Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Kuba-Krise 1962 | Kuba | bpb.de

Kuba Editorial Erschöpfte Revolution. Kuba 60 Jahre nach der Raketenkrise - Essay "Gute Kunst zwingt die Mächtigen, zu reagieren" – Ein Gespräch über Kunst und Aktivismus in Kuba Kleine Geschichte des Widerstands in Kuba Kubanischer Sozialismus. Oder: Revolution als Wille und Vorstellung - Essay Von Kuba zur Ukraine. Zwei Nuklearkrisen im Vergleich Die Kuba-Krise 1962. Vorgeschichte und Verlauf Kalter Krieg um den Platz an der Sonne. Kuba und der deutsch-deutsche Systemwettstreit Karte

Die Kuba-Krise 1962 Vorgeschichte und Verlauf

Reiner Pommerin

/ 17 Minuten zu lesen

Am 22. Oktober 1962 erfährt die Weltöffentlichkeit in einer Ansprache von US-Präsident Kennedy von einer existenziellen Bedrohungslage durch die Stationierung sowjetischer Atomraketen auf Kuba. Was führte zu dieser Situation, und wie konnte sie abgewendet werden?

Fidel Alejandro Castro Ruz unternimmt im April 1959 auf Einladung der Vereinigung der amerikanischen Zeitungsherausgeber mit einer kleinen Delegation eine elftägige Privatreise in die USA. Die bärtigen kubanischen Revolutionäre, die erfolgreich eine Diktatur gestürzt haben, stoßen bei einem großen Teil der amerikanischen Bevölkerung durchaus auf Sympathie. Der skeptische US-Präsident Dwight D. Eisenhower geht Castro indessen aus dem Weg. Außenminister Christian Herter hat ihm mitgeteilt, mit dieser kubanischen Regierung könne nicht zusammengearbeitet werden. Aus den USA zurückgekehrt, verstaatlicht Castro die Zuckerrohrplantagen, zieht das Eigentum ausländischer Landbesitzer ein und verringert den Umfang der Einfuhr amerikanischer Waren. Etwa zehn Prozent der kubanischen Bevölkerung, zumeist Angehörige der Oberschicht, emigrieren.

Im Februar 1960 besucht eine sowjetische Handelsdelegation unter Führung des stellvertretenden Regierungschefs Anastas Mikojan Kuba und sagt der kubanischen Wirtschaft Unterstützungsleistungen zu. Nach den Spielregeln des Kalten Krieges wird Castro jetzt automatisch zu einem Gegner der USA. Die Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte sind der Überzeugung, Castros Regime müsse mit allen Mitteln entfernt werden. Eisenhower kann sich jedoch nicht zu einem militärischen Vorgehen gegen Kuba entschließen. Er befürchtet negative Auswirkungen auf das Verhältnis zu den übrigen lateinamerikanischen Staaten. Deshalb favorisiert und genehmigt er der CIA eine verdeckte Operation in Kuba. Diese sieht die Anlandung angeworbener Exilkubaner auf der Insel vor, die dort mit Unterstützung bestehender kleinerer Widerstandsgruppen gegen Castro vorgehen sollen. Amerikanische Ausbilder bereiten in Guatemala etwa 1500 Mann auf die amphibische Operation vor. Die erforderliche Luftunterstützung übernehmen exilkubanische Piloten von Flugfeldern in Nicaragua mit ausgemusterten Weltkriegsbombern vom Typ "Martin B-26 Marauder". Darauf werden sie von ehemaligen Angehörigen der Air National Guard Alabamas vorbereitet, die dazu von der CIA angeheuert worden sind. Als eine seiner letzten Amtshandlungen bricht Eisenhower im Januar 1961 die diplomatischen Beziehungen zu Kuba ab.

Sein Nachfolger im Amt, John F. Kennedy, wird von den bestehenden Bedenken in seinem militärischen Umfeld gegen die verdeckte Operation der CIA nicht unterrichtet und ordnet an, diese im April des Jahres durchzuführen. US-Streitkräfte dürfen dabei nach seinem Willen auf keinen Fall eingreifen. Die Anlandung in der Schweinebucht endet am 19. April 1961 in einem Desaster: 118 Exilkubaner werden getötet, der Rest gerät in kubanische Gefangenschaft. Kennedy entscheidet daraufhin, die US-Außenpolitik gegenüber Kuba künftig auf den Sturz Castros auszurichten. Da auch er zu einem militärischen Vorgehen gegen Kuba nicht bereit ist, ordnet er eine verdeckte Operation mit dem Decknamen "Mongoose" an. Mit verschiedenen Aktionen soll sie den Gegnern Castros auf der Insel helfen, diesen zu stürzen. Dabei kommt es zu Planungen der CIA, Castro zu ermorden.

