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Europa Editorial Europawahlen – und keinen interessiert’s? Furchtlosigkeit und Überzeugungskraft. Historische Europakonzepte in den Krisen der Gegenwart Europa der Regionen? Wahlbeteiligung und Euroskepsis bei den Europawahlen Souveräner Sicherheitsakteur? Die US-Wahlen als Herausforderung für Europa Vom Bremser zum Antreiber. Polens Rückkehr nach Europa Am Scheideweg? Europa und die Niederlande Wie soll die Union wachsen? Zur aktuellen Erweiterungspolitik

Europawahlen – und keinen interessiert’s?

Korbinian Frenzel Julia Reuschenbach

/ 18 Minuten zu lesen

Die Europawahlen sind besondere Wahlen. Sie sind ein beispielloses Experiment, ein in dieser Form weltweit einzigartiger Versuch, Demokratie jenseits des Nationalstaates direkt auszuüben. Ein großartiger Versuch. Aber zweifellos kompliziert. Vielleicht zu kompliziert?

Ein kleines Gedankenspiel: Man stelle sich eine Bundestagswahl vor, bei der in Mecklenburg-Vorpommern schon am Donnerstag gewählt würde. Abends um 18 Uhr flimmern die ersten Prognosen in der Wahlsendung des NDR in Schwerin über die Bildschirme. Nordrhein-Westfalen wählt jedoch erst am Sonntag bis 18 Uhr; in Bayern sind die Wahllokale bis 21 Uhr geöffnet. Während in einem Bundesland, sagen wir, die SPD abgestraft wird, weil sie die überaus unpopuläre Landesregierung anführt, gewinnt sie in einem anderen wegen der äußerst beliebten Ministerpräsidentin kräftig dazu. Die CDU ist in manchem Land grundliberal, in anderen zutiefst konservativ. Die FDP ist hier für die Atomkraft, dort strikt dagegen. Und die Grünen: in Hessen zuallererst solidarisch mit Israel, in Niedersachsen die Partei, die vor einem Genozid in Gaza warnt. Die Linke muss in Sachsen zittern, denn hier gilt die Fünfprozenthürde. In Baden-Württemberg hat man vollständig auf eine solche Einschränkung verzichtet.

Wenn die Europäische Union Anfang Juni 2024 sein Parlament wählt, ist das, was uns bezogen auf Deutschland nur als kaum begreiflicher und schwer erträglicher Flickenteppich erscheint, geübte Realität. Die Europawahl ist im Zweifel besser beschrieben mit dem Plural „Europawahlen“: Bürgerinnen und Bürger in 27 Mitgliedstaaten werden zwischen dem 6. und 9. Juni 2024 mit sehr eigenen Debatten und auf sehr unterschiedlichen Wegen darüber bestimmen, welche Abgeordneten nach Brüssel und Straßburg ziehen werden, welche Mehrheiten daraus erwachsen können und wie sich diese auf die Frage auswirken werden, wer künftig die Spitzenpositionen in Brüssel besetzt.

Einige Länder wie Deutschland oder Belgien haben das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt, viele andere nicht. Mancherorts gelten Sperrklauseln oder eine Wahlpflicht, andernorts nicht. Derzeit sind knapp 200 nationale Parteien im Europaparlament vertreten.

Zwar gibt es mit derzeit sieben Fraktionen und einer Gruppe fraktionsloser Abgeordneter eine ähnlich strukturierte parlamentarische Ordnung wie etwa im Deutschen Bundestag, und im Vergleich zu manch zersplitterten Parteiensystemen in Mitgliedstaaten wie Belgien oder den Niederlanden wirkt dies geradezu übersichtlich. Die politischen Fliehkräfte in diesen transnationalen Fraktionen sind jedoch enorm. Die Idee, so etwas wie Fraktionsdisziplin durchsetzen zu wollen, bekommt dort eine ganz neue Dimension.

