systeme" würde die bestehende Selbstbestimmung der Menschen in Taiwan stark einschränken. Insofern bemüht sich Beijing zumindest, wirtschaftliche Anreize zu setzen, und hat in den vergangenen Jahren weitere Vorteile und Erleichterungen für Taiwaner:innen eingeräumt: 2018 wurden 31 Maßnahmen verabschiedet, die unter anderem die Rechte und Möglichkeiten von Taiwaner:innen gestärkt haben, gemäß bilateralen Kooperationen in Bildung und Forschung sowie dem Marktzugang und den Investitionsmöglichkeiten von taiwanischen Unternehmen in China auf dem chinesischen Festland zu leben und zu arbeiten. Ein offensichtliches Problem bleibt dennoch bestehen: Politische Teilhabe, Freiheits- oder Grundrechte sind nicht Teil jener Rechte, die Menschen in der Volksrepublik China besitzen. Damit können sie auch nicht Taiwaner:innen gewährt werden. Die genannten Anreize und die engen wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen führen zwar dazu, dass viele Menschen in Taiwan gute Beziehungen mit China haben wollen, aber dies wird strikt getrennt von einer politischen Vereinigung, die sich kaum jemand in Taiwan wünscht – und wenn, dann höchstens als Teil eines demokratischen Chinas und nicht als Teil der Volksrepublik.

Aus diesem Grund zielt der zweite Teil der Doppelstrategie Beijings darauf, durch die Anwendung von politischem, wirtschaftlichem und militärischem Druck sowohl Taiwans formale Unabhängigkeit zu verhindern als auch Taiwan zu einer Vereinigung mit dem Festland zu zwingen. Darunter fallen Aktivitäten und Taktiken, die sich in einer Grauzone zwischen Krieg und Frieden bewegen.

Der politische und wirtschaftliche Druck Chinas zielt zum einen auf Taiwan selbst, zum anderen auf die internationale Gemeinschaft. Da die Regierung der taiwanischen Präsidentin Tsai Ing-wen in der Volksrepublik als unfreundliche Regierung wahrgenommen wird, wurden wirtschaftliche Sanktionen gegen einige landwirtschaftliche Produkte aus Taiwan verhängt, darunter Ananas und bestimmte Fischarten. Die Bedeutung der chinesischen Importbeschränkungen für Taiwans Volkswirtschaft ist insgesamt zwar gering, trifft aber Taiwans Agrarsektor, insbesondere im Süden des Landes. Beijing sucht gezielt taiwanische Agrarprodukte aus, bei denen der chinesische Markt einen hohen Anteil der Exporte ausmacht. Landwirt:innen sind eine wichtige Wählergruppe der in Taiwan regierenden Demokratischen Fortschrittspartei und insofern eine geeignete Zielgruppe für Beijings Versuche, die taiwanische Regierung unter Druck zu setzen.

Zudem ist Taiwan das Hauptziel von chinesischer Propaganda und Desinformationskampagnen. Über klassische Medien, wie Fernsehen, Tageszeitungen und soziale Medien, verbreitet die Führung in Beijing ein positives Bild der Volksrepublik und einer Vereinigung mit Taiwan und diskreditiert im Gegensatz dazu Taiwans Demokratie. Einige sogenannte rote Medien in Taiwan, benannt nach der roten Farbe der KPCh, gehören chinafreundlichen Unternehmern, die vor allem die offiziellen Positionen Beijings wiedergeben. Darüber hinaus werden immer wieder Falschinformationen mit dem Ziel verbreitet, das Vertrauen der taiwanischen Bevölkerung in die eigene Regierung und das demokratische System zu untergraben. Je schlechter Taiwans Demokratie in der Berichterstattung dasteht, desto attraktiver erscheint die Volksrepublik China im Systemwettbewerb – so das Kalkül der chinesischen Führung.

Aufgrund von Taiwans internationalem Status als de facto unabhängiger Staat, der jedoch von den meisten Staaten nicht anerkannt wird, ist das Land nur in wenigen internationalen Organisationen Mitglied, darunter in der Welthandelsorganisation und im Internationalen Olympischen Komitee. Infolge der "Ein-China-Politik", die als Bedingung für diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik China ebenso wie für deren Beteiligung in internationalen Organisationen die Anerkennung eines ungeteilten Chinas einschließlich Taiwans voraussetzt, muss Taiwan dort einen anderen Namen verwenden. So darf es nur als "Chinesisch Taipeh" und unter einer eigens gestalteten Flagge an den Olympischen Spielen teilnehmen – beides lässt offen, ob Taiwan zur Volksrepublik gehört oder nicht. Weiterhin bemüht sich Beijing aktiv darum, die verbliebenen 13 Staaten, die Taiwan als souveränen Staat anerkennen, davon zu überzeugen, ihre diplomatischen Beziehungen mit Taipeh abzubrechen.