Die Sowjetunion hat ein vitales Interesse daran, die USA von einer militärischen Intervention in Kuba abzuhalten; denn in der westlichen Hemisphäre verfügt sie über keinen der eigenen Ideologie so nahestehenden Staat. Zudem liegt die Insel strategisch günstig in unmittelbarer Nähe zu den USA, dem Panamakanal und den mittel- und südamerikanischen Staaten. Ab Mitte 1961 beginnt die UdSSR daher mit der Lieferung von Waffen und Material für die kubanischen Streitkräfte. Einweisung und Training übernehmen sowjetische Ausbilder.

Im Oktober 1961 findet in Moskau der 22. Parteitag der KPdSU statt. Regierungs- und Parteichef Nikita Chruschtschow kündigt bei dieser Gelegenheit den Test einer Wasserstoffbombe mit einer Sprengkraft von über 50 Megatonnen an. Die USA reagieren mit einer Rede des stellvertretenden Verteidigungsministers Roswell Gilpatric. Er weist darauf hin, dass die USA für einen nuklearen Vergeltungsschlag gegen die UdSSR über 600 schwere, mit nuklearen Bomben beladene Langstreckenbomber verfügten. Darüber hinaus stünden genügend nukleare Sprengköpfe für Interkontinentalraketen (intercontinental ballistic missiles, ICBM) vom Typ "Minuteman" sowie für die Raketen vom Typ "Polaris" der amerikanischen Atom-U-Boote zur Verfügung. Die USA seien daher sicher, dass die UdSSR keine nukleare Attacke auf die USA wagen würde. Der sowjetische Verteidigungsminister Rodion Malinowski antwortet, die UdSSR sei mit Nuklearraketen ausreichend auf einen Atomkrieg vorbereitet. Diesen würde sie gewinnen, der Westen hingegen nicht überleben.

"Anadyr"

Bei einem Staatsbesuch in Bulgarien im Mai 1962 wird Chruschtschow von der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen (medium-range ballistic missiles, MRBM) vom Typ "Jupiter" in der Türkei unterrichtet. Sie befinden sich auf dem in der Region Izmir liegenden Luftwaffenstützpunkt Çiğli und haben eine Reichweite von etwa 2.400 Kilometern. Ihre Bewaffnung mit nuklearen Sprengköpfen würden im Kriegsfall auf Befehl eines US-Präsidenten sogenannte custody units übernehmen. Während die Mittelstreckenraketen der UdSSR das Gebiet der USA nicht erreichen können, decken die in drei Nato-Staaten aufgestellten amerikanischen MRBM einen großen Teil des sowjetischen Territoriums ab. Chruschtschow erkennt, dass die USA keine Bedenken tragen, nukleare Waffen außerhalb des eigenen Territoriums bei Bündnispartnern in Stellung zu bringen. Dies führt ihn zu der Überlegung, das eigene Defizit an Interkontinentalraketen und Langstreckenbombern durch auf Kuba stationierte sowjetische Mittelstreckenraketen auszugleichen.

Mit einer militärischen Reaktion der USA rechnet Chruschtschow nicht. Er hält Präsident Kennedy für schwach, vor allem seit der ausgebliebenen militärischen Unterstützung des Anlandungsversuchs in der Schweinebucht. Am 21. Mai 1962 ruft Chruschtschow den Verteidigungsrat der UdSSR zusammen. Er trägt dem Gremium seine strategischen Überlegungen vor und erhält dessen Zustimmung für die Stationierung sowjetischer MRBM auf der Insel. Wenige Tage später legt der sowjetische Generalstab dem Verteidigungsrat einen Plan zur Verlegung dieser Raketen vor. Der Plan findet nicht nur die Zustimmung des Verteidigungsrats, sondern auch des Präsidiums der KPdSU. Daraufhin beginnt der Generalstab mit den Vorbereitungen zur Operation "Anadyr".

