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Von Kuba zur Ukraine | Kuba | bpb.de

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Von Kuba zur Ukraine Zwei Nuklearkrisen im Vergleich

Christopher Daase

/ 16 Minuten zu lesen

Auch wenn sich die Nuklearkrisen von 1962 und 2022 unterscheiden, können sie hinsichtlich ihrer Tendenzen, die zu einem Einsatz von Atomwaffen führen könnten, verglichen werden. Während damals eine unbeabsichtigte Eskalation drohte, droht heute eher eine beabsichtigte.

Seit der Kuba-Krise war die Welt nie dichter an einem Nuklearkrieg als im gegenwärtigen Konflikt um die Ukraine. Die Drohung Wladimir Putins, Nuklearwaffen einzusetzen, hat den Konflikt zwischen Russland und dem Westen auf eine neue Eskalationsebene gehoben und dem Kriegsgeschehen in der Ukraine eine dramatische Wendung gegeben. In den Medien werden regelmäßig Parallelen zu den 13 Tagen im Oktober 1962 gezogen, in denen die Welt nur um Haaresbreite einer nuklearen Katastrophe entging. Aber wie ähnlich sind diese Krisen? Wie gefährlich ist die gegenwärtige Lage? Und welche Lehren, wenn überhaupt, können aus der Kuba-Krise für die heutige Situation gezogen werden?

Die Kuba-Krise gilt als eines der am besten erforschten Ereignisse der Weltgeschichte. Einige Autoren meinten deshalb, man könne auf weitere wissenschaftliche Analysen verzichten. Doch in den vergangenen Jahren sind durch die Auswertung amerikanischer und russischer Quellen neue Erkenntnisse gewonnen worden, die den "Mythos Kuba" zerstört haben. Lange galt nämlich die Kuba-Krise als ein Meisterstück amerikanischer Krisendiplomatie. US-Präsident John F. Kennedy sei es durch Mut und Entschlossenheit gelungen, nicht nur eine direkte Bedrohung der USA durch sowjetische Nuklearwaffen auf Kuba abzuwehren, sondern auch einen globalen Nuklearkrieg zu verhindern. Die erst Ende der 1990er Jahre veröffentlichten Tonbandprotokolle aus dem engsten Krisenstab des Präsidenten, dem Executive Committee (ExComm), zeichnen allerdings ein anderes Bild. Sie zeigen, dass Kennedy keinesfalls der knallharte Verhandler und rationale Stratege war, der Auge in Auge mit dem sowjetischen Regierungschef Nikita Chruschtschow rang und ihn schließlich in die Knie zwang. Vielmehr belegen die Aufnahmen, dass Kennedy seine eigene Position im Verlauf der Unterredungen deutlich abmilderte und am Ende ein Kompromiss die Beilegung der Krise ermöglichte.

Diese neuen Erkenntnisse sind deshalb so wichtig, weil sie einen tiefen Einblick in die Dynamik nuklearer Krisen erlauben und den Wandel der Sicherheitspolitik erklären können. Denn mit der Kuba-Krise begann ein neues Zeitalter der Diplomatie, die trotz nuklearer Drohung auf Kooperation und politische Entspannung setzte. Zugegeben, kein Ereignis der Weltgeschichte ist wie ein zweites. Ob die gegenwärtige Nuklearkrise ähnlich entschärft werden kann wie die Kuba-Krise, ist ebenso ungewiss wie der Ausgang des Ukraine-Krieges insgesamt. Insofern steht die folgende Analyse unter dem Vorbehalt zukünftiger Ereignisse. Dennoch lohnt es sich, Parallelen und Unterschiede zu untersuchen, um Mechanismen zu identifizieren, die bestimmte Entwicklungen – Eskalation oder Deeskalation – mehr oder weniger wahrscheinlich erscheinen lassen. Im Folgenden soll deshalb auf vier Kontexte eingegangen werden: die geopolitische Lage, die Nuklearstrategie, die Rationalität der Entscheider und die Krisenstabilität.

