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Vom Bremser zum Antreiber | Europa | bpb.de

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Vom Bremser zum Antreiber Polens Rückkehr nach Europa

Rosalia Romaniec

/ 12 Minuten zu lesen

Der Mangel an militärischen Fähigkeiten ist nach wie vor die größte Schwäche Europas. Diese Lücke muss geschlossen werden, um die Ukraine zu verteidigen und um zu verhindern, dass eine weitere Präsidentschaft Donald Trumps Europa auch in anderen Politikbereichen spaltet.

Nur wenige in Europa haben geglaubt, dass die polnischen Parlamentswahlen 2023 eine politische Wende einleiten würden. Doch Polens Ministerpräsident Donald Tusk hat es geschafft. Während stabile europäische Demokratien wie Italien oder die Niederlande Rechtspopulisten an die Macht wählten, kehrt in Polen der Liberalismus zurück. Vielleicht war diese Wahl die für Europa wichtigste im Jahr 2023.

Der Plan der neuen polnischen Regierung lautet: zurück zur Normalität. Dies ist nach acht Jahren Demontage des Rechtssystems durch die national-konservative PiS nicht trivial. Rund einhundert Tage nach der Wahl kann man erste Fortschritte sehen. Die Spaltung des Landes hält noch an, die PiS verliert aber an Zustimmung. Drei Monate nach der Wahl verringerte sich ihre Anhängerschaft in den Umfragen von 36 Prozent auf 24. Die Tusk-Partei „Bürgerplattform“ hält sich dagegen bei rund 31 Prozent.

Kein innenpolitisches Thema ist dem Tusk-Team so wichtig wie die Rechtsstaatlichkeit. Sie wiederherzustellen, war eines der wichtigsten Wahlversprechen und auch die Voraussetzung für die Freigabe blockierter EU-Gelder für Polen. Manches gelingt, aber Tusk muss auch Rückschläge einstecken. Etwa beim Versuch, die öffentlich-rechtlichen Medien wieder unabhängiger zu machen: Nicht alles läuft nach Plan, und manche Entscheidungen der neuen Regierung erklärten polnische Gerichte für rechtswidrig. Eine Justizreform rückgängig zu machen, ist ebenfalls nicht einfach. Für Polen stehen nicht weniger als rund 160 Milliarden Euro an EU-Geldern auf dem Spiel. Die Chancen, dass die blockierten Gelder aus Brüssel bald fließen, stehen aber trotz aller Hürden gut. Ende Februar hat die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen angekündigt, Mittel in Höhe von bis zu 137 Milliarden für Polen freizugeben.

Die Härte, mit der Tusk das geltende Recht durchsetzte, überraschte zunächst viele und wurde in den ersten Wochen von einigen kritisiert, da sie den sozialen Frieden gefährde. Der Streit um die beiden 2007 verurteilten PiS-Abgeordneten, die Jahre nach ihrem rechtskräftigen Urteil doch noch zwischenzeitlich ins Gefängnis mussten, löste ebenso heftige Debatten aus wie die umstrittene „Übernahme“ des polnischen Fernsehsenders TVP, der heute nicht mehr als Propagandamaschine der PiS-Regierung fungiert. Doch insgesamt ist die Zustimmung zur neuen Regierung stabil, zumal sie konsequent gegen Korruption und Vetternwirtschaft in staatlichen Unternehmen und Institutionen vorgeht.

Von Politikverdrossenheit ist in Polen wenig zu spüren. Noch nie waren politische Debatten so lebhaft wie heute. Die ersten Sitzungen des neuen polnischen Parlaments im Dezember 2023 wurden in volle Kinosäle übertragen. Und auf Youtube hat der polnische Sejm inzwischen 736.000 Follower – zum Vergleich: Der deutsche Bundestag hat 131.000 Abonnenten. Vor allem bei jüngeren Polinnen und Polen scheint das Interesse groß zu sein, was möglicherweise mit dem Generationswechsel der politischen Akteure zusammenhängt.

