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Am Scheideweg? Europa und die Niederlande

Jacco Pekelder Jorrit Steehouder

/ 9 Minuten zu lesen

Die niederländische Haltung gegenüber dem europäischen Projekt war nie eindeutig positiv. Doch seit dem Sieg von Geert Wilders bei den jüngsten Parlamentswahlen befürchten nicht wenige, dass es zu einer Wende in den Beziehungen zur EU kommen könnte.

Kurz vor den nächsten Europawahlen scheint die niederländische Europapolitik an einem Scheideweg zu stehen. Im Sommer 2023 kündigte Ministerpräsident Mark Rutte, seit 13 Jahren eine feste Größe in der europäischen Politik, seinen Rücktritt an. Und nach dem überwältigenden Sieg des Rechtspopulisten Geert Wilders und seiner Partei für die Freiheit (PVV) bei den Parlamentswahlen vom 22. November 2023 könnten die Niederlande eine ausgesprochen europaskeptische Regierung bekommen.

Die düsteren Zukunftsszenarien lassen sich allerdings hinterfragen. Erstens zeigt schon ein kurzer Blick in die jüngere Geschichte, dass die niederländische Skepsis gegenüber „Europa“ nicht neu ist. So haben sich seit 2010 mehrere Rutte-Regierungen negativ über die vermeintliche „Brüsseler Einmischung“ geäußert. Vor mehr als zehn Jahren hieß es gelegentlich schon, die Ära der „Ever Closer Union“ sei vorbei.

Dass die niederländische Haltung gegenüber Europa nie eindeutig positiv war, zeigt auch die politikwissenschaftliche und historische Literatur. Ja, die Niederlande gehörten 1957 zu den sechs Gründungsmitgliedern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Tatsache ist aber, dass sie damals ganz bestimmte Wünsche auf die europäische Integration projiziert haben – Wünsche, die bis heute die niederländische Europapolitik und den Diskurs darüber bestimmen.

Werfen wir also erst einmal einen Blick zurück in die Anfangsjahre der europäischen Integration.

Instrumentelle Zusammenarbeit

Unter dem Druck der vielköpfigen Krisen, die die Weltbühne nach dem Ersten Weltkrieg beherrschten, entstanden die ersten Ideen zur europäischen Integration. Zu den bekanntesten gehören die 1923 von Richard Coudenhove-Kalergi gegründete Paneuropa-Bewegung und der Briand-Plan von 1929/30 für eine europäische politische und wirtschaftliche Föderation.

In den Niederlanden stießen diese ehrgeizigen Pläne auf wenig Resonanz. Statt föderalistischer europäischer Visionen bevorzugte Den Haag eine instrumentelle handelspolitische Zusammenarbeit. Auch koloniale Interessen dämpften den niederländischen Enthusiasmus für rein kontinentale Formen der europäischen Kooperation. So blieb es bei bescheidenen Projekten: 1930 schlossen die Niederlande mit den skandinavischen Ländern die sogenannte Osloer Konvention und 1932 die Ouchy-Konvention mit Belgien und Luxemburg – den späteren Partnern der Benelux-Zollunion von 1944.

Nicht anders verhielt es sich mit der niederländischen Haltung während des Zweiten Weltkrieges. Als „ferne Zukunftsmusik“ bezeichnete die Exilregierung in London die von geopolitischen und föderalistischen Ideen inspirierten Kooperationskonzepte. Sie orientierte sich stattdessen an der Atlantik-Charta von 1941, in der der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill eine offene Weltwirtschaft als Grundlage der internationalen Nachkriegsordnung vorsahen. Damit zeichneten sich die neuen Eckpfeiler der niederländischen Außenpolitik ab: Freihandel im wirtschaftlichen Bereich und enge transatlantische Beziehungen für die nationale Sicherheit. Außerdem erkannten die Niederlande früh, dass sich die niederländische Wirtschaft ohne eine Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft und eine Normalisierung der gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen nicht erholen konnte.