Die Europawahlen sind – das machen diese ersten Beobachtungen mehr als deutlich – besondere Wahlen. Sie sind seit der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament 1979 ein Experiment, das seinesgleichen sucht, ein in dieser Form weltweit einzigartiger Versuch, Demokratie jenseits des Nationalstaates auszuüben. Ein großartiger Versuch. Aber ohne Zweifel kompliziert. Vielleicht zu kompliziert? So komplex und vertrackt, dass er im Bedeutungswettbewerb mit Wahlen auf nationaler Ebene und selbst im Vergleich zu regionalen Abstimmungen kaum mithalten kann?

Wahlen zweiter Ordnung?

Umfragen deuten darauf hin, dass die europäischen Wahlberechtigten auch 2024 ihre gemeinsamen Wahlen vor allem für eines nutzen werden: zur Abrechnung mit ihren jeweiligen nationalen Regierungen. Dieses Szenario scheint auch in den beiden großen Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich denkbar. Einmal mehr provoziert dies eine Frage: Erscheint das Parlament in Brüssel und Straßburg den EU-Bürgern (in der öffentlichen und aber vor allem auch in der veröffentlichten Meinung) als so unwichtig, dass sie die Wahl bereitwillig und ohne größere Sorge um politisch-legislative Folgen zu einem Denkzettel umfunktionieren? Erscheint die Wahl populistischer und extremistischer Parteien weniger bedenklich, wenn ihre Abgeordneten nicht in den Parlamenten in Paris, Madrid oder Berlin sitzen, sondern im europäischen Rund in Brüssel und Straßburg?

Kurzum: Sind die Wahlen zum Europäischen Parlament bis heute zweitrangig im Vergleich vor allem zu den nationalen Wahlen? Und was müsste getan werden, damit die Europawahlen zu einem Höhepunkt der europäischen Demokratie werden?

Weniger Gleichgültigkeit, aber mehr Unzufriedenheit

2014 beschrieb der Historiker Manuel Müller in einem Essay den Zustand einer „wohlwollenden Gleichgültigkeit“. Diese habe, so Müller, die europäische Öffentlichkeit über Jahrzehnte gegenüber der europäischen Einigung gezeigt. Die Tatsache, dass viele Menschen die Folgen des europäischen Annäherungsprozesses nur indirekt zu spüren bekamen, führte dazu, dass sie sich nur wenige Gedanken über das Thema gemacht haben. Heute, dafür reicht ein Blick in die Tagespresse, hat sich dies zweifelsohne verändert.

Der Brexit im Jahr 2020 als vorläufiger Höhepunkt einer Anti-EU-Entwicklung, die Diskussionen um Subventionen und EU-Vorgaben, die Uneinigkeit der Mitgliedstaaten in vielen wesentlichen Fragen – Europa ist heute häufig in aller Munde. Dabei dominieren oft die negativen Schlagzeilen und Meldungen, gerne ist von der überbordenden Brüsseler Bürokratie die Rede, die den Menschen das Leben schwer und kompliziert mache.

Diese Erzählungen sind nicht neu. Ihre Entstehung reicht in die 1980er Jahre zurück. Bis dahin war der europäische Integrationsprozess von der sogenannten negativen Integration dominiert. Im Fokus stand etwa der Abbau von Handelshemmnissen. Mit dem Wechsel hin zu einer positiven Integration – der Entwicklung eines gemeinsamen Regelwerks mit gemeinsamen Mindeststandards und Normen – trat die EU immer stärker in den Alltag vieler Menschen. Die Einführung des europäischen Binnenmarktes und die 1992 vereinbarte Währungsunion sind entscheidende Wegmarken dieser Phase. Mit der Gleichgültigkeit, so Müller, verschwand auch das Wohlwollen. 1993 tauchte das Wort „Euroskepsis“ erstmals in den Plenardebatten des Deutschen Bundestages auf.

Denkzettelwahlen

Bei der ersten Direktwahl des EU-Parlaments 1979 lag die Wahlbeteiligung bei 62,0 Prozent. Kein Fest der Demokratie, aber auch kein Grund zur Sorge. Lässt man Länder wie Belgien und Luxemburg, in denen Wahlpflicht herrscht, außer Acht, war das Spektrum der Beteiligung innerhalb der neun teilnehmenden Länder schon damals bemerkenswert.