Tusk selbst gehört zwar zu den ältesten aktiven Spitzenpolitikern Polens, aber in seiner Koalition gibt es interessante Nachwuchspolitiker, die junge Wähler ansprechen. So zum Beispiel der neue Sejmmarschall Szymon Hołownia von der mitregierenden Partei „Polska 2050“. Noch vor vier Jahren war er Journalist und Entertainer, dann wechselte er von der Medienwelt in die Politik und kämpfte um das Präsidentenamt. Mit seiner schlagfertigen und unterhaltsamen Art, das Parlament zu führen, trifft der 47-Jährige offenbar den Nerv der Zeit. Bei jungen Wählerinnen und Wählern hat Hołownia inzwischen Kultstatus. Computerspiele bilden Sejm-Debatten nach, und jenseits der virtuellen Welt berichteten Medien über Gymnasien, in denen Schüler in den großen Pausen Sitzungen des polnischen Parlaments nachspielen. Die beliebteste Rolle soll dabei die des Sejmmarschalls sein.

Deutschland und Polen

Doch wie viel von dieser Aufbruchstimmung wird Polen nach Europa tragen? Die außenpolitische Agenda der neuen Regierung stand zunächst im Hintergrund, so drängend waren die innenpolitischen Aufgaben. In groben Zügen skizzierte Donald Tusk in seiner ersten Regierungserklärung die außenpolitischen Ziele. Die enge Zusammenarbeit innerhalb der europäischen Gemeinschaft habe oberste Priorität. „Wir sind umso stärker und souveräner, je stärker (…) unsere europäische Gemeinschaft ist.“ Sein Versprechen an die Bürger: „Ich und die neue Regierungskoalition garantieren euch: Wir kehren auf den Platz zurück, der Polen gebührt.“

Dieses Versprechen sei mehr als eine bloße Kurskorrektur, meint Piotr Buras, Direktor des European Council on Foreign Relations in Warschau. Tusk stelle damit die Grundlagen polnischer Politik klar: unverrückbare gemeinsame Werte und eine enge Zusammenarbeit mit anderen Ländern und Institutionen in Europa. Anders als die PiS stelle Tusk die polnische Souveränität nicht gegen die europäische Integration.

Eine Rückkehr Polens nach Europa sei aber keine Reise zurück in die Zeit vor der PiS-Regierung, so Piotr Buras. Polen und Europa stünden heute anders da als 2015. Tatsächlich: Damals gehörte Polen in Europa zum „Follow Germany“-Lager und arbeitete eng mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel zusammen. Das ist in Zeiten von Olaf Scholz und Tusk 2.0 nicht zu erwarten. Die Ansage auf der Pressekonferenz zum Antrittsbesuch des polnischen Ministerpräsidenten in Berlin im Februar 2024 war eindeutig: „Ich garantiere eine freundschaftliche und tiefe Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschland. Aber wir werden in vielen Bereichen sicher auch durchsetzungsfähig sein.“

Denn jenseits der Fragen von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten steht die neue polnische Regierung bisher in wichtigen europäischen Fragen der PiS näher als Berlin. Der Unterschied ist: Donald Tusk und seine Mannschaft bringen einen anderen Ton mit: keine aggressive Rhetorik, kein Schaum vor dem Mund; Deutschland soll als verlässlicher Partner behandelt werden – trotz Meinungsverschiedenheiten. Zwischen Deutschland und Polen wird es also hart in der Sache, aber vertrauensvoller im Umgang, vielleicht sogar berechenbarer zugehen. Warschau will die bilateralen Beziehungen normalisieren, weil sie für den Fortschritt in Europa von grundlegender Bedeutung sind – so auch der neue Außenminister Radosław Sikorski bei seinem Antrittsbesuch in Berlin Ende Januar. Meinungsverschiedenheiten seien kein Drama, man könne sie auch „konstruktiv und ohne Konfrontationsrhetorik angehen“, so Sikorski.

Wie viel Konfrontation tatsächlich nötig sein wird, kann heute nicht einmal die polnische Regierung sagen, denn sie hat zu den meisten wichtigen Fragen in der EU noch keine offizielle Position erarbeitet. „Wir werden erst bald über konkrete Vorschläge und Positionen sprechen und dann mit Brüssel, Berlin und anderen diskutieren“, sagte Außenminister Sikorski auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Eins ist jedoch sicher: Für Warschau liegt die absolute außenpolitische Priorität in der Sicherheitspolitik.

Neues Selbstbewusstsein

Mit Tusk und Sikorski stehen zwei sehr erfahrene Außenpolitiker an der Spitze der polnischen Regierung. Tusk war zweimal Premierminister (2007–2014), Präsident des Europäischen Rates und Vorsitzender der Europäischen Volkspartei. Neben Emmanuel Macron und Viktor Orbán ist er der erfahrenste europäische Spitzenpolitiker. „Niemand in der Europäischen Union macht mir etwas vor“, sagte Tusk kürzlich im Sejm. Ähnliches kann sein Chefdiplomat Sikorski von sich behaupten. Das konnte man kürzlich bei seinem Auftritt in der UN-Vollversammlung sehen, als er auf die Behauptungen der russischen Seite schlagfertig reagierte.