Drahtseilakt

Ab 1947 nahm die Verzahnung der niederländischen Europa- und Deutschlandpolitik konkrete Formen an. Gemeinsam mit Belgien und Luxemburg setzten sich die Niederlande für die Beteiligung Westdeutschlands am Marshallplan ein. Außerdem hoffte man, jenseits des Atlantiks Rückhalt für die niederländischen Sicherheitsinteressen zu finden. Die Niederlande arbeiteten daher konstruktiv am Aufbau einer kollektiven westlichen Verteidigung. Als Mitbegründer traten sie 1948 dem Brüsseler Pakt und 1949 der Nato bei.

Im Rahmen der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) setzten sich die Niederlande für die Liberalisierung des westeuropäischen Handels als erste Schritte zur Marktintegration ein. Westdeutschland wurde Teil dieser Organisation, was die wichtigste Voraussetzung für die Teilnahme der Niederlande war. Französische Vorschläge für eine Zollunion ohne Westdeutschland stießen 1949 auf ein niederländisches „Nein“. Der von den US-Amerikanern favorisierten Europäischen Zahlungsunion stimmten die Niederlande hingegen 1950 bereitwillig zu.

Etwa zur gleichen Zeit wurden die unterschiedlichen Positionen der Niederlande und Großbritanniens deutlich. Während sich die Briten um ihres Commonwealth willen gegen eine weitere kontinentale Integration wehrten, legte der niederländische Außenminister Dirk Stikker einen Plan für eine sektorale Handelsliberalisierung innerhalb der OEEC – also mit Großbritannien und Deutschland – vor. Dieser Balanceakt zwischen dem Wunsch, die Briten (gegen ihren Willen) an die europäische Integration zu binden, und der Realität der wirtschaftlichen Verflechtung mit Deutschland (die eine tiefere Integration erforderte) wurde zu einer Konstante der niederländischen Europapolitik.

Wie sehr diese „atlantische Europapolitik“, wie sie der Historiker Mathieu Segers nennt, einem Drahtseilakt glich, wurde deutlich, als der französische Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 vorschlug, die deutsche und französische Kohle- und Stahlindustrie unter eine supranationale Verwaltung zu stellen. Da sich die Niederlande dem kaum verweigern konnten, wurden sie in einen europäischen Wirtschaftsrahmen ohne Großbritannien gezwungen. Unangenehm war für Den Haag auch der hochtrabende europäische Idealismus, der dem Schuman-Plan folgte: Frankreich drängte auf eine europäische Armee mit westdeutschen Truppen. Die entsprechende Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) sollte von einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) begleitet werden.

Für die Niederlande waren diese Initiativen zu sehr das Ergebnis deutsch-französischer Absprachen. Außerdem lenkten sie von der gewünschten Marktintegration ab. Deshalb schlug der neue Außenminister, der proeuropäische Wim Beyen, 1952 nun einen europäischen gemeinsamen Markt vor, den er mit der Gestaltung der EPG verknüpfte. Der Vorschlag hatte zunächst keine Chance, doch nach dem Scheitern der EVG und der EPG 1954 nahm das europäische Projekt doch noch die von den Niederlanden gewünschte Wendung. Mit der 1957 gegründeten EWG wurde die Marktintegration zum ersten Ziel der Zusammenarbeit. Mit dem Beitritt der Bundesrepublik zur Nato 1955 wurde die atlantische Gemeinschaft auch in Sicherheitsfragen zur unangefochtenen ersten Adresse. Damit hatten die kleinen Niederlande ihre Europavorstellungen doch noch weitgehend verwirklichen können.

Wirtschaftsinteressen

Aus dieser Vorgeschichte ergibt sich das Bild einer niederländischen Europapolitik, die recht einseitig auf einer utilitaristischen Idee der europäischen Zusammenarbeit basierte und basiert. Dieser Grundgedanke muss bei der Beantwortung der Frage, ob die niederländische Europapolitik nach dem Wahlsieg von Wilders an einem Wendepunkt steht, berücksichtigt werden.