Geopolitische Lage

(© Süddeutsche Zeitung Photo)

Weder Kennedy noch Chruschtschow hatten im Oktober 1962 vor, einen Nuklearkrieg zu führen. Und doch eskalierte der Konflikt, und wir wissen heute, dass die Welt damals einer nuklearen Katastrophe nur aus purem Glück entging. Es gibt demnach zwei unterschiedliche Formen des Nuklearkrieges: den absichtlich herbeigeführten, um politische Zwecke zu erreichen, wie die Kapitulation Japans nach dem Abwerfen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945; und den unbeabsichtigten, der aus einer Verkettung von Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen entsteht. Wäre es 1962 zu einem Nuklearkrieg gekommen, wäre er ein unbeabsichtigter gewesen. Das heißt nicht, dass nicht jede einzelne Entscheidung überlegt und kalkuliert vorgenommen worden wäre, aber unter so starkem Druck und mit so unvollkommenem Wissen, dass kaum von einer "rationalen Wahl" hätte gesprochen werden können. Denn in Krisenzeiten nähern sich absichtliche und unabsichtliche Nukleareinsätze aneinander an und werden ununterscheidbar.

Die Kuba-Krise fand in einer kritischen Phase des Kalten Krieges statt. Die Vereinigten Staaten hatten lange versucht, die nukleare Überlegenheit zu bewahren und den Einfluss der Sowjetunion in Osteuropa, Asien und Südamerika zurückzudrängen (rollback). Aber die nukleare Aufrüstung und Erfolge in der Satelliten- und Raketentechnik aufseiten der Sowjetunion ließen den amerikanischen Vorsprung schmelzen und das Gefühl akuter Bedrohung wachsen (missile gap). Vor allem die revolutionären Entwicklungen in Mittel- und Südamerika beunruhigten die USA und ließen die Regierungen unter den Präsidenten Dwight D. Eisenhower und John F. Kennedy zu Mordanschlägen und Sabotageakten greifen. Gleichzeitig hatte sich die Situation um Berlin zugespitzt, das Moskau als Ganzes für sich reklamierte. Insofern waren die Sowjetunion und die USA bereits in einer direkten, wenn auch nicht militärischen Konfrontation, in der die Stationierung von offensiven Nuklearwaffen wenige Kilometer vor der Küste Floridas zwar nicht das nukleare Kräfteverhältnis veränderte, aber das amerikanische Bedrohungsgefühl akut verschärfte. In der Kuba-Krise spitzte sich der gesamte Ost-West-Konflikt in einer Weise zu, dass ein Nuklearkrieg fast unausweichlich schien.

60 Jahre später ist die geopolitische Lage eine andere. Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen die Ukraine fordert die internationale Ordnung heraus und bedroht Mitgliedsländer der Nato. Allerdings richten sich die Kampfhandlungen bislang nicht direkt gegen den Westen, der im Gegenzug klargemacht hat, dass er sich nicht als Kriegspartei sieht und sich auf ökonomische Sanktionen und Militärhilfe für die Ukraine beschränkt. Insofern sind die russischen Ziele im Ukraine-Krieg trotz einer imperialen Rhetorik begrenzt. Die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen ist, anders als in der Kuba-Krise, eher indirekter Natur. Solange das so bleibt, ist die Gefahr einer unbeabsichtigten nuklearen Eskalation gering. Allerdings könnte vonseiten Russlands ein beabsichtigter Einsatz zum Beispiel von taktischen Nuklearwaffen erfolgen, insbesondere wenn Moskau den Krieg zu verlieren droht.

Nuklearstrategie

Als dem US-Präsidenten am 16. Oktober 1962 die Berichte über sowjetische Nuklearraketen auf Kuba vorgelegt wurden, waren bereits 36 "R-12"-Mittelstreckenraketen vor Ort, ausgestattet mit nuklearen Sprengköpfen von jeweils einer Megatonne, was etwa je 66 Hiroshima-Bomben entspricht. Was die Amerikaner nicht wussten und erst nach Ende des Kalten Krieges erfuhren: Auch taktische Nuklearwaffen lagerten bereits in Kuba und hätten eigenmächtig von einem sowjetischen Offizier im Falle einer amerikanischen Intervention eingesetzt werden können. Mit diesen und weiteren Nuklearwaffen, die bereits per Schiff auf dem Weg waren, wollte Chruschtschow drei strategische Probleme lösen: erstens das nukleare Ungleichgewicht zwischen Moskau und Washington beseitigen, zweitens Kuba vor einem Angriff schützen und drittens Druck auf die Westalliierten in Berlin ausüben.