Um Castro für die Idee der Stationierung von Nuklearraketen in seinem Land zu gewinnen, fliegt Ende Mai eine als Landwirtschaftskommission getarnte sowjetische Delegation nach Kuba. Tatsächlich bedarf es keiner großen Überredungskünste, um die Einwilligung Castros zu erhalten. Nach Rückkehr der Delegation nach Moskau tritt am 10. Juni das Präsidium der KPdSU zusammen und nimmt erfreut deren Bericht entgegen. Sodann erläutert Verteidigungsminister Malinowski den inzwischen vom Generalstab erarbeiteten Entwurf zur größten geheimen Militäroperation der UdSSR während des Kalten Krieges: "Anadyr" sieht die Stationierung von 24 MRBM des Typs "R-12" vor. Diese einstufigen ballistischen Raketen mit einem Flüssigkeitstriebwerk verfügen über eine Reichweite von etwa 2.000 Kilometern. Außerdem sollen noch 16 MRBM des Typs "R-14" aufgestellt werden, die sogar rund 4500 Kilometer entfernte Ziele erreichen können.

Der Nuklearsprengkopf für jede der Mittelstreckenraketen besitzt die Sprengkraft von einer Megatonne, was 66 Hiroshimabomben entspricht. Für den Fall, dass die sowjetischen Nuklearraketen gegen einen amerikanischen Bodenangriff auf der Insel verteidigt werden müssen, werden zwei Regimenter mit jeweils 80 nuklearen Marschflugkörpern mit einer Reichweite von rund 180 Kilometern bereitgestellt. Jede dieser Raketen verfügt über eine Sprengkraft zwischen 5,6 und 12 Kilotonnen. Dazu kommen Einheiten mit taktischen Kurzstreckenraketen, die zur Unterstützung von Bodenkämpfen nukleare Sprengköpfe von 2 Kilotonnen Sprengkraft über eine Distanz von etwa 40 Kilometern verschießen können. Zum Schutz aller sowjetischen Nuklearwaffen sowie der eingesetzten Soldaten sind vier motorisierte Regimenter mit insgesamt 10.000 Mann vorgesehen. Zu diesen gehören zwei Panzerregimenter mit jeweils zwei Bataillonen, die mit dem Panzer "T-55" ausgestattet sind. Flugkörperschnellboote, "Iljuschin-28" Frontbomber und Jagdflugzeuge vom Typ "MIG-21" runden die militärische und personelle Ausstattung ab. Insgesamt sollen über 40.000 Angehörige der sowjetischen Streitkräfte nach Kuba gebracht werden.

Während Castro den Plan der Stationierung der MRBM auf Kuba am liebsten sogleich öffentlich machen würde, ist es Chruschtschows ausdrücklicher Wunsch, damit noch zu warten. Die USA, so lässt er Castro ausrichten, sollten die Stationierung der Raketen auf Kuba möglichst erst entdecken, wenn diese einsatzbereit seien. Dann wolle er ihre Stationierung persönlich vor den Vereinten Nationen in New York verkünden.

Diesen Wunsch auf Geheimhaltung könnten amerikanische Aufklärungsflüge mit Maschinen vom Typ "Lockheed U-2" gefährden. Deren hochauflösende Panoramakameras erstellen bei wolkenlosem Himmel gestochen scharfe, gut auswertbare Fotos. Ihre Einsatzhöhe von über 20.000 Metern macht sie für die kubanische Luftabwehr unerreichbar. Eine besondere Bedeutung für den Erfolg von "Anadyr" kommt aus Sicht Chruschtschows daher dem Luftabwehrsystem "S-75 Dwina" zu, das über eine entsprechende Reichweite verfügt und unerwünschte Überflüge über Kuba unterbinden kann. Bereits im Mai 1960 ist damit eine "U-2" über Jekaterinburg abgeschossen worden. Der Pilot Francis Powers blieb bei seinem Ausstieg unverletzt und gestand in einem öffentlichen, propagandistisch geschickt genutzten Gerichtsverfahren den Spionageflug über sowjetisches Gebiet. Auf Anordnung Chruschtschows wird das Luftabwehrsystem auf Kuba daher auf 114 "S-75 Dwina"-Raketen aufgestockt, im Transportplan vorgezogen und frühzeitig eingeschifft.