Wie schon seit den 1950er Jahren ist der europäische Binnenmarkt für den Außenhandel der Niederlande überlebenswichtig. So exportierte das Land 2021 Waren im Wert von 322 Milliarden Euro in andere Länder der Eurozone, was 55 Prozent der gesamten niederländischen Warenausfuhren entspricht. Aus der Eurozone importierten die Niederlande im selben Jahr Waren im Wert von 216 Milliarden Euro, was 41 Prozent der gesamten Warenimporte ausmacht. Auch wenn der Anteil der EU und der Eurozone seit Längerem tendenziell leicht rückläufig ist, sind diese Zahlen immer noch beachtlich.

Die Bedeutung des EU-Binnenmarktes zeigt sich auch in der Liste der wichtigsten Außenhandelspartner. So nahmen 2022 Deutschland, Belgien und Frankreich die ersten drei Plätze bei den Warenexporten ein. Erst danach folgten das Vereinigte Königreich und die USA. Bei den Wareneinfuhren war die Dominanz der EU-Länder 2022 etwas geringer: Zwar lagen auch hier Deutschland und Belgien auf den Plätzen 1 und 2, doch folgten China, die USA und das Vereinigte Königreich auf den Plätzen 3, 4 und 5. Dennoch unterstreicht auch diese Liste wieder die zentrale Rolle der EU für die niederländische Wirtschaft, denn viele der aus diesen drei überseeischen Handelspartnern importierten Waren wurden von den Niederlanden in die direkten EU-Nachbarländer reexportiert.

Europa im Kleinen

Unter dem Gesichtspunkt des Nutzens rückt ein zweiter Bereich ins Blickfeld: das „Europa im Kleinen“. Diese grenzüberschreitende interregionale Zusammenarbeit, die seit 1990 Teil der europäischen Kohäsionspolitik ist, wird in der Praxis vor allem durch die Europaregionen verkörpert. Inzwischen sind die Niederlande in insgesamt acht Europaregionen mit Belgien und Deutschland vertreten.

Seit den 1990er Jahren haben diese grenzübergreifenden Kooperationszusammenschlüsse im Zuge der Vertiefung der europäischen Integration einen kontinuierlichen Aufschwung erfahren. Die Verträge von Maastricht (1992), Amsterdam (1996) und Nizza (2000) haben zu einer Aufwertung der europäischen Regionen geführt. Seitdem agieren die niederländischen Provinzen selbstbewusst auf der europapolitischen Bühne. Darüber hinaus werden die benachbarten Bundesländer inzwischen auch von der Regierung in Den Haag als bilaterale Partner wahrgenommen, zum Beispiel im Hinblick auf das sich entwickelnde Infrastrukturprojekt Delta Rhein Corridor für deutsche Wasserstoffimporte.

Es sind Entwicklungen wie diese, die immer mehr Behörden, Unternehmen, Bildungs-, Forschungs- und Kultureinrichtungen zu Akteuren im europäischen Projekt machen. Diese Akteure setzen sich auch mehr als früher dafür ein, ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger von der geteilten Interessenlage und Identität der Europaregionen zu überzeugen. Dass sich damit in den peripheren Grenzregionen, die oft vor großen wirtschaftlichen und demografischen Herausforderungen stehen, eine Interessengemeinschaft hinter der europäischen Integration versammelt, ist in Zeiten der zunehmenden Politisierung des Stadt-Land-Gefälles nicht unwichtig.