Während in Italien 85,7 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben, taten es im Vereinigten Königreich, das erst 1972 der Europäischen Gemeinschaft beigetreten war, gerade einmal 32,4 Prozent. In der Bundesrepublik beteiligten sich 65,7 Prozent der Wahlberechtigten. In den folgenden Jahrzehnten sank die gesamteuropäische Wahlbeteiligung kontinuierlich und teils in starken Sprüngen auf den niedrigsten Stand von 42,6 Prozent bei der Wahl 2014.

In Deutschland erreichte die Wahlbeteiligung schon 2004 ihren Tiefpunkt, als nur 43,0 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl gingen. Erst zwischen 2014 und 2019 konnte dieser Trend gestoppt werden, als mit 50,6 Prozent der Wahlberechtigten der EU-Staaten wieder mehr Menschen an der Wahl teilnahmen. In Deutschland stieg die Wahlbeteiligung dabei wie in kaum einem anderen Land an – von 48,1 Prozent auf 61,3 Prozent. Nur in Spanien, Österreich, Polen, Ungarn und Rumänien wurden ähnliche Zuwächse erreicht. Ob sich dieser Trend fortsetzen wird, lässt sich aktuell noch nicht seriös beantworten.

Ob die Wahl 2024 eine Wahl zweiter Klasse oder eine Denkzettelwahl sein wird, lässt sich dagegen zumindest vor dem Hintergrund der bisherigen Wahlen ausführlicher diskutieren. In der Vergangenheit hat sich auf Basis von Umfragen in ganz Europa gezeigt, dass für viele Menschen die Europawahlen tatsächlich deutlich weniger wichtig sind als nationale Wahlen. Dies drückt sich vor allem in einer niedrigen Wahlbeteiligung aus. Die Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen sind deutlich. Weniger politisch Interessierte, Menschen mit niedrigem Bildungsniveau und geringerem Einkommen beteiligten sich in der Vergangenheit noch weniger an Europawahlen als an nationalen Wahlen.

Die Einordnung der Europawahl als eine Art „Nebenwahl“ hat zudem bisher häufig dazu geführt, dass viele Bürgerinnen und Bürger die Wahlen nutzen, um die nationalen Regierungen abzustrafen. Sie experimentieren mit ihrem Wahlverhalten und verpassen den nationalen Regierungen und Parteien mit dem Stimmzettel einen Denkzettel. So konnten in der Vergangenheit nicht nur kleinere Parteien bei den Wahlen zulegen, sondern auch populistische und extremistische. Einen „Rechtsruck“ etwa erlebte Europa zuletzt 2014. Aktuell wird befürchtet, dass nicht nur die anhaltende Unzufriedenheit mit der Bundesregierung und das Erstarken der AfD, sondern auch der Zulauf zu rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien in anderen europäischen Ländern diese Kräfte bei der Europawahl stärken könnten. Damit würde sich der Effekt der Wahl von 2019 umkehren, die bei gestiegener Wahlbeteiligung als „grüne Europawahl“ und als Wahl gegen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in die Geschichte der Europawahlen einging.

Wachsende Macht, sinkende Wahlbeteiligung

Die beschriebene Entwicklung der Wahlbeteiligung ist vor dem Hintergrund eines Phänomens besonders verwunderlich und widersprüchlich: Je mächtiger das Europäische Parlament in seinen Befugnissen wurde, je mehr es aktiv über die Politik der EU nicht nur beraten, sondern auch entscheiden durfte, desto geringer war die Wahlbeteiligung. Die Menschen, die 1979 in großer Zahl an die Wahlurnen gingen, taten dies zu einer Zeit, als das Europäische Parlament lediglich eine beratende Funktion hatte und keinen Einfluss auf Haushalt, Personal oder Gesetzgebung. Bei allen großen Vertragsreformen der EU, von der Einheitlichen Europäischen Akte über die Verträge von Maastricht und Amsterdam bis hin zum Vertrag von Lissabon, erlebte das Parlament einen erheblichen Machtzuwachs.