"Maskirovka"

Raketen, Waffen und Personal müssen über See in das über 10.000 Kilometer entfernte Kuba verlegt werden. Planung und Umsetzung erfolgen in der Tradition der "Maskirovka", des sowjetischen Konzepts der militärischen Täuschung. Deshalb wird schon bei der Planung der Operation auf schriftliche Befehle verzichtet. Alle notwendigen Anweisungen werden den zuständigen Kommandeuren durch Offiziere lediglich mündlich überbracht. Der KGB überprüft zudem jeden einzelnen Teilnehmer der Operation auf politische Zuverlässigkeit und Schwächen und tauscht vor ihrem Beginn rund 1.500 Personen aus.

Luftabwehr- und Mittelstreckenraketen sowie Sprengköpfe, Material und Personal werden nachts mit Eisenbahnzügen in Häfen am Schwarzen Meer, an der Ostsee und an der Barentssee gebracht. Für den Transport stehen Schiffe der sowjetischen Marine und Handelsflotte zur Verfügung. Das Ziel Kuba erfahren die Schiffsführer erst auf dem Atlantik aus versiegelten Anweisungen und unter Aufsicht eines KGB-Offiziers. Den Kameras der Aufklärer der Nato sowie der USA sollen selbst bei Überflügen auf hoher See keine Verdachtsmomente gegeben werden. Auf den Oberdecks der Schiffe stehen daher unauffällige Maschinen und Fahrzeuge für die Landwirtschaft. Die an Bord befindlichen Soldaten dürfen die Oberdecks während der 15 bis 20 Tage dauernden Überfahrt lediglich für wenige Minuten in der Nacht betreten. Das Entladen der Schiffe in den kubanischen Häfen erfolgt ebenso wie der Transport von Mensch und Material über die Insel nur nachts und bleibt unbemerkt. Zunächst wird weisungsgemäß mit der Errichtung von Stellungen für das Flugabwehrsystem "S-75 Dwina" begonnen.

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf

Am 5. August 1962 überfliegt eine "U-2" Kuba. Ihre Aufnahmen belegen erstmals Erdarbeiten für Stellungen des sowjetischen Luftabwehrsystems "S-75 Dwina". CIA-Direktor John A. McCone zeigt sich darüber äußerst beunruhigt und beruft am 10. August eine Konferenz ein. An dieser nehmen unter anderem Außenminister David Dean Rusk, Verteidigungsminister Robert McNamara sowie Kennedys militärischer Berater und künftiger Chef des Vereinigten Generalstabs, General Maxwell Taylor, teil. McCone bemerkt ironisch, die Stationierung eines so fortgeschrittenen und kostspieligen Luftabwehrsystems wie der "S-75 Dwina" diene wohl gewiss nicht dem Schutz von Zuckerrohrschneidern. Dessen Aufgabe sei wohl vielmehr, Aufklärungsflüge zu verhindern. Das aber sei aus seiner Sicht nur dann erforderlich, wenn eine Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba verborgen werden solle. Dem Präsidenten teilt McCone schriftlich mit, er glaube, auf der Insel würden Abschussrampen für solche Nuklearraketen errichtet.

In der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats am 17. August, bei der auch Kennedy anwesend ist, äußert der CIA-Direktor erneut den Verdacht, die Sowjetunion wolle MRBM auf Kuba stationieren. McNamara hält dem entgegen, es handele sich lediglich um den Aufbau von Waffen zur Luftverteidigung. Auch die Wiederholung der Einschätzung McCones im Weißen Haus am 23. August bleibt ohne Wirkung. Für die überwiegende Mehrheit der CIA-Mitarbeiter sowie der Regierungsmitglieder gilt: Die UdSSR hat bisher noch nie nukleare Waffen außerhalb des Warschauer-Pakt-Gebiets stationiert, deren Stationierung in Kuba sei daher unwahrscheinlich. Ende August befindet sich der CIA-Direktor drei Wochen in Frankreich. Der private Anlass seiner Reise hält ihn nicht davon ab, seinem Stellvertreter in Washington Telegramme zu senden, in denen er seinen Verdacht wiederholt vorbringt. Weil die Meinung des Präsidenten bekannt ist, will man diesen jedoch nicht mit den Telegrammen belästigen.