Sicherheitsinteressen

Nicht zuletzt drängt auch die düstere sicherheitspolitische Weltlage die Niederlande verstärkt zu europäischen Lösungen. Bereits seit Anfang der 1990er Jahre setzt das Land dabei auf die Zusammenarbeit mit Deutschland. Der erste Schritt erfolgte 1995 mit der Gründung des „1. Deutsch-Niederländischen Korps“, einem Hauptquartier der Nato Response Force in Münster, an dem inzwischen ein Dutzend Bündnispartner beteiligt sind. Mittlerweile sind alle Brigaden des niederländischen Feldheeres in Divisionen des deutschen Heeres integriert. Und auch die Marine und Luftwaffe sind auf dem Weg der Integration, nicht nur mit Deutschland, sondern auch mit Belgien, dem Vereinigten Königreich und Norwegen.

Es passt zu dieser Entwicklung, dass heutzutage idealistische Argumente, die auf die EU als Friedens- und Wertegemeinschaft verweisen, in der niederländischen Bevölkerung deutlich Anklang finden. So zeigt die jüngste Eurobarometer-Umfrage vom Herbst 2023, dass viele Niederländerinnen und Niederländer die EU mit dem Begriff „Frieden“ verbinden. Nach der „Freiheit, überall in der Union reisen, studieren und arbeiten zu können“, und dem Euro war dies mit 44 Prozent die am dritthäufigsten genannte Antwort.

Dennoch tut sich die niederländische Öffentlichkeit bisweilen schwer mit der Frage, ob mit der faktischen Verschmelzung des Heeres mit der Bundeswehr nicht auch die Entscheidungsgewalt über die eigenen Streitkräfte, also die nationale Souveränität, aufgegeben wurde. Wilders scheint dies zu glauben und schlägt deshalb vor, die Integration des niederländischen Heeres wieder rückgängig zu machen. Außer Empörung rufen solche unlauteren, mit der Nato-Mitgliedschaft unvereinbaren Gedanken der PVV allerdings wenig sachliche Reaktionen hervor.

Fazit

Es zeigt sich, dass in den Niederlanden bislang keine ernsthafte Debatte darüber geführt wurde, wie Souveränität in einer Welt zunehmender Unordnung neu zu definieren ist. Die Impulse des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, Souveränität in Richtung einer gemeinsamen europäischen strategischen Autonomie zu deuten, sind in den Niederlanden, wenn überhaupt, nur mit Argwohn aufgenommen worden. Den Plänen der PVV steht also kaum mehr als die – freilich immer noch weit verbreitete – Zuneigung zur Nato gegenüber.

Das Fazit des Beitrags kann daher nur ambivalent ausfallen: Klar ist, dass die Interessenlage – wirtschaftlich, grenzräumlich und sicherheitspolitisch – für eine Fortsetzung und sogar Vertiefung der europäischen Integration der Niederlande spricht. Auch ist klar, dass zu den Vertretern der niederländischen Wirtschaft seit 1990 zunehmend neue Akteure, darunter Interessenvertreter aus den Grenzregionen, hinzugekommen sind, die sich als breite Lobbygruppe einer euroskeptischen Politik entgegenstellen. Die jüngste Eurobarometer-Umfrage könnte sie darin bestärken, denn sie hat ergeben, dass 85 Prozent der Niederländerinnen und Niederländer die These ablehnen, ihr Land könne außerhalb der EU seine Zukunft besser meistern.

Problematisch bleibt jedoch, dass dieselben Bürgerinnen und Bürger in der Wahlkabine nicht nur nach ihrer Meinung zu Europa abstimmen. So könnte es passieren, dass viele für eine strengere Einwanderungspolitik stimmen und nebenbei einen Nexit erwirken, obwohl die Grundstimmung in den Niederlanden eindeutig dagegen ist. Nur eine klare Debatte über Europa und die Interessen, die durch die Integration gewahrt werden, kann dies verhindern. Ein größeres Bewusstsein in Politik und Medien für die niederländische Integrationsgeschichte und die manchmal eigenwilligen Entscheidungen niederländischer Europapolitiker könnte dabei helfen.

ist Professor für niederländische Geschichte und Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien an der Universität Münster.

ist Assistant Professor für Geschichte der Internationalen Beziehungen an der Universität Utrecht.