Nicht nur die polnische Führung ist stärker geworden. Auch das Land hat einen großen Sprung gemacht: wirtschaftlich, politisch und militärisch. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag 2023 zwar immer noch weit unter dem EU-Durchschnitt, aber mit rund 22.400 US-Dollar fast doppelt so hoch wie 2015. Nur mit dem Euro geht es nicht voran. 20 Jahre nach dem EU-Beitritt erfüllt Polen noch immer kein einziges Kriterium, weil die PiS-Regierung die Gemeinschaftswährung immer wieder torpedierte, obwohl sich das Land vertraglich zur Einführung des Euro verpflichtet hat. In der Bevölkerung ist die Zustimmung zum Euro gering: Im Eurobarometer vom Frühjahr 2023 unterstützten nur 44 Prozent der Polen die Gemeinschaftswährung, europaweit waren es 71 Prozent. Wenn Polen mittelfristig die Gemeinschaftswährung einführen will, muss Tusk nicht nur die öffentlichen Ausgaben transparenter machen und dem Parlament die Kontrolle über die Haushaltspolitik zurückgeben, sondern auch die Zustimmung seiner Landsleute gewinnen.

Die Abwahl der PiS zeigt auch, wie sehr Polen politisch gereift ist – von einem Land, das acht Jahre lang dem Abbau seines Rechtsstaates tatenlos zugesehen hat, zu einem Land, das diesen Prozess erfolgreich gestoppt und die Rechtspopulisten letztlich entzaubert hat. Eine Erfahrung, die manchem in Europa noch bevorstehen mag.

Polen ist zudem auf dem Weg zu einer der modernsten Armeen Europas. Das Land rüstet kontinuierlich auf – und das nicht erst seit dem russischen Angriff auf die Ukraine. In den vergangenen zwei Jahren wurden die Ausgaben für die Verteidigungsfähigkeit verdoppelt, 2024 werden es noch einmal 20 Prozent mehr sein als im Vorjahr – rund vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts gibt Polen derzeit für Verteidigung aus. Bis 2035 will Polen eine Armee mit rund 300.000 Soldaten haben – sie wäre die stärkste in Europa. Angesichts der Signale aus den Vereinigten Staaten fühlt sich Warschau in seinem Kurs bestätigt. Denn obwohl das Land bei den Verteidigungsausgaben zu den führenden gehört, sitzt der Schock über die jüngsten Drohungen Donald Trumps an die Adresse der Nato-Partner, die ihren finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommen, tief.

Weimarer Dreieck

Ein Format, in dem Warschau seine neue Stärke testen kann, ist das 1991 gegründete Weimarer Dreieck. Das erste Außenministertreffen des Formats in der neuen Zusammensetzung fand im Februar 2024 in der Nähe von Paris statt. Mitte März, wenige Tage nach dem Besuch der polnischen Führung in Washington, kam es dann zu einem kurzfristig einberufenen Treffen in Berlin, bei dem sich Scholz, Macron und Tusk persönlich über die aktuelle Sicherheitslage austauschten. Seit der Integration Polens in die westlichen Strukturen – Nato-Beitritt 1999, EU-Beitritt 2004 – hat das Weimarer Dreieck kein neues Großprojekt mehr hervorgebracht. Nun steht Europa mit dem Krieg in der Ukraine vor historischen Herausforderungen. Die Achse Paris-Berlin-Warschau könnte die treibende Kraft für Veränderungen sein – vor allem für die Integration der Ukraine in die westlichen Strukturen, die aus polnischer Sicht die beste Garantie für Sicherheit in ganz Europa ist. Hinzu kommt, dass das Gefühl der Unsicherheit an der gesamten Ostflanke der Nato fast wöchentlich zunimmt. Das ist in Warschau deutlich zu spüren. Donald Tusk hat kürzlich auf der Plattform X eine bemerkenswerte Erklärung veröffentlicht: Die Nachkriegszeit sei vorbei, schrieb er, „wir leben in einer neuen Zeit: in einer Vorkriegsepoche“.