Aus dem reinen Beratungsgremium wurde ein Parlament, das in Fragen der Gesetzgebung in vielen Bereichen gleichziehen konnte mit dem Ministerrat, also dem über lange Jahre allein bestimmenden Gremium der Mitgliedstaaten. Das Europäische Parlament hat zudem erheblichen Einfluss auf die Besetzung der zentralen Exekutivposten in der EU bekommen, indem es sowohl den Parlamentspräsidenten mehrheitlich bestätigen muss als auch dessen Kommissare. Auch beim Etat, bei dem das EU-Parlament lange ohne Kompetenzen war und dem damit das Königsrecht eines jeden Parlaments versagt blieb, haben die Abgeordneten heute eine entscheidende Mitsprache.

Es bleibt allerdings richtig: Noch immer ist das Europäische Parlament kein vollwertiges Parlament im Vergleich zu den Befugnissen etwa des Deutschen Bundestages. Nach wie vor kann es selbst keine Gesetzesinitiativen starten, sondern es muss warten, ob und wann die EU-Kommission solche vorlegt. Auffällig sind auch nach wie vor die weitgehend fehlenden Mitspracherechte in der Außen- und Sicherheitspolitik – ein Unterschied, der gerade im Vergleich zum Bundestag augenfälliger ist als in anderen EU-Mitgliedstaaten, in denen die Außenpolitik traditionell eine Domäne der Exekutive ist und beispielsweise Auslandseinsätze der Streitkräfte, anders als in Deutschland, nicht der Zustimmung des Parlaments bedürfen.

Liegt auch darin ein Grund dafür, warum Europawahlen nach wie vor als Wahlen zweiter Ordnung empfunden werden? Das Parlament, das hier gewählt wird, hat gemessen an den Kriterien nationaler Demokratien weniger Gewicht. Eine Stimmabgabe kann somit weniger verändern oder gestalten. Aber kann allein dies so starke Auswirkungen haben? Muss man, um solche Finessen parlamentarischer Machtoptionen zu begreifen, nicht schon zum Kreis sehr gut informierter Bürger gehören, die zudem ein gehöriges Interesse für europäische Politik aufbringen dürften – und somit wahrscheinlich eher zu denjenigen gehören, die als engagierte Teilnehmer am demokratischen System ohnehin dazu neigen, an Wahlen teilzunehmen?

Die Tatsache, dass mit dem Bedeutungsgewinn des Europäischen Parlaments bis 2014 keine höhere Wahlbeteiligung einherging, dürfte demnach zumindest auch an anderen Faktoren liegen: So haben die westlichen EU-Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene längst nicht mehr Wahlbeteiligungen von 90 Prozent, wie wir sie in Deutschland noch bis Anfang der 1980er Jahre sehen konnten. Auch auf regionaler und kommunaler Ebene waren in den vergangenen Jahrzehnten häufig sinkende Wahlbeteiligungen zu verzeichnen. Dazu kommen die Erweiterungen der EU 2004 und 2007 um vor allem ost- und mitteleuropäische Staaten, in denen trotz (oder wegen?) der erst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs möglichen demokratischen Prozesse bislang fast überall insgesamt niedrige Wahlbeteiligungen zu beobachten waren – ein Faktor, der sich dann auch in den Daten zum europäischen Gesamtdurchschnitt bemerkbar macht. Auch hier ist offen, ob wir mit den Wahlen 2024 eine Trendumkehr sehen werden.

Womöglich viel entscheidender scheint jedoch etwas zu sein, das man als Konglomerat aus nationaler Elitenblindheit für das politische System der EU, politischer Bildung mit falschen Prioritäten und generellem Mangel an einer europäischen Öffentlichkeit bezeichnen könnte. Anders gesagt: Das Europäische Parlament und somit die Europawahlen wurden immer wichtiger, aber kaum jemand hat es tatsächlich bemerkt. Woran und an wem liegt das?

