Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Modern Monetary Theory | Geldpolitik | bpb.de

Geldpolitik Editorial Politische Theorie des Geldes Die neue geldpolitische Strategie der Europäischen Zentralbank. Grundlagen und Herausforderungen Zentralbankkapitalismus. Das (Schatten-)Bankensystem in der Krise Inflation und Inflationsangst Eine kurze Geschichte der Europäischen Währungsunion Monetäre Kriegsführung Modern Monetary Theory. Rückkehr des gesamtwirtschaftlichen Denkens Kryptowährungen und ihre Bedeutung im Finanzsystem Der CFA-Franc. Afrikas letzte Kolonialwährung

Modern Monetary Theory Rückkehr des gesamtwirtschaftlichen Denkens

Michael Paetz

/ 13 Minuten zu lesen

Eine Regierung muss ihre Ausgaben nicht finanzieren, weil sie die nationale Währung herausgibt. Eine Sparpolitik ist daher unnötig und behindert die wirtschaftliche Entwicklung sowie die sozial-ökologische Transformation.

Die Modern Monetary Theory (MMT) ist eine gesamtwirtschaftliche Theorie, die die Funktionsweise des Geldsystems in den Mittelpunkt ihrer Analyse stellt und postkeynesianische Wurzeln hat. Sie ist durch ihre Kernthese, dass ein Staat in seiner eigenen Währung keine Insolvenz fürchten muss, in den vergangenen Jahren zunehmend populär geworden. Da bei staatlichen Ausgaben stets neues Geld entsteht, benötigt eine Regierung als Schöpferin der Währung weder Geld aus Steuern noch aus dem Verkauf staatlicher Schuldverschreibungen. Die MMT stellt somit den derzeit elementarsten Gegenentwurf zur Austeritätspolitik dar, die bereits nach 2010 zu einem verlorenen Jahrzehnt im Euroraum geführt hat und auch nach der Pandemie einer wirtschaftlichen Erholung im Wege stehen wird. Zudem lenkt die MMT den Fokus weg von der Finanzierungsfrage der sozial-ökologischen Transformation und diskutiert stattdessen, ob genügend Kapazitäten für deren Umsetzung zur Verfügung stehen. Dies eröffnet neue politische Denkansätze, die es wert sind, diskutiert zu werden.

Das Währungsmonopol

Die MMT ist wie eine Linse zu verstehen, mit der sich die Zusammenhänge des modernen Geldsystems schärfer erkennen lassen. Sie sieht die Fähigkeit, mit Geld Steuern zu zahlen, als die konstitutive Grundlage, die einen Gegenstand zu Geld macht und ihm Wert verleiht. Die Grundsätze der Theorie lassen sich am besten anhand eines vereinfachenden Beispiels erklären. Betrachten wir hierzu die hypothetische Gründung eines neuen Staates, dessen Einwohner:innen ein gemeinsames Interesse daran haben, dass die Regierung für ein funktionierendes Gemeinwesen sorgt. Hierfür werden Güter (Waren und Dienstleistungen) benötigt, um ein Bildungs- und Gesundheitssystem, ein Straßennetz, ein Rechtssystem und so weiter zu gewährleisten. Die Regierung bezahlt Arbeiter:innen, die diese Güter herstellen, mit einer selbst geschaffenen Währung. Damit dieses Geld von allen angenommen wird, erhebt der Staat zudem eine Steuer, die nur in dieser Währung gezahlt werden kann. Da jede:r Steuern zahlen muss, besteht ein reges Interesse daran, das staatliche Geld zu erlangen. Es wird daher auch zwischen den Einwohner:innen gegen Leistungen getauscht, wodurch auch die Personen das staatliche Geld erhalten, die ihre Güter nicht direkt an die Regierung verkaufen. Die staatliche Währung setzt sich im Privatsektor als Zahlungsmittel durch.

Um Ausgaben zu tätigen, teilt die Regierung also ihre eigenen Gutscheine aus, die sie zur Tilgung von Steuerschulden (und Gebühren) akzeptiert. Aus Sicht des Privatsektors (private Haushalte und Unternehmen) handelt es sich um Steuergutschriften, die als Zahlungsmittel verwendet werden und Teil des privaten Geldvermögens sind. Da Steuern nur gezahlt werden können, nachdem die staatlichen Gutscheine in Umlauf gebracht wurden, können staatliche Ausgaben nicht durch Steuern finanziert werden. Die Regierung kann sich vom Privatsektor auch kein Geld leihen, indem sie Schuldverschreibungen (Staatsanleihen) verkauft, solange niemand vorher das staatliche Geld erhalten hat. In unserem Beispielstaat muss die Regierung zunächst Geld ausgeben, damit im Anschluss die Einwohner:innen mit ihren Einnahmen Steuerschulden tilgen oder Staatsanleihen kaufen können.