Für Warschau sind viele europapolitische Fragen nicht lösbar, solange die Sicherheit der Ukraine nicht geklärt ist. Deshalb hat für Polen die Unterstützung des Nachbarn, der seit zwei Jahren um seine Existenz kämpft, Priorität. Die Aussicht auf eine zweite Trump-Ära veranlasst Polen dazu, sich noch stärker für eine enge militärische Zusammenarbeit in Europa einzusetzen – bei gemeinsamen Rüstungsprojekten, bei der Verbesserung der Transportlogistik der Armeen und in der militärischen Forschung. Der Verteidigungsbereich bietet dem Weimarer Dreieck vielleicht das größte Potenzial, rasch gemeinsame Großprojekte zur Stärkung der europäischen Sicherheitssouveränität und Rüstungsunabhängigkeit auf den Weg zu bringen – weil hier die Dringlichkeit am größten ist und vieles direkt von den drei Partnern abhängt. Nachdem die PiS viele Waffen und Rüstungsgüter im Ausland gekauft hat, will die neue polnische Regierung mindestens die Hälfte der Verteidigungsausgaben in eigenen Fabriken tätigen. Damit ist klar, dass Polen künftig stärker an den europäischen Fonds für Rüstungsbeschaffungen partizipieren will.

Das Weimarer Dreieck könnte unter Einbeziehung der Ukraine auch zu einem gelegentlichen oder regelmäßigen „3+1“-Format werden, auch wenn die EU der Ukraine derzeit kaum konkrete Angebote jenseits militärischer Unterstützung machen kann. Eine Einladung an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wäre ein deutliches Signal, das die ukrainische Perspektive in den westlichen Bündnissen stärken würde. Darin könnten sich sowohl die Befürworter eines raschen Beitritts der Ukraine als auch die Zurückhaltenden wiederfinden.

Migration und Klima

Einige Positionen Polens werden sich auch mit der neuen Regierung nicht so bald ändern – vor allem in der Migrations- und Klimapolitik. Schon als Premierminister vor 2015 lehnte Tusk eine Verpflichtung einzelner Länder zur Aufnahme von Asylsuchenden ab. Inzwischen hat Polen mehr als eine Million ukrainische Flüchtlinge aufgenommen und kämpft an der Grenze zu Weißrussland gegen Migration. Von dort schickt das Regime von Alexander Lukaschenko Tausende Flüchtlinge nach Polen. Im Wahlkampf 2023 sagte Tusk: „Polen wird seine Grenzen schützen. Unkontrollierte Migration ist eine große Herausforderung.“

Inzwischen hat er bestätigt, dass seine Regierung – wie zuvor die PiS – dem EU-Asylpaket nicht zustimmen wird. Da keine Einstimmigkeit erforderlich ist, werden die im Dezember 2023 beschlossenen Änderungen dennoch in Kraft treten. Tusks Haltung könnte also innenpolitisches Kalkül sein. Die Opposition wirft ihm immer wieder vor, Polen nicht ausreichend vor illegaler Migration zu schützen. Durch sein Festhalten an der PiS-Position blockiert er auf europäischer Ebene nichts und macht sich gleichzeitig innenpolitisch nicht angreifbar. Spannend wird es erst in etwa zwei Jahren, wenn das Asylpaket umgesetzt werden soll. Sollte Polen dann mehr Flüchtlinge aufnehmen, muss Tusk bis dahin noch einiges gegen die Anti-Migrationsrhetorik der PiS unternehmen. Denn rein demografisch ist das Land schon bald dringend auf Zuwanderung angewiesen.