Die Instrumente zur Unterminierung von Taiwans Souveränität und zur Einschüchterung der Bevölkerung umfassen auch eine militärische Dimension, darunter regelmäßige Verletzungen der taiwanischen exklusiven Wirtschaftszone und des taiwanischen Luftüberwachungsraums durch die Volksbefreiungsarmee. Taiwans Hoheitsgewässer, die sogenannte Zwölfmeilenzone, und der Luftraum über Taiwans Landfläche werden dabei zwar nicht verletzt, das regelmäßige Eindringen von chinesischen Kampfflugzeugen und Kriegsschiffen in die von Taiwan überwachten Luft- und Seegebiete markiert dennoch eine militärische Eskalation vonseiten Chinas, die erst seit wenigen Jahren in dieser Form stattfindet. Ein Beispiel dafür ist die regelmäßige Überschreitung der sogenannten Mittellinie durch Chinas Luftwaffe, die US-General Benjamin O. Davis 1955 in Reaktion auf die erste Taiwanstraßenkrise 1954/55 durch die Taiwanstraße zog, um eine sichere Distanz von Kampfflugzeugen zu gewährleisten und so einen Konflikt zwischen beiden Seiten zu vermeiden. Bis 2020 wurde die Linie nur in wenigen Ausnahmefällen von chinesischen Kampfflugzeugen überflogen. Seit September 2020 hat die chinesische Luftwaffe die Regelung jedoch etliche Male verletzt und Beijing die Existenz der Linie bestritten.

Im August 2022 und im April 2023 hielt China zudem großangelegte Militärübungen im Umfeld Taiwans ab, bei denen verschiedene militärische Szenarien, wie eine Blockade der Insel, simuliert wurden. Beide Male standen die Militärübungen im Zusammenhang mit Treffen von Präsidentin Tsai mit den jeweiligen Sprecher:innen des US-Repräsentantenhauses, dem dritthöchsten politischen Amt in den USA nach dem Präsidenten und der Vizepräsidentin. Im August 2022 war Nancy Pelosis Reise nach Taiwan der höchstrangigste Besuch einer US-Delegation seit 25 Jahren. Ende März und Anfang April 2023 besuchte Präsidentin Tsai wiederum die USA, offiziell nur als Privatperson und nicht als Staatsoberhaupt Taiwans. Während dieses Besuches traf sie aber den neuen Sprecher des US-Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy. China kritisierte beide Zusammenkünfte scharf und führte die großangelegten Militärübungen durch, um sowohl Taiwan als auch die USA zu warnen und die Fähigkeit der Volksbefreiungsarmee zu stärken, eine potenzielle Blockade oder Invasion der Insel durchzuführen.

Taiwans Schutzmacht USA

In jedem politischen und militärischen Szenario für Taiwans Zukunft kommt den USA eine entscheidende Rolle zu, da Taiwan auf sich alleingestellt kaum in der Lage sein würde, einem chinesischen Angriff über längere Zeit standzuhalten. Die USA sind die militärische Schutzmacht Taiwans, auch wenn es keine formale Beistandsverpflichtung wie bei der NATO oder den Allianzen der USA mit Japan, Südkorea oder den Philippinen gibt. Die USA und Taiwan hatten zwischen 1954 und 1979 einen Beistandspakt (Sino-American Mutual Defense Treaty), der aber mit dem Abbruch der offiziellen diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Seiten 1979 im Zusammenhang mit der offiziellen Anerkennung der VR China durch die USA aufgekündigt wurde. Seitdem bildet seitens der USA der Taiwan Relations Act die wichtigste rechtliche Grundlage der Beziehungen. Das Gesetz wurde 1979 mit großer Mehrheit vom US-Kongress verabschiedet und verpflichtet die USA unter anderem dazu, Waffen zur Selbstverteidigung an Taiwan zu liefern. Es verdeutlicht zudem, dass jede gewaltsame Veränderung von Taiwans Status quo von den USA mit "großer Sorge" (grave concern) betrachtet werden würde und dass jede Veränderung des Status quo friedlich zu erfolgen habe. Die USA verfolgen in Bezug auf einen möglichen Konflikt um Taiwan die Strategie der "strategischen Ambiguität", das heißt, sie behalten sich die Entscheidung vor, ob und wie sie bei einem chinesischen Angriff auf Taiwan reagieren würden.