Steuern dienen folglich nicht der Finanzierung des Staates, sondern dazu, der staatlichen Währung Akzeptanz zu verleihen (taxes drive money). Dadurch erhält die Regierung die Möglichkeit, alles kaufen zu können, was in der eigenen Währung angeboten wird und kann so für ein funktionierendes Gemeinwesen sorgen. Übersteigen die Ausgaben der Regierung ihre Steuereinnahmen, gelangen mehr Steuergutschriften in den Privatsektor. Die "Staatsverschuldung" entspricht der Summe aller sich im Umlauf befindlichen Steuergutschriften, die vom Privatsektor als Geldvermögen gehalten werden. Historisch lassen sich viele Beispiele finden, die der obigen Darstellung staatlichen Geldes ähneln. So verwendete die britische Regierung im 18. Jahrhundert Kerbhölzer, um Soldaten zu bezahlen. Die Regierungshölzer wurden vom Staat nicht durch Edelmetalle gedeckt, dienten ausschließlich zur Zahlung von Steuern und wurden auch im Privatsektor als Zahlungsmittel genutzt.

Grundlagen eines modernen Geldsystems

Das heutige Geldsystem ist offensichtlich sehr viel komplexer. Für einen monetär souveränen Staat sind die Grundprinzipien aber die gleichen. Monetäre Souveränität besteht, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind:

Die Regierung besitzt erstens das Währungsmonopol, das heißt sie bestimmt, welche Mittel sie zur Tilgung von Steuerschulden (und anderen Zahlungen an den Staat) akzeptiert, und ist die einzige Institution, die diese Mittel herstellen darf. Zweitens garantiert die Regierung keinen festen Umtauschkurs der eigenen Währung in ein Edelmetall oder eine andere Währung. Die Regierung verschuldet sich drittens nicht in Fremdwährung.

Unter diesen Voraussetzungen kann eine Regierung jederzeit zusätzliche Währungseinheiten (Steuergutschriften) erschaffen, ohne befürchten zu müssen, dass sie diese gegen ein Edelmetall oder eine andere Währung tauschen muss, die sie selber nicht herstellen kann. Zudem muss sie sich keine Fremdwährung leihen, um Auslandsschulden zu begleichen. Der Grad der monetären Souveränität fällt für verschiedene Länder sehr unterschiedlich aus. Die USA besitzen derzeit den höchsten Grad der monetären Souveränität, da ihre Währung sogar international akzeptiert wird. Regierungen, die sich in ausländischer Währung verschulden, weil sie dringend Güter aus dem Ausland beziehen müssen, haben eine geringere monetäre Souveränität. Aber auch diese Länder können mit dem Blick durch die MMT-Linse lernen, welche Möglichkeiten ihr Geldsystem bietet.

Das Währungsmonopol haben Regierungen heute in der Regel auf ihre Zentralbank übertragen, die als einzige Institution Bargeld herausgeben darf. Geschäftsbanken können zudem Guthaben auf Konten der Zentralbank besitzen, die man als Reserven bezeichnet. Bargeld und Reserven sind die modernen Steuergutschriften, also die ausschließlich von der Zentralbank geschaffene staatliche Währung. Bei der Kreditvergabe schaffen Banken zwar ihr eigenes Geld (Sichtguthaben auf privaten Bankkonten), sind aber verpflichtet, dieses bei Bedarf jederzeit gegen Bargeld zu tauschen. Zudem werden jegliche Zahlungen an die Regierung vom Bankensektor ausschließlich mit Reserven getätigt. Banken dienen als Vermittler zwischen Privatsektor und Regierung, indem sie die Guthaben ihrer Kunden Eins-zu-Eins gegen die staatliche Währung tauschen. Deswegen wird das private Geld der Banken als Zahlungsmittel akzeptiert. Auch im modernen Geldsystem sichert die Auferlegung von Steuern die Akzeptanz der einheimischen Währung, obgleich die Zahlungsmittelversorgung von Privatbanken und nicht von der Regierung organisiert wird.