Zu Beginn der Krise waren sich Kennedy und seine Berater einig, dass eine militärische Aktion nötig sein würde, um die Raketen aus Kuba zu verbannen. Vor allem die Militärs bestanden auf einer militärischen Lösung, wohl wissend, dass ein Präventivschlag eine nukleare Eskalation nach sich ziehen würde. Viele im Krisenstab betrachteten Nuklearwaffen nach wie vor als normale Waffen mit besonders großer Sprengkraft, obwohl sich wissenschaftlich und politisch bereits durchgesetzt hatte, dass Nuklearwaffen "politische Waffen" und nur von begrenztem militärischem Nutzen sind. Auch dem Präsidenten wurde im Verlauf der Unterredungen immer klarer, dass ein Militärschlag unkalkulierbare Risiken barg. Schließlich beschloss der Krisenstab eine Seeblockade, euphemistisch als "Quarantäne" bezeichnet, um die Sowjetunion zum Einlenken zu zwingen. Gleichzeitig verdeutlichte Kennedy am 27. Oktober, dass die USA zu einem Nuklearschlag gegen die Sowjetunion bereit wären, und es spricht viel dafür, dass der Angriffsbefehl am 30. Oktober gegeben worden wäre, wenn die Raketen nicht abgezogen worden wären. Entscheidend ist allerdings, dass Kennedy gleichzeitig seine Position moderierte und bereit war, auf Chruschtschow zuzugehen. Am Abend des 27. wurde mit dem sowjetischen Botschafter ein geheimer Kompromiss vereinbart, dass die USA im Austausch für den Abzug der Raketen aus Kuba auf eine Invasion der Insel verzichten und mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung amerikanische "Jupiter"-Mittelstreckenraketen aus der Türkei abziehen würden. Damit war ein radikal neues Element in die amerikanisch-sowjetischen Nuklearbeziehungen eingeführt worden: Parität statt Überlegenheit.

Die Kuba-Krise hat entscheidend dazu beigetragen, dass in der Abschreckungstheorie die Idee der Überlegenheit durch die der wechselseitig gesicherten Zerstörung (mutual assured destruction) abgelöst wurde und auf der Basis "strategischer Stabilität" in den 1960er und 70er Jahren weitreichende Rüstungskontrollvereinbarungen eingegangen werden konnten. Dennoch blieb Überlegenheit in der operativen Nuklearstrategie ein zentrales Element, insofern "Eskalationsdominanz" als wichtige Fähigkeit angesehen wurde, in jeder Krisensituation selbst die Bedingungen der Verschärfung eines militärischen Konflikts bestimmen zu können.

Diese Idee wurde nach dem Ende des Kalten Krieges wieder in die russische Nuklearstrategie aufgenommen, und sie ist es, die die Befürchtung nährt, Russland könnte auch im Ukraine-Krieg versucht sein, Nuklearwaffen einzusetzen. Im Juni 2020 veröffentlichte der Kreml ein Papier zu den "Grundprinzipien der staatlichen Politik der Russischen Föderation zur nuklearen Abschreckung". Damit machte Russland zum ersten Mal sein Verständnis von Abschreckung öffentlich und erläuterte die Rahmenbedingungen für den Einsatz nuklearer Waffen. In Artikel 4 heißt es, dass in militärischen Auseinandersetzungen der Nuklearwaffeneinsatz dazu dienen könne, eine weitere Eskalation zu verhindern und den Krieg unter Bedingungen zu beenden, die für Russland akzeptabel sind. Damit scheint sich die Vermutung zu bestätigen, dass Russland für sich das Recht reklamiert, einen konventionellen Konflikt mit nicht-strategischen, also taktischen Nuklearwaffen zu eskalieren, um ihn zu seinen Konditionen zu beenden (escalate to de-escalate).