Der Aussage des republikanischen Senators Kenneth Keating, sowjetische Soldaten errichteten auf Kuba Stellungen für Nuklearraketen, tritt Kennedy schon wegen der bevorstehenden Wahlen zum Repräsentantenhaus entgegen. Am 4. September erklärt er gegenüber Kongressmitgliedern, Chruschtschow verstärke mit Waffenlieferungen lediglich die Verteidigungsfähigkeit Kubas. Auch der sowjetische Botschafter in Washington, Anatoli Dobrynin, versichert Justizminister Robert Kennedy, auf Kuba würden weder Boden-Boden-Raketen noch andere offensive Waffen stationiert.

Um die amerikanische Öffentlichkeit zu beruhigen, lässt der Präsident auf einer Pressekonferenz eine Erklärung verlesen. Darin wiederholt er seine Einschätzung, dass die Sowjetunion Kuba lediglich Waffen und Material zur Verteidigung überlasse. Darunter befänden sich Raketen zur Luftverteidigung mit dazugehörigem Radar und elektronischem Material. Zur Küstenverteidigung habe Kuba einige Torpedoboote mit Seezielflugkörpern erhalten, die allerdings nur über eine Reichweite von wenigen Meilen verfügten. Für eine Stationierung von sowjetischen Boden-Boden-Raketen, anderer Angriffswaffen oder Kampftruppen gebe es hingegen keinerlei Anhaltspunkte.

Am 8. September gelingt es China, über seinem Territorium eine von der CIA an Taiwan überlassene "U-2" mit einer "S-75 Dwina" abzuschießen. Auf Veranlassung von Rusk und von Kennedys Sicherheitsberater McGeorge Bundy werden daraufhin "U-2"-Flüge über das Innere Kubas eingestellt. Beide befürchten, der Abschuss einer "U-2" über kubanischem Territorium könne ähnlich negative außenpolitische Folgen nach sich ziehen wie der Abschuss von Powers über der UdSSR im Mai 1960. Aufklärungsflüge von "U-2" dürfen jetzt nur noch in einem Abstand von 25 Meilen zur Insel stattfinden. Die aus dieser Distanz gemachten Bilder belegen lediglich, dass an der Küste Kubas weitere Luftabwehrstellungen für die "S-75 Dwina" errichtet werden.

Am 19. September 1962 bewertet die CIA die militärischen Hilfeleistungen der UdSSR für Kuba. Die bisherigen sowjetischen Lieferungen, so das Ergebnis, dienten nur dazu, die desolate kubanische Luftabwehr und Küstenverteidigung zu verbessern. Als CIA-Chef McCone Ende September nach Washington zurückkehrt, stellt er mit Erschrecken fest, dass seit dem 5. des Monats kein Aufklärungsflug mehr über das Innere Kubas erfolgt ist. Er macht seinem Ärger darüber Luft, dass der Präsident und Regierungsmitglieder öffentlich versichert hätten, auf der Insel befänden sich keine sowjetischen Offensivwaffen. Er hingegen könne darüber kein endgültiges Urteil abgeben. Die "U-2", so fügt er ironisch hinzu, hätten bisher auf Kuba nur deshalb nichts gefunden, weil sie die Insel gar nicht überflogen hätten. Dies teilt er auch dem Präsidenten mit, der daraufhin einem "U-2"-Flug über Kuba zustimmt. Dieser findet am 15. Oktober statt. Die dabei gemachten Bilder offenbaren im Bau befindliche Startplätze, Flüssigkeitstanks, Spezialfahrzeuge und abgedeckte MRBM vom Typ "R-12". Der bauliche Zustand der Abschussrampen zeigt, dass die Raketen in etwa 14 Tagen einsatzbereit sein könnten.

Krieg oder Frieden

Für die heikle Entscheidung, mit welchen Mitteln dieser nuklearen Bedrohung zu begegnen ist, beruft der US-Präsident am 16. Oktober schon aus Geheimhaltungsgründen lediglich eine kleine Beratungsgruppe. Sie erhält die Bezeichnung Executive Committee of the National Security Council, kurz ExComm. Das Gremium umfasst neben Robert Kennedy etwa 15 weitere enge Mitarbeiter des Präsidenten und tritt künftig mindestens einmal täglich im Oval Office des Weißen Hauses zusammen. Die Gespräche werden vom Präsidenten ohne Kenntnis der Teilnehmer mitgeschnitten.