Transparenz und Bürgernähe

Das Europäische Parlament hat verschiedene Initiativen unternommen, um proaktiv Sichtbarkeit und Sensibilität für seine Aktivitäten zu fördern. Im Portal „Was tut Europa für mich?“ lassen sich europäische Entscheidungen und Initiativen anschaulich nachvollziehen. In sogenannten öffentlichen Konsultationen können Bürger sich online aktiv in Entscheidungsprozesse einbringen und beim EU-Bürgerbeauftragten Beschwerde einreichen. Vermutlich sind diese Partizipationsmöglichkeiten immerhin bekannter als die Tatsache, dass alle Bürger der EU in ihrem Personalausweis eine Unionsbürgerschaft führen – und welche Rechte und Pflichten mit dieser Bürgerschaft verbunden sind.

Alle Maßnahmen eint jedoch, dass sie über Sollbruchstellen von politischer Partizipation und politischem Interesse nicht hinwegtäuschen können. 2018 glaubten gerade einmal 48 Prozent der EU-Bürger, dass ihre Stimme in der EU Gewicht hat. In Deutschland lag der Wert mit 72 Prozent damals vergleichsweise hoch, ist aber bis 2023 auf 59 Prozent gefallen. Bei der Frage, ob die Stimme des eigenen Landes in Europa zählt, liegt der Wert hingegen bei 82 Prozent in Deutschland und EU-weit bei 63 Prozent. Politische Selbstwirksamkeit ist ein wichtiger Indikator für die Frage, wie bedeutsam Wahlen eingeschätzt werden und ob Menschen an ihnen teilnehmen.

Diese Wahrnehmung paart sich mit der Komplexität des EU-Systems, die überfordern kann. Da rufen viele schnell nach mehr politischer Bildung. Doch auch dies greift allein zu kurz. Studien zeigen, dass mehr politisches Wissen und mehr politische Bildung zwar die Wahrscheinlichkeit zur Teilnahme an der Wahl erhöhen, aber politisches Wissen gleichzeitig nicht relevant für die Wahl euroskeptischer Parteien ist. Aufhorchen lässt zudem der Befund, dass „falsches Wissen“ über politische Sachverhalte für politische Beteiligung bedeutsamer ist als Nichtwissen. Angesichts eines Wahlkampfes im Kontext von Fake News und Desinformation verdienen solche Erkenntnisse mehr Aufmerksamkeit, wenn es um die Stärkung der Europawahlen geht.

Politische Debatten im nationalen Rahmen

Es liegt außerdem ein gehöriges Stück Verantwortung bei denen, die den öffentlichen Raum und die Debatten prägen und die durch ihre Schwerpunktsetzungen vermitteln, wo und wie Politik gemacht wird. Und das umfasst mehr als die Medien. Dabei gibt es zunächst einmal keinen Mangel an proeuropäischen Stimmen und Stimmungen in den relevanten Sektoren. In Wirtschaft, Wissenschaft, Politik (hier zumindest in weiten Teilen), Kultur und Medien ist die Idee der Kooperation über Grenzen hinweg, die europäische Integration im Speziellen, grundsätzlich positiv konnotiert. Europa „gut zu finden“, gehört zum guten Ton, um nicht zu sagen: in fast jede Sonntagsrede.

Aber während Wirtschaft und Wissenschaft eine reale Praxis in grenzüberschreitender europäischer Praxis leben, bewegen sich die politischen Eliten vorrangig im nationalen Rahmen, eingebettet in eine Medienwelt, die diesen Rahmen bestens zu bespielen weiß und Brüssel immer noch zu oft als Außenposten betrachtet. Auch im Bereich der Kultur ist die Diagnose ambivalent: So international und kooperativ Ansätze und Projekte häufig sind, so sehr finden die Debatten des Feuilletons dann doch allzu häufig im gesicherten (Sprach-)Raum des eigenen Nationalstaates statt.