Allerdings haben hohe russische Beamte und Putin selbst bekräftigt, dass Nuklearwaffen nur eingesetzt werden sollen, wenn Russland mit einer existenziellen Bedrohung des Staates konfrontiert sei. Putin hat diese Position in einem Brief an die Teilnehmer der Überprüfungskonferenz des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) bekräftigt: "Wir gehen von der Tatsache aus, dass es in einem Nuklearkrieg keine Gewinner geben kann und er nie begonnen werden sollte." Es ist jedoch bekannt, dass man sich auf die Versicherungen Russlands nicht verlassen sollte. Noch kurz vor dem Einmarsch in die Ukraine beteuerte Putin, niemand habe die Absicht, die Ukraine anzugreifen. Auch hier gibt es eine Parallele zur Kuba-Krise: Die Sowjetunion leugnete bis zuletzt, irgendwelche Raketenbasen auf Kuba zu unterhalten. Und über Jahrzehnte behauptete Moskau, eine Politik des nuklearen Nicht-Ersteinsatzes (nuclear no first use) zu betreiben, während Einsatzpläne Erstschläge auf Nato-Basen und europäische Hauptstädte vorsahen.

Die nuklearen Drohungen Russlands sind also keineswegs auf die leichte Schulter zu nehmen. Russland könnte eine Atombombe über dem Schwarzen Meer detonieren lassen, um seine Entschlossenheit zu demonstrieren, den Krieg zu gewinnen; es könnte versuchen, die ukrainische Regierung nuklear zu "enthaupten" oder sich mit taktischen Nuklearwaffen einen militärischen Vorteil im Feld zu verschaffen. US-Präsident Joe Biden hat deshalb schon im März 2022 ein "Tiger Team" von sicherheitspolitischen Experten zusammengestellt, das Optionen für unterschiedliche Szenarien erarbeiten soll, in denen Russland Nuklear- oder andere Massenvernichtungswaffen in der Ukraine einsetzt. Zwar sind die genauen Einsatzpläne geheim, doch ist die einhellige Meinung unter westlichen Strategieexperten, dass die USA auf einen russischen Nukleareinsatz in der Ukraine nicht mit Nuklearwaffen antworten sollten. Zielführender sei eine scharfe diplomatische Reaktion, die sich die zu erwartende internationale Entrüstung zunutze macht und Russland vollständig isoliert. Sollte hingegen Nato-Territorium angegriffen werden, wäre zweifellos mit schärferen Reaktionen zu rechnen. Dass es so weit kommt, halten die Wenigsten für wahrscheinlich. Die Abschreckung wirkt: Der Westen wird von einer Kriegsbeteiligung an der Seite der Ukraine abgehalten und Russland von einer Ausdehnung des Krieges auf westliches Territorium.

Rationalität der Entscheider

Kennedy hatte die Präsidentschaftswahl 1960 mit einem Bekenntnis zu militärischer Stärke und der Behauptung gewonnen, dass es der Vorgängerregierung unter Eisenhower nicht gelungen sei, der militärischen Übermacht der Sowjetunion etwas entgegenzusetzen. Als Kennedy erfuhr, dass im Gegenteil die USA einen Vorsprung hatten, verdoppelte er die Rüstungsanstrengungen, um die militärische Überlegenheit auf Jahre hinaus festzuschreiben. Zu Beginn der Kuba-Krise war Kennedy ein Kalter Krieger, dem nichts ferner lag, als einen Ausgleich mit seinem Kontrahenten Chruschtschow zu suchen. Chruschtschow seinerseits war entschlossen, den USA Paroli zu bieten, nicht nur in Berlin, sondern weltweit. Erzürnt hatten ihn vor allem die "Jupiter"-Raketen, die Eisenhower in der Türkei hatte stationieren lassen. Bei seinem ersten Gespräch mit dem neuen Präsidenten im Juni 1961 in Wien beklagte sich Chruschtschow und fragte Kennedy rhetorisch, was wohl die USA davon hielten, wenn an ihrer Türschwelle sowjetische Raketen stationiert würden. Dass er diese Idee ein Jahr später umsetzen würde, ahnte damals noch niemand.