Zunächst steht das ExComm unter dem Eindruck, von Chruschtschow erfolgreich getäuscht worden zu sein. Alles kreist um die Frage, welchen Zweck die Stationierung der MRBM hat. Drei Reaktionsmöglichkeiten werden in Erwägung gezogen: Luftangriffe mit anschließender Invasion, Verhängung einer Blockade oder diplomatische Schritte. Durch Luftangriffe könnte die völlige Zerstörung der Raketen nicht garantiert werden. Eine Invasion der Insel wäre zwar möglich, würde jedoch zu großen Verlusten auf beiden Seiten führen. Der Präsident fürchtet zudem, solche Angriffe könnten zu unvorhersehbaren Vergeltungsaktionen durch die UdSSR in Berlin führen. Generell spielen mögliche Auswirkungen auf Berlin stets eine zentrale Rolle bei den Diskussionen im ExComm. Kennedy zieht auch ein Tauschangebot an Chruschtschow in Erwägung: Bei einem Abzug der sowjetischen MRBM von Kuba könnten im Gegenzug die amerikanischen "Jupiter" aus der Türkei abgezogen werden.

Am 18. Oktober empfängt der US-Präsident den sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko zu einem seit Langem geplanten Besuch in Washington. Das Präsidium der KPdSU hofft dabei herauszufinden, ob die USA von der Stationierung der sowjetischen Raketen auf Kuba bereits wissen. Im Laufe der Unterhaltung betont Gromyko, die von der UdSSR an Kuba gelieferten Waffen seien keineswegs offensiver, sondern lediglich defensiver Natur. Kennedy reagiert nicht auf diese eindeutige Lüge. Er versichert aber, dass die USA eine Invasion Kubas nicht beabsichtigten. Abschließend liest er seinem Gast aus einer früheren Erklärung vor. Dabei betont er besonders die Stelle, an der von den schwerwiegenden Folgen die Rede ist, falls die UdSSR offensive Boden-Boden-Raketen oder andere Offensivwaffen nach Kuba bringen würde. Diese Warnung versteht Gromyko offensichtlich nicht; denn er berichtet nach Moskau, die amerikanische Haltung im Hinblick auf Kuba sei völlig zufriedenstellend.

Am folgenden Tag trifft sich der US-Präsident mit den Oberkommandierenden der Streitkräfte. Diese schlagen einen massiven Luftangriff auf Kuba vor. Kennedys Hinweise auf mögliche Reaktionen der UdSSR in Berlin und die Folgen eines möglichen Nuklearkrieges für die USA beindrucken die Chefs der Streitkräfte nicht. Sie bestehen auf einer militärischen Lösung. Ihre starre Haltung führt dazu, dass der Präsident ein weiteres Treffen mit ihnen während der Krise als überflüssig ablehnt.

Die Mitglieder des ExComm tendieren inzwischen mehrheitlich zu einer Seeblockade Kubas. Kennedy gibt zu bedenken, dass die MRBM durch eine Blockade noch nicht aus Kuba entfernt seien. Eine endgültige Entscheidung will er erst treffen, nachdem er mit dem Kommandeur der taktischen Luftwaffe gesprochen hat. Dieser teilt ihm mit, dass selbst nach Hunderten von Luftangriffen keine Garantie für eine völlige Zerstörung der sowjetischen MRBM gegeben werden könne. Daraufhin lässt sich der Präsident vom möglichen Vorgehen der US-Marine im Fall einer Blockade unterrichten. Unterdessen brodelt in Washington bereits die Gerüchteküche. Deshalb bittet Kennedy die Herausgeber der "New York Times", der "Washington Post" und der "New York Herald Tribune" telefonisch, Veröffentlichungen zu Kuba aus Sicherheitsgründen noch zurückzuhalten. Dies wird ihm zugesichert.