In der Öffentlichkeit kommt es dadurch zu einer Verzerrung: Das Nationale erscheint weiterhin in vielen Bereichen als dominierend in dem Raum, in dem Politik debattiert und gemacht wird. Entschieden wird das Spiel zwar häufig auf der großen Bühne der EU, aber die Inszenierung findet meist auf den 27 kleinen Bühnen der Mitgliedstaaten statt. Berichterstattung aus der EU, aus „Brüssel“, ist immer noch „Auslandsberichterstattung“. Dabei ist die Europäisierung der deutschen Gesetzgebung je nach Politikbereich, etwa in der Wirtschaftspolitik, weit fortgeschritten und lag schon in den 2010er Jahren in den Bereichen Wirtschaft, Landwirtschaft oder Verkehr bei über 50 Prozent.

Wie sehr der nationale Filter auch bei denen wirkt, die es eigentlich besser wissen müssten, zeigt die Begegnung mit einem führenden Chefredakteur in Deutschland Anfang 2024. Mit Sorge blicke er auf die anstehenden Wahlen: Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Herbst. Und dann natürlich auf die Präsidentschaftswahl in den USA. Nachfrage: Und die Europawahlen im Juni? Die hätten ja vor allem symbolische Wirkung, winkte er ab.

Sind regionale Wahlen, bei denen vielleicht zwei Millionen Menschen über einen neuen Landtag abstimmen, substanziell wichtiger als die Wahl der Legislative einer EU von 450 Millionen Einwohnern? Niemand würde das ernsthaft bejahen. Aber die Tatsache, dass es wahrscheinlich nicht nur dem erwähnten Journalisten so erscheint, beschreibt das Wahrnehmungsproblem, mit dem das EU-Parlament 45 Jahre nach seiner ersten Direktwahl nach wie vor zu kämpfen hat.

„Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt“

Die fehlende europäische Öffentlichkeit ist ein häufig ausgemachtes Manko für eine echte europäische Demokratie und damit auch für den Aufstieg der Europawahlen zu Wahlen erster Ordnung. Wie sollen Wähler europäisch denken und entscheiden, wenn es keine europäischen Debatten gibt? Wie aber soll ein solcher Debattenraum angesichts der babylonischen Vielfalt von 24 Amtssprachen entstehen? Wie kann es gelingen, gemeinsame Debatten zu führen, ohne gemeinsame gesamteuropäische Medien zu haben? Können das jene wenigen leisten, die bislang am Markt aktiv sind, etwa Arte, 3Sat, Politico und andere? Kann man überhaupt von gemeinsamen Themen sprechen – oder sind es letztlich doch 27 individuelle und nebeneinander stattfindende nationale Debatten?

Diese Fragen sind nicht neu, und sie drehen sich letztlich um Grundsätzliches. Ist Demokratie jenseits des nationalen Sprach- und Kulturraumes überhaupt denkbar? Kann ein europäisches Parlament als transnationales Projekt in gleichem Maße funktionieren? Was über viele Jahre eine eher akademische Debatte war – die übrigens auch von linken EU-skeptischen Kräften aufgeworfen wurde –, gewinnt mit dem Erstarken des rechtspopulistisch-nationalistischen Lagers auch mit Blick auf die nun anstehenden Europawahlen eine neue Relevanz.

Bereits 2019 trat die AfD zur Europawahl mit der Forderung an, genau dieses Parlament abschaffen zu wollen, für dessen Sitze man sich bewarb. Erst vor wenigen Wochen hat die Co-Parteivorsitzende Alice Weidel erneut mit dieser Forderung geliebäugelt. Und auch wenn die neue Partei Bündnis Sahra Wagenknecht ihre eigenen Bewährungsproben noch vor sich hat und sich in der Grundhaltung proeuropäisch gibt: Wagenknechts Populismus gegen die EU, die das eigene Volk gängele und gegen die eigene Bevölkerung regiere, schlägt in die gleiche Kerbe.