Die zunehmend aggressive Haltung Beijings hat allerdings dazu geführt, dass sich die USA deutlicher als früher positionieren. US-Präsident Joe Biden hat seit seinem Amtsantritt 2021 allein vier Mal bekräftigt, dass die USA Taiwan bei einem chinesischen Angriff verteidigen würden. Seine Regierung hat zwar relativiert, dass sich die US-amerikanische Position nicht geändert habe, aber dennoch gehen alle Seiten – nicht nur Taiwan, sondern auch China – davon aus, dass die USA Taiwan im Verteidigungsfall beistehen würden. In Washington ist die Debatte über ein eindeutiges Bekenntnis zu Taiwans Verteidigung indes in vollem Gange. Auf der einen Seite liegt der Vorteil der strategischen Ambiguität in der Möglichkeit für die USA, sich mehrere Optionen offen halten und flexibel reagieren zu können. Gleichzeitig soll die damit verbundene Unsicherheit auch unüberlegte Handlungen Taiwans verhindern, wie zum Beispiel eine einseitige formale Unabhängigkeitserklärung. Diese könnte für China möglicherweise als Kriegsgrund gelten, wodurch die USA in einen direkten militärischen Konflikt mit der Volksrepublik hineingezogen werden könnten. Auf der anderen Seite besteht die Sorge, dass die Ambiguität der USA China nicht mehr ausreichend vor einem Angriff auf Taiwan abschrecken könnte.

Eine militärische Annexion Taiwans durch China hätte für die USA in mehreren Aspekten große Konsequenzen: Erstens würden die USA einen wichtigen Verbündeten und Freund verlieren, zumal es sich bei Taiwan um eine geostrategisch bedeutende Insel handelt. Taiwan wäre für die chinesische Hochseeflotte ein idealer Stützpunkt, um ungehindert im Pazifik zu operieren, die zentralen Schifffahrtsrouten im Ost- und Südchinesischen Meer zu kontrollieren oder Japan zu bedrohen und anzugreifen. Zweitens würde mit der Republik China die einzige Demokratie im chinesischen Kulturraum, die es je gegeben hat, aufhören zu existieren. Der Verlust Taiwans wäre ein herber Rückschlag für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte weltweit und ein Symbol für den globalen Vormarsch von Autoritarismus und Repression, den Washington mit Sorge beobachtet. Drittens würden eine Weigerung oder potenzielle militärische Unfähigkeit der USA, Taiwan zu verteidigen, die Glaubwürdigkeit der USA als internationaler Bündnispartner stark beschädigen. Das globale System aus militärischen Allianzen geriete also in Gefahr, wenn die USA nicht in der Lage wären, die Sicherheit eines langjährigen Partners wie Taiwan zu garantieren. Viertens ist Taiwans Wirtschaft, insbesondere seine Halbleiterindustrie, unverzichtbar für die Volkswirtschaften nicht nur der Vereinigten Staaten, sondern auch von Deutschland und anderen hochentwickelten Staaten.

Szenarien einer Annexion

Sollten die Grauzonen-Taktik Chinas sowie deren wirtschaftliche Anreize für Taiwan nicht zu einer Vereinigung führen, steht als letztes Mittel eine gewaltsame Annexion im Raum.