Auch in der Klimapolitik könnte die neue Regierung auf Kontinuität und Distanz zum Green New Deal der EU setzen, nicht zuletzt wegen der zunehmenden Bauernproteste. Zwar gehören der neuen Regierungskoalition mit der Partei Polska 2050 und den Linken zwei Parteien an, die sich besonders um den Klimaschutz verdient gemacht haben, doch verspricht der Premier nichts über die bisherigen Verpflichtungen hinaus – also eine CO2-Reduktion um 55 Prozent bis 2030. Kohlekraftwerke sollen in Polen noch bis 2049 laufen, die Klimaneutralität erst 2050 erreicht werden. Als die stellvertretende Umweltministerin Urszula Zielińska kürzlich bei einem Treffen in Brüssel mit ambitionierteren Zielen wie einer CO2-Reduktion um 90 Prozent bis 2040 vorpreschte, distanzierte sich ihr Ministerium umgehend: „Als Regierung wollen wir eine ehrgeizige Klimapolitik, aber sie darf nicht zulasten der Bürger und der Wirtschaft gehen“, hieß es in einer Pressemitteilung. Eine „konstruktive Rolle im Klimaschutz“ könnte also bedeuten, dass Polen grundsätzlich keine Blockadehaltung einnimmt und beschlossene Ziele umsetzen wird. Aber das Tempo, mit dem man sich den Klimazielen nähert, hängt von der Kostenkalkulation ab. Außerdem will Polen erreichen, dass Atomkraft als saubere Energie anerkannt wird. Damit nähert sich der Atomfreund Tusk der Position Frankreichs an. Kernkraftwerke sind von der PiS bereits geplant, das erste soll 2033 in Betrieb gehen. Die neue Regierung prüft noch den Standort.

Vertragsreform und Erweiterung

Etwas komplizierter ist die Situation bei der Reform der europäischen Verträge. Auch hier könnte die neue Regierung die PiS-Position beibehalten wollen, insbesondere wenn es um das Einstimmigkeitsprinzip in sensiblen Bereichen geht. Olaf Scholz’ Vorschlag einer qualifizierten Mehrheitsentscheidung in der Außen- und Verteidigungspolitik wird in Polen schon aus historischen Gründen im breiten politischen Konsens abgelehnt, auch von Tusk. Der russische Angriff auf die Ukraine hat diese Haltung noch verstärkt.

Warschau tut sich schwer damit, Berlin und Paris zu mehr Gewicht zu verhelfen, weil beide mit ihrer Russlandpolitik so grundlegend falsch lagen. Man vertraut ihrer Expertise nicht blind, zumal ihre alten Fehler gegenüber Putin direkte Auswirkungen auf die polnische Sicherheit haben. Deshalb ist Polen im Hinblick auf die EU-Reform daran interessiert, die Macht Deutschlands und Frankreichs eher zu begrenzen, und stellt sich auf die Seite der kleineren Länder, die bei künftigen Abstimmungen nicht benachteiligt werden sollen. Es ist erkennbar, dass Warschau hier neue Allianzen mit dem Baltikum und Skandinavien schmiedet.

Insgesamt darf in europapolitischen Fragen nicht übersehen werden, dass Warschau keine Eile hat. Zum einen befindet sich die EU im Wahljahr, zum anderen sind viele polnische Positionen eng mit der Lage an der ukrainischen Front verknüpft. Solange der Krieg andauert, wird sich Warschau auf die militärische Unterstützung der Ukraine konzentrieren.

Polen nimmt gegenüber der Ukraine die gleiche Haltung ein wie Deutschland in den 1990er Jahren gegenüber Polen: Die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Integration des östlichen Nachbarn erhöht die Sicherheit des eigenen Landes. Der deutsche Vorschlag zur EU-Reform wird daher in Warschau als kontraproduktiv angesehen. Würde die EU-Reform zur Bedingung für einen EU-Beitritt der Ukraine gemacht, käme es aus polnischer Sicht nie zu einer Erweiterung. Einige formulieren es direkter: Wer den Beitritt der Ukraine ernsthaft verhindern wolle, müsse unbedingt die deutsche Position übernehmen.

Dennoch wird sich Polen den europäischen Debatten in nächster Zeit nicht ganz entziehen können. Tusk wird daher versuchen, beides gleichzeitig zu tun: innenpolitisch in ruhigeres Fahrwasser zu kommen und europapolitisch mehr Führung zu übernehmen. Wenn er es geschickt anstellt, könnte es einen „polnischen Moment“ in Europa geben. Der Zeitpunkt ist günstig: Demnächst wählen die Europäer das Europaparlament, dann muss die nächste EU-Kommission gebildet werden. Tusk kann also einiges anstoßen und polnische Interessen vertreten. Für verbindliche Positionen gegenüber den EU-Partnern hat er noch etwas Zeit. Und ab Januar 2025 wird Polen die EU-Präsidentschaft von Ungarn übernehmen. Dann wird Warschau sicherlich versuchen, eigene Akzente zu setzen. Man kann jetzt schon davon ausgehen, dass der Schwerpunkt auf der europäischen Sicherheit liegen wird.

ist Journalistin und leitet das Hauptstadtstudio der Deutschen Welle in Berlin.