Es gibt eine persönliche Gemeinsamkeit zwischen Chruschtschow und Putin. Sie besteht in dem Gefühl, dass Russland vom Westen, das heißt den USA, nicht als gleichberechtigte Supermacht anerkannt und abschätzig behandelt wird. Chruschtschow hatte immer wieder verlangt, die westlichen Truppen aus Berlin abzuziehen, was Kennedy ein ums andere Mal abgelehnt hatte. Manche machen diese und andere Zurückweisungen dafür verantwortlich, dass sich Chruschtschow überraschend und in einer Kehrtwende für die Stationierung von Nuklearwaffen auf Kuba entschied – nicht um Kuba zu schützen, sondern um endlich mit den USA strategisch gleichzuziehen und als ebenbürtig anerkannt zu werden. Auch bei Putin ist die Demütigung ein immer wiederkehrendes Motiv. Der Westen habe mit der Osterweiterung der Nato Russland betrogen und tue alles, um Russlands historische Größe zu untergraben. Der Krieg gegen die Ukraine sei zur Selbsterhaltung und Restitution nationaler Ehre unumgänglich gewesen. In beiden Fällen, bei Chruschtschow und Putin, dient militärische Gewalt, potenzielle und tatsächliche, der Wiederherstellung nationaler und persönlicher Würde und geht mit der Bereitschaft einher, hohe politische Risiken einzugehen.

Beschwichtigungen, Putin würde vor einem tatsächlichen Einsatz von Nuklearwaffen wahrscheinlich zurückschrecken, sind angesichts seines rücksichtslosen Kriegshandelns wenig glaubhaft. Vor allem, wenn er den Verlust seines Herrschaftsanspruchs fürchten muss, wird seine Bereitschaft, zur ultimativen Waffe zu greifen, steigen. Ebenso ist die Hoffnung, dass russische Generäle die Befehle zum Einsatz von Nuklearwaffen nicht ausführen würden, wenig begründet. Ihre Bereitschaft, einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu führen und die ukrainische Bevölkerung mit Terror zu überziehen, spricht ebenso dagegen wie die Tatsache, dass russische Manöver und Kriegssimulationen regelmäßig mit einem begrenzten oder globalen Nuklearwaffeneinsatz enden.

Auch im amerikanischen ExComm-Krisenstab von 1962 war die Bereitschaft hoch, es auf einen Nuklearkrieg ankommen zu lassen. Hier wurde mit "Glaubwürdigkeit" argumentiert, die verloren gehen würde, sollten die USA keine Handlungen folgen lassen, die ihrer starken Rhetorik entsprachen. Die Sowjetunion in Kuba gewähren zu lassen, würde zwar die Sicherheitslage der USA nicht wesentlich verschlechtern, aber ihre Reputation als entschlossene und durchsetzungsfähige Großmacht nachhaltig beschädigen. Kennedy selbst war sich möglicher Reputationskosten sehr bewusst, hatte er sich doch als unbeugsamer Antikommunist stilisiert und musste Zwischenwahlen gewinnen. Gleichzeitig erkannte er aber, ähnlich wie Chruschtschow, dass der Reputationslogik eine Eskalationsdynamik innewohnte, die unweigerlich auf eine Katastrophe hinauslief.

Chruschtschow schrieb deshalb am 26. Oktober einen persönlichen Brief an Kennedy, in dem er vorschlug, den Knoten, in dem Moskau und Washington sich verheddert hatten, gemeinsam zu lösen: "Wenn wir also nicht die Absicht haben, diesen Knoten fester zu ziehen und damit die Welt in die Katastrophe eines thermonuklearen Krieges zu stürzen, dann sollten wir nicht nur die Kräfte, die an den Enden des Seils ziehen, lockern, sondern auch Maßnahmen ergreifen, um diesen Knoten zu lösen. Wir sind dazu bereit." Im Grunde war die Situation für beide Seiten ähnlich, insofern es darum ging, eine kooperative Lösung zu finden, ohne als schwach oder gar als Verlierer dazustehen. Kennedy wollte, dass die Raketen friedlich abgezogen werden, ohne selbst einen Preis zu zahlen (zumindest öffentlich). Chruschtschow suchte nach einem gesichtswahrenden Weg, die Raketen abzuziehen, ohne vor dem Politbüro und der Weltöffentlichkeit als Unterlegener zu erscheinen.

Auch wenn es im Ukraine-Krieg je zu so etwas wie Waffenstillstands- oder sogar Friedensverhandlungen kommen sollte, wird es um gesichtswahrende Lösungen gehen müssen. Um einer Verhandlungslösung zustimmen zu können, muss Putin seine eigene Rhetorik dämpfen und Rücksicht auf die aufgepeitschte Stimmung in seinem Umfeld und der russischen Gesellschaft nehmen. Gleichzeitig dürfen die Ukraine und der Westen nicht den Eindruck entstehen lassen, dass Russland für seine Aggression belohnt wird. Irgendwie muss diese Quadratur des Kreises gelingen, wenn nicht endlos auf Sieg und Kapitulation gesetzt und das Risiko einer nuklearen Eskalation erhöht werden soll.