Staatsausgaben werden auch in der realen Welt durch Schaffung zusätzlicher Währung getätigt. Dies geschieht mithilfe der eigenen Zentralbank, die hierfür die Reserveguthaben der Geschäftsbanken erhöht. Im Gegenzug schreiben die Geschäftsbanken den Zahlungsempfänger:innen der staatlichen Ausgaben die entsprechende Summe auf ihrem Bankkonto gut. Wenn die Regierung am Ende des Monats eine Mitarbeiterin des Bundestages bezahlt, erhält ihre Geschäftsbank zusätzliche Reserveguthaben bei der Bundesbank und die Mitarbeiterin Guthaben auf ihrem Bankkonto. Die Ausgabe erhöht also sowohl die staatliche Geldmenge (Währung in Form von Reserven) wie auch die private (die Sichtguthaben der Mitarbeiterin). Vereinfacht gesagt: Der Staat gibt immer Geld aus, das es vorher nicht gab.

Steuern und Staatsanleihen

Steuern und Staatsanleihen können auch in der Wirklichkeit Staatsausgaben nicht finanzieren, weil der Privatsektor die staatliche Währung nicht selber herstellen kann. Es besteht aber die Möglichkeit, einen Kredit bei einer Zentralbank aufzunehmen, um Reserven zu erhalten. Leiht sich eine Geschäftsbank Reserven, um beispielsweise eine deutsche Bundesanleihe zu kaufen, muss sie hierzu Sicherheiten bei der Zentralbank hinterlegen. Die beliebtesten Sicherheiten im Kreditverkehr zwischen Geschäftsbanken und Zentralbank sind wiederum Staatsanleihen. Banken leihen sich also von der einheimischen Zentralbank staatliches Geld, um eine staatliche Schuldverschreibung zu kaufen, die von ihnen wiederum als Sicherheit für den Zentralbankkredit verwendet werden kann. Dieser monetäre Kreisverkehr ändert nichts daran, dass ein Staat die einheimische Währung zunächst in Umlauf bringen muss, bevor er Steuern einziehen oder Anleihen verkaufen kann. Das geschieht entweder über seine Ausgaben oder über Kredite seiner Zentralbank.

Warum aber verkauft eine Regierung dann überhaupt Staatsanleihen? Staatliche Schuldverschreibungen dienten historisch dazu, einen positiven Zinssatz zu etablieren. Banken benötigen Zentralbankguthaben, um den täglichen Überweisungsverkehr untereinander zu verrechnen. Wenn eine Bank am Ende des Geschäftstages mehr Überweisungen getätigt als empfangen hat, muss sie den anderen Banken die Differenz in Form von Reserven zahlen. Banken leihen sich hierzu gegenseitig Reserven auf dem sogenannten Interbankenmarkt. Der Zins auf diesem Markt beeinflusst den privaten Kreditzins der Banken. Wenn die Reserveguthaben des Bankensektors steigen, sind die Banken bereit, diese zu einem geringeren Zins zu verleihen. Da bei jeder Staatsausgabe die Reserveguthaben des Bankensektors steigen, führen Staatsausgaben dazu, dass der Zins im Interbankenmarkt fällt, sofern die zusätzlichen Reserven nicht durch den Verkauf von Staatsanleihen wieder eingezogen werden. Der Verkauf staatlicher Schuldverschreibungen war also ein geldpolitisches Instrument, um die Zinsen zu steuern. Heutzutage werden die Reserveguthaben der Geschäftsbanken von der Zentralbank verzinst. Da keine Geschäftsbank ihre Reserven zu einem geringeren Zins an andere Banken verleihen wird, werden Staatsanleihen daher nicht mehr benötigt, um einen Minimumzins zu etablieren.

Steuern sichern zuallererst die Akzeptanz der staatlichen Währung, erfüllen aber auch weitere wichtige Aufgaben. Sie können eine gesellschaftlich unerwünschte Einkommens- und Vermögensverteilung korrigieren, indem hohe Einkommen und Vermögen überproportional besteuert werden. Wer sich hierfür stark macht, sollte seine Steuererhöhungswünsche aber nicht mit Finanzierungsmotiven begründen. Hierdurch erhalten die Vermögenden nämlich eine Machtposition, die ihnen nicht gebührt. Wer staatliche Ausgaben mit der Besteuerung von Vermögenden verknüpft, wird immer wieder hören müssen, dass der Staat mit dem Geld seiner Steuerzahler:innen sorgsamer umgehen müsse. Der Staat ist jedoch nicht darauf angewiesen, die eigenen Steuergutschriften von seinen Bürger:innen einzusammeln, da er diese über seine Zentralbank unbegrenzt selber herstellen kann.