Ein erstes Szenario einer solchen Annexion wäre die vollständige Blockade der taiwanischen Hauptinsel durch chinesische Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge. China könnte dabei ebenfalls zu Taiwan gehörende kleinere Inselgruppen, wie Kinmen, Matsu oder Penghu, angreifen und besetzen, da diese relativ einfach zu erobern wären. Das Ziel einer Blockade beziehungsweise weiterer militärischer Aktionen unterhalb der Schwelle einer Invasion von Taiwans Hauptinsel wäre es, Taiwan zu Verhandlungen zu zwingen, bei denen die taiwanische Regierung einer "Wiedervereinigung" zu den Bedingungen der Volksrepublik zustimmen müsste. Dieses Szenario hätte aus Sicht Beijings den Vorteil, dass es militärisch für die Volksbefreiungsarmee durchführbar wäre. Eine Blockade könnte dabei der Beginn einer militärischen Operation gegen Taiwan sein, bei der China Schritt für Schritt die Anwendung militärischer Gewalt steigert, bis Taiwan kapituliert oder aus Sicht der Volksrepublik ausreichend Konzessionen macht, also sich einer Annexion unter für Beijing akzeptablen Bedingungen nicht länger verweigert. Allerdings erscheint es unwahrscheinlich, dass Taiwan nicht versuchen würde, die Blockade durch das eigene Militär zu durchbrechen. In diesem Fall würde es letztlich zu einem Krieg zwischen beiden Seiten kommen. Um Taiwans Militär daran zu hindern, die Volksbefreiungsarmee anzugreifen, müsste China auch Ziele auf Taiwan selbst attackieren. Hinzu kommt, dass auch die USA vermutlich auf eine Blockade reagieren würden. Zum Beispiel könnten sie einen Konvoi aus Schiffen schicken, um die Blockade zu durchbrechen. In dem Fall müsste die chinesische Führung entscheiden, ob sie die US-amerikanischen Schiffe angreifen lässt oder es ihnen erlaubt, Taiwan zu erreichen.

Ein zweites Szenario wäre eine Invasion Taiwans durch die Volksbefreiungsarmee. Diese könnte als letzte Stufe in einer Eskalationsspirale erfolgen, nachdem Taiwan bereits durch politische und wirtschaftliche Sanktionen, Propaganda und eine Blockade geschwächt worden wäre. Bei entschlossenem Widerstand der taiwanischen Streitkräfte und der Bevölkerung wäre es für China schwierig und nur unter hohen Verlusten möglich, die Insel zu erobern. Trotzdem könnte sich Taiwan eines massiven chinesischen Angriffs über mehrere Tage oder Wochen hinaus nur mit Unterstützung durch die USA und gegebenenfalls andere Staaten, wie Japan und Australien, erwehren. Expert:innen sind sich uneinig in der Frage, welche Seite in einem Konflikt den Sieg davontragen würde. In jedem Fall wäre es ein Pyrrhussieg, unabhängig davon, wer gewinnen würde – für Taiwan wäre jeder Krieg eine Katastrophe. Selbst im Falle der erfolgreichen Abwehr einer chinesischen Invasion wären vermutlich weite Teile der Insel zerstört und viele Menschen tot oder verwundet. Aber auch für China und die USA wäre eine militärische Eskalation nicht nur kostspielig und mit hohen Verlusten verbunden, letztlich würde ein Krieg zwischen den beiden größten Wirtschafts- und Militärmächten der Welt auch zu einer globalen Wirtschaftskrise führen.

Bei der Frage nach dem möglichen Zeitpunkt für einen Krieg zwischen China und Taiwan gibt es ebenfalls unterschiedliche Einschätzungen. Je nach Projektionen über das Machtgleichgewicht zwischen China auf der einen Seite und Taiwan und den USA auf der anderen wird eine Invasion in den Jahren 2025 bis 2027, in den 2030er oder 2040er Jahren für wahrscheinlicher gehalten. Je nachdem, wie sich die Volkswirtschaften und militärischen Fähigkeiten beider Seiten entwickeln, variiert der Zeithorizont. Diejenigen, die Chinas wirtschaftliche Entwicklung eher pessimistisch einschätzen, halten eine Invasion in näherer Zeit für wahrscheinlicher, weil China in zehn oder 15 Jahren vielleicht nicht mehr die militärische Stärke für einen erfolgreichen Angriff hätte. Für einen baldigen Angriff spricht auch, dass Taiwan, die USA und andere Verbündete, wie Japan, unter Umständen nicht ausreichend vorbereitet sind, um einen chinesischen Angriff erfolgreich abzuwehren. Die USA haben erst unter der Trump-Administration ernsthaft damit begonnen, ihre militärischen Ressourcen im asiatisch-pazifischen Raum auszubauen und sich auf einen Konflikt mit China vorzubereiten. Chinas Staats- und Parteiführer Xi Jinping soll die chinesische Volksbefreiungsarmee angewiesen haben, bis 2027 für eine Invasion Taiwans vorbereitet zu sein.