Diese zunehmend an den Grundfesten der Verträge rüttelnden Vorstellungen machen deutlich, dass offenbar auch aufseiten der EU weiterer Handlungsbedarf besteht, bessere Grundvoraussetzungen für ein politisches System zu schaffen, in dem auch das Prinzip einer direkten Wahl durch die EU-Bürger besser zur Geltung kommt. Es wäre schlicht zu einfach, den Fingerzeig nur auf die hier versagenden nationalen Eliten zu richten. „Brüssel“ hat seinen gehörigen Anteil daran, dass es nur selten gelingt, Politik so zu thematisieren, dass sie europäische Bürgerherzen erreicht. Oder um es mit den Worten des zur Jahreswende verstorbenen früheren EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors zu sagen: „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt.“

Zu lange waren die EU und die Art, wie sie Politik gemacht hat, ein vornehmlich technokratisch-bürokratisches Projekt. Solange europäische Politik unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der meisten Bürger blieb, funktionierte die „wohlwollende Gleichgültigkeit“. Seit dem gemeinsamen Binnenmarkt und weiteren Integrationsschritten, ragen die Entscheidungen jedoch in konkrete Lebensrealitäten, etwa bis hinein in die Frage, wie viel CO2 ein Auto ausstoßen darf. Hier ist es der EU und insbesondere dem Europaparlament zwar in einzelnen Fragen gelungen, konkrete und greifbare Politikergebnisse zu erzielen, wie etwa bei der Regulierung des Roamings, das für Millionen Europäer deutlich reduzierte Telefonkosten mit sich brachte.

Problematisch bleibt aber die Komplexität der Verfahren: Wie kommen Entscheidungen in Brüssel und Straßburg zustande? Wie viele Abkürzungen und Fachtermini muss man kennen, um einer Debatte zwischen EU-Politikern tatsächlich folgen zu können? Nicht nur Bürger stoßen hier oft auf Barrieren, sondern auch Journalisten, Experten und Politiker in den nationalen Hauptstädten. Zumal sich in einem teils wilden Französo-Denglisch Begrifflichkeiten (Rapporteur, Quästoren, Trilog) etabliert haben, die für die Arbeitseffizienz hilfreich, für Transparenz aber durchaus problematisch sind.

Politisierung über Personalisierung

Erscheinen Wahlen zum Europäischen Parlament nur dann wirklich relevant, wenn ihr Ausgang direkte Auswirkungen auf die Besetzung der Exekutive hat? Wenn also die Stimmabgabe letztlich darüber entscheidet, welche Mehrheitsverhältnisse herrschen und wie sich diese neben Inhalten auch in Persönlichkeiten ausdrücken? Vor gut zehn Jahren erschien dies den führenden Parteifamilien, allen voran der Europäischen Volkspartei (EVP) und der europäischen Sozialdemokratie, als eine der zentralen Stellschrauben, um die Bedeutung des Parlaments und damit der Europawahlen zu stärken. Mit der Nominierung europäischer Spitzenkandidaten (und eben nicht nur nationaler oder regionaler Listen) wollten sie den Bürgern 2014 erstmals die Möglichkeit geben, direkt mitzubestimmen, wer der künftige Präsident beziehungsweise die Präsidentin der Europäischen Kommission wird.

2014 gelang es beiden Parteifamilien, mit dem langjährigen luxemburgischen Premierminister Jean-Claude Juncker (für die EVP) und dem EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz (für die Sozialdemokraten) zwei europaweit bekannte Persönlichkeiten zu präsentieren. Die europäischen Grünen wagten sogar eine EU-weite Urwahl nach dem Vorbild US-amerikanischer Primaries und kürten so unter anderem den bekannten französischen Bauernführer José Bové zum Spitzenkandidaten. Allerdings beteiligten sich nur etwas mehr als 22000 EU-Bürger an diesen Vorwahlen, was gerade mal 0,006 Prozent der damals Wahlberechtigten entspricht.

Inwieweit die Personalisierung und Zuspitzung des Wahlkampfes auf den Spitzenposten des EU-Kommissionspräsidenten wirklich mobilisierende Wirkung hatte, ist strittig. Immerhin konnte hier das Versprechen eingelöst werden, dass mit Jean-Claude Juncker der Kandidat der schließlich stärksten Fraktion zum EU-Kommissionspräsidenten gewählt wurde.