Kennedys Kooperationsangebot an Chruschtschow, überbracht von seinem Bruder Robert in einem Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter am Abend des 27. Oktober, enthielt nicht unerhebliche Konzessionen der amerikanischen Seite: Die Zusicherung, Kuba nicht anzugreifen und seinen eigenen Weg gehen zu lassen, sowie die Zusage, die eigenen Mittelstreckenraketen aus der Türkei abzuziehen. Dass diese Konzessionen geheim und nicht einmal den ExComm-Mitgliedern bekannt waren und so terminiert wurden, dass jeder inhaltliche Zusammenhang geleugnet werden konnte, zeigt, wie verhärtet die Positionen nicht nur zwischen Washington und Moskau waren, sondern auch innerhalb des ExComm, und welchen Mut Kennedy aufbrachte, um die Krise diplomatisch zu lösen. Ob es tatsächlich diese Konzessionen waren, die Chruschtschow zum Einlenken brachten, oder er bereits vorher "eingeknickt" war, wie einige behaupten, ist meines Erachtens unerheblich. Wichtiger ist, dass Kennedy selbst die Entscheidung traf, von Konfrontation auf Kooperation umzuschwenken.

Wenige Monate später resümierte er diese Entscheidung in einer berühmt gewordenen Rede an der American University in Washington, freilich ohne Details des Kompromisses preiszugeben, die für fast 25 Jahre unter Verschluss blieben: "Wir müssen unsere Angelegenheiten so regeln, dass es im Interesse der Kommunisten liegt, sich auf einen echten Frieden einzulassen. Vor allem müssen die Atommächte unter Wahrung ihrer eigenen vitalen Interessen solche Konfrontationen vermeiden, die einen Gegner vor die Wahl stellen, einen demütigenden Rückzug anzutreten oder einen Atomkrieg zu führen. Ein solcher Kurs im Atomzeitalter wäre nur ein Beweis für den Bankrott unserer Politik – oder für einen kollektiven Todeswunsch für die Welt."

Krisenstabilität

Kennedy hatte erkannt, dass die Kuba-Krise inhärent instabil war und in ihrer Konsequenz auf eine militärische, nach allem, was wir wissen, nukleare Auseinandersetzung hinausgelaufen wäre. Sein Strategiewechsel kann kaum überschätzt werden, denn er erforderte, die Situation aus dem Blickwinkel des Gegners zu betrachten, und das verlangte, wie US-Verteidigungsminister Robert McNamara einmal feststellte, ein gewisses Maß an Empathie und Verzicht auf Selbstgerechtigkeit. Allerdings haben Kennedy und sein Umfeld fleißig am Mythos des zu allem entschlossenen Nuklearstrategen weitergestrickt. In der amerikanischen Außenpolitik ist deshalb lange aus der Kuba-Krise die Lehre gezogen worden, dass es in Krisen vor allem auf Standhaftigkeit und Kompromisslosigkeit ankommt, und dass Reputation wichtiger ist als eine diplomatische Krisenbewältigung. Die Neuinterpretation der Kuba-Krise legt neue Lehren nahe, und die Administration des aktuellen US-Präsidenten Joe Biden scheint diese im Ukraine-Krieg bereits zu beherzigen.

Als John F. Kennedy am 22. Oktober 1962 öffentlich die "Quarantäne" von Kuba erklärte, erhöhte er gleichzeitig die Einsatzbereitschaft (defense readiness condition, DEFCON) der nuklearen Streitkräfte auf Stufe 3 von 5, um die Entschlossenheit der USA zu signalisieren. Im Laufe der Krise und unter nicht ganz geklärten Umständen rief der US-Generalstab am 24. Oktober DEFCON 2 aus, nur eine Stufe vor einem tatsächlichen Nuklearkrieg. Die sowjetische Seite antwortete auf diese Eskalation mit maximaler Einsatzbereitschaft. Nie war die Welt dichter an einem Nuklearkrieg. Als am 26. Februar 2022 Wladimir Putin das Gleiche tat, indem er die Alarmbereitschaft der russischen Nuklearstreitmacht erhöhte, reagierte die amerikanische Seite indes betont gelassen und antwortete nicht mit einer Erhöhung nuklearer Einsatzbereitschaft. Eine Lehre aus der Kuba-Krise lautet somit offenbar, dass die Stabilität in der Krise nicht erst ins Wanken gerät, wenn über die Vorteile eines nuklearen Erstschlags nachgedacht wird, sondern schon dann, wenn durch die Erhöhung nuklearer Einsatzbereitschaft die vermeintliche Entschlossenheit zum Sieg signalisiert wird.