Einkommensabhängige Steuern sind zudem ein automatischer Stabilisator, der den Konjunkturverlauf glättet. Weil in konjunkturell schlechten Jahren aufgrund der geringeren Verdienste weniger Steuern gezahlt werden, werden die Einkommen nach Steuerabzug in einer Krise nicht so stark belastet und der private Konsum geglättet. Dies erkennt man daran, dass in allen Jahren, in denen die deutsche Regierung keine Rekordsteuereinnahmen verzeichnet, die Privatwirtschaft schwächelt, wie etwa in den Jahren der Corona-Pandemie oder der Finanzkrise. Wenn in einem Aufschwung die Einkommen hingegen schneller steigen, steigen auch die Steuerzahlungen und der Konsum wird gedämpft, was einer Überhitzung mit möglicherweise steigenden Inflationsraten vorbeugt. Nicht zuletzt haben Steuern auch eine Lenkungsfunktion. Durch Steuern lassen sich umweltschädliche Produkte verteuern, um diese unattraktiver zu machen und den Konsum umweltfreundlicher Produkte anzuregen.

Politisch auferlegte Restriktionen

Obgleich ein monetär souveräner Staat finanziell grundsätzlich nicht beschränkt ist, können politische Regeln existieren, die seinen Spielraum bewusst eingrenzen. In Deutschland ist so eine politisch gewollte Restriktion die Schuldenbremse, auf der Euro-Ebene sind es die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Die meisten Zentralbanken dürfen staatliche Ausgaben zudem nur dann durchführen, wenn die Regierung zuvor über Steuern oder den Verkauf von Schuldverschreibungen ein Guthaben auf ihrem Zentralbankkonto angehäuft hat. Darüber hinaus ist es den meisten Zentralbanken untersagt, ihrer eigenen Regierung Schuldverschreibungen direkt abzukaufen. Die Staaten wurden hierdurch von den Bewertungen des Finanzmarktes abhängig gemacht, obwohl dies überhaupt nicht nötig wäre.

Solche Regeln wurden eingeführt, weil orthodoxe Ökonom:innen demokratisch gewählten Politiker:innen misstrauen. Sie befürchten, dass eine finanziell unbeschränkte Regierung insbesondere vor Wahlen der Versuchung unterliegt, durch zusätzliche Ausgaben im öffentlichen Sektor die Arbeitslosigkeit zu senken. Es könne dann passieren, dass eine sich selbst verstärkende Spirale aus steigenden Löhnen und Preisen zu immer höheren Inflationsraten führe. Die Zentralbank müsse dann die Zinsen erhöhen, um private Kredite zu verteuern. Dies wiederum würde die private Investitionsgüternachfrage senken und die Arbeitslosigkeit wieder erhöhen. Die gestiegene Arbeitslosigkeit sollte die Arbeitnehmer disziplinieren und so die Lohn-Preis-Spirale stoppen. Diese Logik folgt aus der Theorie der natürlichen Arbeitslosenquote, die seit den 1980er Jahren die wissenschaftliche Grundlage für die Ausgestaltung von Geld- und Fiskalpolitik darstellt. Staatliche Haushaltsdefizite würden demnach langfristig immer private Investitionen verdrängen (crowding out). Die gesamtwirtschaftliche Steuerung der privaten Nachfrage sollte daher von einem politisch unabhängigen Expertengremium in der Zentralbank übernommen werden. Nur in absoluten Notfällen, in denen private Investitionen auch bei sinkenden Zinsen nicht ansteigen, sollte eine Regierung mit Haushaltsdefiziten die private Nachfrage ergänzen, um eine Rezession schneller zu beenden.

Diese seit den 1990ern auch als Inflationssteuerung bekannte Strategie ist nicht nur aus Sicht der MMT gescheitert. Ob die Geldpolitik jemals in der Lage war, über den Leitzins die Investitionen ausreichend präzise zu steuern, kann bezweifelt werden, da für die Investitionsentscheidungen der Unternehmen die erwarteten Umsätze deutlich wichtiger sind als die Kreditzinsen. Bestenfalls nach den Ölpreisschocks der 1970er Jahre haben die enorm hohen Zinssätze gegebenenfalls die Investitionen zusätzlich hemmen können. Der Einfluss der Arbeitslosigkeit auf die Inflationsrate ist zudem sehr schwach und instabil, wie selbst Mainstream-Ökonom:innen seit einigen Jahren zugeben. Auch dieser Zusammenhang lässt sich empirisch allenfalls für die 1970er Jahre nachweisen.