Ob und wann es zu einem militärischen Konflikt um Taiwan kommt, hängt somit von mehreren Faktoren ab. Dabei wird auch einiges von Xi Jinping persönlich abhängen. Viele gehen davon aus, dass er während seiner Amtszeit, die eventuell mit seiner Lebenszeit zusammenfällt, Chinas imperiale Ambition einer Annexion Taiwans verwirklichen will. Sein Leitbild der "großen Auferstehung der chinesischen Nation" und der Verwirklichung des "chinesischen Traums" soll bis 2049 realisiert werden und wäre ohne eine Annexion Taiwans unvollständig. Insgesamt bleibt aber unsicher, ob eine Invasion überhaupt droht und falls ja, zu welchem Zeitpunkt. Sicher ist nur, dass Taiwan, die USA und die EU sich auf einen solchen Konflikt vorbereiten müssen – mit dem Ziel, diesen durch eine Bündelung der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Abschreckungskapazitäten zu verhindern.

Strategien gegen einen chinesischen Angriff

Taiwan, dessen Nachbarstaaten und die USA reagieren auf Chinas zunehmend aggressives Verhalten nicht nur mit neuen Strategien, sondern auch mit einer Erhöhung ihrer Verteidigungsausgaben. Taiwan hat seit Amtsantritt von Präsidentin Tsai 2016 seinen Verteidigungsetat deutlich gesteigert, auf über 20 Milliarden US-Dollar für 2023. Zur Steigerung der Verteidigungsausgaben tragen verschiedene Sonderausgaben bei, wie der Kauf von F-16-Kampfflugzeugen von den USA und die gesteigerte Produktion von Raketen. Das geschätzte Verteidigungsbudget der Volksrepublik beträgt dagegen aber mindestens das Fünfzehnfache. Taiwan hat außerdem die bestehende Wehrpflicht von vier Monaten auf ein Jahr erhöht und die Reservestreitkräfte- und Territorialverteidigung gestärkt. Die verlängerte Wehrpflicht wird im Januar 2024 eingeführt.

Taiwans Militär verfolgt dabei die sogenannte Stachelschweinstrategie, die eine Invasion durch China so schwer und kostspielig wie möglich machen soll. Mobile Defensivwaffen, wie Raketen, Drohnen und Minen, Befestigungsanlagen und eine umfassende Mobilisierung der taiwanischen Bevölkerung für einen Abwehrkampf, sind die Grundpfeiler dieser Strategie. Mobile Panzer- und Flugabwehrraketen, wie die US-amerikanischen Javelin und Stinger, gehören dabei zu den essenziellen Waffensystemen. Darüber hinaus modernisiert und erweitert Taiwan seine "großen" Waffensysteme, wie Kriegsschiffe, U-Boote, Panzer und Kampfflugzeuge, die im Kauf allerdings sehr teuer sind. Diese eher traditionellen Kampfmittel sind erforderlich, um auf chinesische Grauzonentaktiken, wie das Eindringen chinesischer Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe in Taiwans Luftüberwachungsraum und Gewässer, reagieren zu können. Dennoch käme dem im Falle einer chinesischen Invasion nur begrenzter Nutzen zu. Viele Flugzeuge und Schiffe würden vermutlich innerhalb kurzer Zeit durch massive chinesische Raketenangriffe und Bombardements zerstört werden.

Letztlich hängt die "richtige" Strategie von der Einschätzung der Bedrohung ab. Steht eine Invasion bevor oder wird China eher seine Grauzonentaktiken fortsetzen? Wann wäre mit einer Invasion zu rechnen oder bleibt ein solches Szenario unwahrscheinlich? Vor allem die USA drängen Taiwan dazu, stärker auf die Stachelschweinstrategie zu setzen und sich besser auf das Szenario einer Invasion vorzubereiten, während Taiwans Verteidigungsministerium weiterhin den großen und kostspieligen Waffensystemen eine maßgebliche Rolle in der militärischen Strategie und Planung zugesteht, gleichberechtigt neben der Stachelschweinstrategie.