Der glücklichen Lösung der Kuba-Krise folgten bald weitere Schritte der Entspannungspolitik. Im Juni 1963 wurde eine direkte Telefonverbindung zwischen Washington und Moskau etabliert, um in Krisenzeiten nicht auf komplizierte Hinterzimmerdiplomatie angewiesen zu sein. Im August des gleichen Jahres unterzeichnete Kennedy den Limited Test Ban Treaty, der alle überirdischen Nuklearexplosionen verbot und den Weg für ein multilaterales Nuklearwaffenregime, den NVV, ebnete. Noch im Januar 2022 bekräftigten die fünf offiziellen Nuklearwaffenstaaten in einer gemeinsamen Erklärung das Diktum des früheren US-Präsidenten Ronald Reagan, dass ein Nuklearkrieg "niemals geführt werden dürfe und niemals gewonnen werden könne". Und doch brach Russland zentrale Normen der Weltnuklearordnung, als es ein Land, das Nuklearwaffen aufgegeben hatte, überfiel und all den Staaten, die der Ukraine zur Hilfe kommen würden, mit einer nuklearen Eskalation drohte. Der Konsens, Nuklearwaffen einzig zu defensiven Zwecken vorzuhalten und gegebenenfalls einzusetzen, war verlassen, als Russland ihren offensiven Einsatz androhte, um die USA und den Westen davon abzuhalten, die Ukraine militärisch zu unterstützen.

Fazit

Auch wenn sich die Nuklearkrisen von 1962 und 2022 an wichtigen Stellen unterscheiden, können sie doch hinsichtlich ihrer Tendenzen, die zu einem Einsatz von Atomwaffen führen könnten, verglichen werden. Genau wie heute war in der Kuba-Krise das Vertrauen zwischen beiden Seiten auf dem Nullpunkt. Mit offensichtlichen Lügen hat damals die Sowjetunion wie heute Russland viel guten Willen verspielt. Es ist eine der interessantesten Fragen der Kuba-Krise, wie Kennedy mitten im Konflikt und unter dem Einfluss gegenteiliger Expertenmeinungen von einem Befürworter einer militärischen Lösung zu einem Befürworter eines diplomatischen Kompromisses werden konnte. Entscheidend war seine Fähigkeit, nicht nur sich und die nationalen Interessen der USA zu sehen, sondern auch die andere Seite und die Stabilität des internationalen Systems als Ganzes. Heute wissen wir, dass die Kuba-Krise nicht durch kompromissloses Festhalten an Maximalforderungen, sondern durch das Signalisieren guten Willens und tatsächliche Zugeständnisse gelöst wurde. Auch zur Lösung der gegenwärtigen Nuklearkrise mit Russland sind Zurückhaltung und diplomatische Weitsicht nötig sowie die langfristige Orientierung an einer kooperativen Sicherheitspolitik, notfalls gegen den Rat von Experten und Kommentatoren.

Die vielleicht aber noch wichtigere Erkenntnis der Kuba-Krise ist die, die Jahre später Robert McNamara zog, als er erkannte, dass sich nukleare Krisen nicht "managen" lassen. Angesichts der vielen Unwägbarkeiten und exorbitanten Kosten eines Scheiterns müssten sie im Vorfeld vermieden werden. Das ist eine starke Warnung gegen die Vorstellung, mit Nuklearwaffen ließen sich zwar keine Kriege, wohl aber Krisen gewinnen, wenn man nur entschlossen genug ist und eine nukleare Überlegenheit besitzt.

ist Professor für Internationale Organisationen an der Goethe-Universität Frankfurt und stellvertretendes geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt am Main.
E-Mail Link: daase@hsfk.de