Aus Sicht der MMT ist die Geldpolitik daher ein stumpfes Schwert. Die Zentralbanken sind darauf angewiesen, dass der Privatsektor aufgrund geringerer Zinsen seine Investitionsausgaben erhöht. Staatliche Haushaltsdefizite erhöhen hingegen die Nachfrage direkt und regen aufgrund steigender Umsatzerwartungen auch private Investitionen an (crowding in). Sie können so dazu beitragen, die Arbeitslosigkeit zu senken und die zukünftigen Kapazitätsgrenzen zu erweitern. Daher sollte die Regierung die gesamtwirtschaftliche Stabilisierung übernehmen und von ihrer Zentralbank unterstützt werden. Dass dies auch dazu führen kann, dass zu hohe Ausgaben die Inflationsrate nach oben treiben, wird von der MMT nicht bestritten. Der staatliche Haushalt muss aber von einem demokratisch legitimierten Parlament entschieden werden, das sich im Gegensatz zum Zentralbankrat regelmäßig vor seinen Wähler:innen verantworten muss. Diese werden eine Regierung auch an der Höhe der Inflationsrate bewerten. Die Regierenden wissen und berücksichtigen das, weil sie wiedergewählt werden wollen.

Zudem ist eine vollständige Zentralbankunabhängigkeit lediglich ein theoretisches Konzept, das tatsächliche Abhängigkeiten verschleiert. Eine Regierung kann die Regeln einer Zentralbank jederzeit ändern – mit guten wie schlechten Motiven. Die Zentralbank weiß das und wird daher im Normalfall die eigene Regierung nicht hängen lassen, um zumindest ihre formale Unabhängigkeit zu bewahren. Aus diesem Grund haben nahezu alle Zentralbanken nach Ausbruch der Pandemie ihre Regierungen (direkt oder indirekt) unterstützt. So hat die Bank of England der britischen Regierung eine unbegrenzte Kreditmöglichkeit eingeräumt. Und auch die EZB hat mit ihren Anleihekaufprogrammen dafür gesorgt, dass kein Euro-Mitgliedsland eine Insolvenz fürchten muss. Zentralbanker:innen haben eingesehen, dass die derzeitige Krise nur mit höheren Staatsausgaben erfolgreich bekämpft werden kann.

Funktionale statt solide Staatsfinanzen

Aus MMT-Sicht sollte eine Regierung, die keinen finanziellen Grenzen unterliegt, eine Vollbeschäftigungsstrategie verfolgen. Der US-Ökonom Abba Lerner schlug bereits in den 1940er Jahren vor, die staatliche Finanzpolitik ausschließlich danach zu bewerten, welche Ergebnisse sie erzielt, und nicht anhand der überkommenen Vorstellungen konservativer Haushaltspolitiker:innen. Er bezeichnete dies als "funktionale Finanzpolitik". Wenn der Privatsektor nicht genügend Nachfrage erzeugt, weil er lieber sein Nettogeldvermögen (Ersparnis) erhöhen möchte statt Ausgaben zu tätigen, kann nur der Staat als Schuldner der letzten Instanz den privaten Sparwunsch erfüllen. Denn die Gutschriften der Regierung sind ja Teil des privaten Geldvermögens. Zudem kann die Zentralbank jede Rechnung der Regierung in der einheimischen Währung begleichen.

Die Restriktionen eines monetär souveränen Staates sind nicht finanzieller, sondern realer Natur. Solange genügend Arbeitskräfte, Maschinen und Know-how vorhanden sind, um ein Vorhaben umzusetzen, sollte es nicht an der Finanzierbarkeit scheitern. Sollten die Ressourcen einer Volkswirtschaft hingegen voll ausgelastet sein, kann eine Regierung keine zusätzlichen Leistungen mehr erwerben und steht unweigerlich in Konkurrenz mit dem Privatsektor um die dann knappen Güter. Der Staat müsste höhere Löhne und Preise bieten als der Privatsektor und würde so die Inflationsrate nach oben treiben.