Bereits 2019 erlebte das gerade etablierte Spitzenkandidaten-Prinzip jedoch einen herben Rückschlag. Der siegreiche Kandidat der EVP, Manfred Weber, war politisch nicht durchsetzbar, was vordergründig an den Widerständen wichtiger Regierungschefs lag, im Kern aber sicherlich auch damit zusammenhing, dass mit Weber ein jenseits der Brüsseler Maschinerie weitgehend unbekannter Politiker aufgestellt wurde. Dass mit der deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen schließlich eine Politikerin den Spitzenjob bekam, die auf keinem Wahlzettel gestanden hatte, dürfte der Bedeutung des EU-Parlaments als Machtfaktor in der europäischen Personalpolitik massiv geschadet haben.

Immerhin erhalten die Wähler angesichts der Tatsache, dass von der Leyen nach einigem beiderseitigem Zögern von ihrer Parteifamilie, der EVP, im März als Spitzenkandidatin aufgestellt wurde, nun die Möglichkeit, sie bewusst wieder- oder abzuwählen. Die Tatsache, dass die Sozialdemokraten einen EU-weit kaum bekannten Luxemburger, den bisherigen EU-Kommissar Nicolas Schmit, ins Rennen schicken, spricht dafür, dass der Versuch, die Europawahlen durch die Verknüpfung mit dem Posten an der Spitze der Kommission in ihrer Bedeutung zu stärken, mindestens in der Krise, wenn nicht gar komplett gescheitert ist.

Bleibt es also dabei, dass die Europawahlen Wahlen zweiter Ordnung sind beziehungsweise zwangsläufig bleiben müssen angesichts der beschriebenen schwierigen Umstände? Wahrscheinlich bleibt das Frustrationslevel hoch, wenn wir weiterhin nationale Wahlen und ihre Logiken als Maßstab anlegen. Die Europawahlen sind Wahlen sui generis, nicht zweiter, sondern eigener Ordnung. Entscheidend wird sein, ob die (nationalen) gesellschaftlichen Eliten und damit auch die Bevölkerungen sich diesem Europa so annähern können, dass sie diese kleine, aber feine und bedeutsame Unterscheidung erkennen und mit Leben füllen.

Die Ausgangslage dafür ist derzeit noch gut: In der Bevölkerung gilt die EU trotz aller Krisen nach wie vor als „gute Sache“ – so sehen es 67 Prozent der Deutschen und 61 Prozent europaweit. Ein Jahr vor der Wahl war das Interesse an der Europawahl bereits deutlich höher als zur gleichen Zeit vor der Wahl 2019. 47 Prozent der Befragten glauben, dass der Hauptgrund, warum manche Menschen nicht zur Wahl gehen, darin liegt, dass sie das Gefühl haben, ihre Stimme würde nichts ändern. Das ist ein klares Signal an die Politik – in Brüssel, Berlin und anderswo.

Die gute Nachricht: Viele Themen, wie vor allem Migration oder der Klimawandel, werden bereits sehr häufig europäisch verhandelt – und zwar durchaus diskursiv bis hin zur Polarisierung. Es gibt durchaus erste Grundzüge einer europäischen Öffentlichkeit, deren Geburtsstunde Jürgen Habermas und Jacques Derrida vor über 20 Jahren möglicherweise etwas verfrüht ausriefen. Man könnte sagen: Die Bevölkerung ist auf eine diffusere Art bereit, die Europawahlen als europäische Wahlen und nicht nur als nationale Testwahlen zu begreifen. Notwendig dafür sind allerdings Parteien, die ihre Wahlkampagnen weniger national denken und zudem finanziell besser ausstatten. Dass die SPD beispielsweise mit Olaf Scholz einen Politiker plakatieren wird, der gar nicht zur Wahl steht, ist in dieser Hinsicht kein gutes Signal.

ist Redaktionsleiter und Moderator des täglichen Debattenformats „Studio 9” bei Deutschlandfunk Kultur. Zuvor war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Europäischen Parlament tätig.

ist promovierte Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle für Politische Soziologie der Bundesrepublik Deutschland am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.