Die USA haben ebenfalls damit begonnen, ihre militärische Präsenz im pazifischen Raum zu verstärken. Die chinesische Strategie würde im Kriegsfall darauf zielen, die US-Streitkräfte an einer Unterstützung Taiwans zu hindern. Dies impliziert nicht nur einen erschwerten Zugang nach Taiwan, sondern auch zum Luftraum und den Gewässern im Westpazifik. Die Strategie, dem Gegner den Zugang und die Bewegung in einem Operationsgebiet zu verwehren oder deutlich zu erschweren, wird auch als "Anti-Access/Area-Denial"-Strategie (A2/AD) bezeichnet. Da der Großteil der US-Streitkräfte im Pazifik auf einige wenige Militärbasen in Japan, Südkorea und auf der Insel Guam konzentriert ist, spielen Flugzeugträger eine wichtige Rolle in den Konfliktszenarien. Die chinesische Strategie bestünde folglich in massiven Raketenangriffen auf Militärbasen, Flugzeugträger und andere Kriegs- und Versorgungsschiffe, die im Westpazifik operieren beziehungsweise sich Taiwan nähern, um eine A2/AD-Strategie zu realisieren.

Die USA wiederum haben damit begonnen, die Verwundbarkeit ihrer Streitkräfte für chinesische Angriffe zu reduzieren. Eine möglichst dezentrale Streuung ihrer Streitkräfte auf viele Standorte und eine hohe Mobilität selbiger sind die Eckpfeiler dieser angepassten Strategie der "verteilten Tödlichkeit" (distributed lethality).

Darüber hinaus kommt den US-Alliierten eine bedeutende Rolle zu, vor allem Japan, Australien und den Philippinen. Japan verfügt – auf einem ähnlichen Niveau wie Südkorea – nach den USA und China über die stärksten Streitkräfte in der Region und hat ein großes Interesse an der Bewahrung von Stabilität und Frieden in der Taiwanstraße. Alle Nachbarstaaten Chinas und Taiwans teilen die Sorge um eine Eskalation des Taiwankonflikts und wünschen sich eine Bewahrung von Frieden und regionaler Stabilität. Die meisten Staaten sind dabei entweder Alliierte der USA oder stehen den USA nahe, da sie eine chinesische Hegemonie in Ostasien fürchten. Die USA bilden dazu ein Gegengewicht und werden häufig als Garant für Sicherheit und Stabilität gesehen. Gleichzeitig ist China für die meisten Staaten in der Region ein wichtigerer Handelspartner als die USA, sodass sich die Staaten vor allem eine Bewahrung des Status quo wünschen: Die USA garantieren ihre Sicherheit, aber gleichzeitig können sie weiter mit der Volksrepublik Handel treiben.

Deutschland und die EU

Deutschland und die Europäische Union sollten aufgrund der gravierenden Konsequenzen eines Krieges in der Taiwanstraße versuchen, diesen zu verhindern, sich aber gleichzeitig darauf vorbereiten. Zur Prävention gehört in erster Linie ein Beitrag dazu, den Preis eines Krieges für China hochzutreiben. Die EU kann durch Androhung von wirtschaftlichen und politischen Sanktionen das chinesische Kalkül beeinflussen und zur Abschreckung Chinas beitragen.

Schließlich sollte die EU Taiwan stärker unterstützen, um den Staat widerstandsfähiger gegen chinesische Drohgebärden oder im Extremfall eine Invasion zu machen. Dabei muss die EU nicht unbedingt direkte militärische Hilfe, wie zum Beispiel Waffenlieferungen, leisten. Die Förderung von bilateralem Handel und Investitionen, Austausch im Bereich Bildung und Forschung und politische Unterstützung durch Treffen hochrangiger Politiker:innen stärken die Position Taiwans bereits. Nur ein prosperierendes Taiwan ist in der Lage, die erforderlichen finanziellen Ressourcen für die eigene Verteidigungsfähigkeit aufzuwenden und im Systemwettbewerb mit der Volksrepublik China zu bestehen. Je sichtbarer Taiwan in Europa und der Welt wird und je mehr Unterstützung es auf verschiedenen Ebenen erhält, desto kostspieliger und schwieriger wird die Anwendung militärischer Gewalt für China.

ist Heinrich Heine Gastprofessor an der Tel Aviv University. In der Schriftenreihe der bpb wird er 2023 gemeinsam mit David Demes einen Band zur Politik, Gesellschaft und Geschichte Taiwans sowie dem Konflikt mit der Volksrepublik China veröffentlichen.
E-Mail Link: frederic.krumbein@fu-berlin.de