Sehr wahrscheinlich werden aber auf dem Weg zur Vollbeschäftigung die Preise bereits beginnen, schneller zu steigen, weil einige Branchen ihre Kapazitätsgrenzen erreichen und dann bereit sind, höhere Löhne als ihre Konkurrenten zu zahlen und/oder ihre Gewinne zu erhöhen. Handelt es sich hierbei um ein temporäres Phänomen, weil die Kapazität durch Investitionen ausgeweitet wird und das erhöhte Angebot die Preise dann wieder zu Fall bringt, kann man eine zeitweise höhere Inflationsrate tolerieren. Die Angebotsausweitung lockert schließlich die zukünftigen Kapazitätsgrenzen und ist daher zu begrüßen. Sollten die höheren Preissteigerungsraten sich jedoch zu einer Lohn-Preis-Spirale entwickeln, muss die Regierung entweder ihre Ausgaben reduzieren, etwa indem geplante Investitionen verschoben werden, oder die Steuern erhöhen, um die für den privaten Konsum zur Verfügung stehenden Einkommen zu verringern.

Relevanz für Deutschland und die EuroZone

Wenn ein Staat seine Ausgaben mit den eigenen Gutschriften bestreitet und die Zinsen auf diese durch seine Zentralbank selbst bestimmen kann, sollte er seine Finanzpolitik an sozialpolitischen und ökologischen Kriterien ausrichten (und dabei natürlich auch die Inflationsrate berücksichtigen). Ein Staat, der nichts gegen eine Krise unternimmt, wird ohnehin keinen ausgeglichenen Haushalt realisieren können, weil ihm die Einnahmen wegbrechen. Dies ließ sich leidvoll in der Euro-Krise erkennen, in der die Austeritätspolitik den Anstieg der Staatsschuldenquoten nicht stoppen konnte. Und auch die Sparpolitik des deutschen Finanzministers Hans Eichel (SPD) nach dem Platzen der New-Economy-Blase Anfang der 2000er Jahre hat lediglich dazu geführt, dass Deutschland die "rote Laterne" Europas trug, ohne eine Haushaltskonsolidierung zu erreichen.

Nationale Schuldenbremsen und europäische Vorgaben zu staatlichen Haushaltsdefiziten und Schuldenquoten sind wirtschaftlich schädlich und haben eine Erholung des Euroraums nach der Finanzkrise bis heute verhindert. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt sollte daher dringend an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts angepasst werden. Langfristig sollte der Euroraum zu einer Fiskalunion ausgebaut werden, in der die EZB mit einem europäischen Finanzministerium kooperiert. Kurzfristig müssen den nationalen Regierungen größere Spielräume gewährt werden. Zudem muss die EZB die Zahlungsfähigkeit der Mitgliedsländer dauerhaft sicherstellen. Sollte nach der Pandemie hingegen die Austeritätspolitik zurückkehren, droht ein weiteres verlorenes Jahrzehnt. Dies würde die Populist:innen stärken und die Zukunft der Eurozone gefährden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Dirk Ehnts, Modern Monetary Theory: Eine Einführung, Heidelberg 2022.

  2. MMT-Ökonom:innen analysieren selbstverständlich auch Länder mit einer eingeschränkten Währungssouveränität. Siehe etwa L. Randall Wray, The Employer of Last Resort Programme: Could it Work for Developing Countries?, International Labour Organization, Economic and Labour Market Paper 5/2007.

  3. Vgl. Stephanie Bell, The Role of the State and the Hierarchy of Money, in: Cambridge Journal of Economics 2/2001, S. 149–163.

  4. Vgl. Olivier Blanchard, Should We Reject the Natural Rate Hypothesis?, in: Journal of Economic Perspectives 1/2018, S. 97–120.

  5. Vgl. Abba P. Lerner, Functional Finance and the Federal Debt, in: Social Research 1/1943, S. 38–51.

  6. Vgl. Scott Fullwiler, When the Interest Rate on the National Debt Is a Policy Variable (and "Printing Money" Does Not Apply), in: Public Budgeting & Finance 3/2020, S. 72–94.

  7. Vgl. Dirk Ehnts/Michael Paetz, COVID-19 and Its Economic Consequences for the Euro Area, in: Eurasian Economic Review 2/2021, S. 227–249.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Michael Paetz für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Weitere Inhalte

ist promovierter Volkswirt und Dozent im Fachbereich Volkswirtschaftslehre der Universität Hamburg.
E-Mail Link: michael.paetz@uni-hamburg.de