Am 22. Oktober wird im ExComm eine Resolution erarbeitet, die nach ihrer Verabschiedung von der Organisation Amerikanischer Staaten verkündet werden soll. Sie erlaubt die Inspektion von Schiffen, um den Transport von Offensivwaffen nach Kuba zu verhindern. Kennedy verwendet künftig anstelle des Begriffs "Blockade" den weniger kriegerischen Begriff "Quarantäne". Zunächst wird UN-Generalsekretär Sithu U Thant über die beabsichtigte Maßnahme unterrichtet. Der sowjetische Botschafter Dobrynin wird ins Department of State einbestellt, wo ihm Außenminister Rusk den Text der für 19 Uhr angekündigten Rede Kennedys an die amerikanische Nation überreicht.

(© picture-alliance, Everett Collection)

Die Radio- und Fernsehrede Kennedys wird dank Übersetzungen und Aufzeichnung in der ganzen Welt gehört, so auch in Kuba. Erstmals erfährt die Weltöffentlichkeit von der zugespitzten Situation. Zunächst weist der Präsident auf die sowjetischen Nuklearwaffen auf der Insel hin. Diese gefährdeten die ganze westliche Hemisphäre. Dann erwähnt er die bisher vorgesehenen Maßnahmen: die "Quarantäne", die Verstärkung des US-Navy-Stützpunktes in der kubanischen Guantánamo-Bucht und die Intensivierung der Luftüberwachung. Für den Fall, dass die sowjetischen Mittelstreckenraketen nicht abgebaut würden, droht Kennedy mit weiteren Maßnahmen. Er schließt die Rede mit einer eindringlichen Warnung: Falls von Kuba eine nukleare Rakete auf einen Staat der westlichen Hemisphäre abgefeuert würde, werde dies als ein Angriff auf die USA angesehen und einen umfassenden nuklearen Vergeltungsschlag gegen die UdSSR auslösen.

In Moskau sorgt der US-Botschafter dafür, dass neben dem Redetext ein Brief des Präsidenten an Chruschtschow zugestellt wird. Das Schreiben enthält die Forderung, dass die entstandene Bedrohung der westlichen Hemisphäre durch die Entfernung der MRBM aufgehoben werden muss. Chruschtschow schreibt am 23. Oktober in seiner Antwort, alle nach Kuba gelieferten Waffen besäßen lediglich defensiven Charakter. Gleichzeitig fordert er die Aufhebung der Blockade, anderenfalls ergäben sich schwerwiegende Folgen für den Weltfrieden. Kennedy wiederum antwortet, dass die momentane Lage allein durch die UdSSR verursacht worden sei. Deshalb erwarte er von Chruschtschow die notwendigen Schritte zur Wiederherstellung der früheren Situation. Er hoffe, dass die sowjetischen Schiffe sich an die Bedingungen der Quarantäne hielten. Chruschtschows Antwort lässt nicht lange auf sich warten: Einen solchen Einschüchterungsversuch könne die UdSSR nicht akzeptieren. Es scheint, als riskiere der sowjetische Regierungschef bewusst eine militärische Auseinandersetzung. Tatsächlich jedoch lässt er die noch Kuba ansteuernden sowjetischen Schiffe zurückrufen. So muss die US-Marine an der Quarantänelinie lediglich die Ladung eines libanesischen Frachters inspizieren, die unbeanstandet bleibt.

Am 26. Oktober erklärt sich Chruschtschow bereit, die MRBM im Fall einer Verzichtserklärung der USA auf eine Invasion Kubas abzuziehen. Am 27. Oktober erreicht Kennedy die Nachricht, Chruschtschow habe öffentlich angekündigt, die Raketen abzuziehen, wenn die USA im Gegenzug die "Jupiter" aus der Türkei abzögen. Doch ausgerechnet als sich eine Lösungsmöglichkeit anzubahnen scheint, gibt es einen Rückschlag. Am Nachmittag desselben Tages wird der eigenmächtig von einem sowjetischen Kommandeur auf Kuba angeordnete Abschuss einer "U-2" durch das Luftabwehrsystems "S-75 Dwina" gemeldet. Der Pilot, Major Rudolf Anderson Jr., ist dabei ums Leben gekommen. Das führt bei beiden Staatsmännern, die die Schrecken des Zweiten Weltkriegs zur Genüge erlebt haben, zu einem Umdenken. Nachdem erstmals Blut geflossen ist, wollen sie eine weitere Eskalation unbedingt vermeiden.

Kennedy entschließt sich, Chruschtschows Bedingungen für den Raketenabzug anzunehmen. In einem Brief erklärt er sich zum Verzicht auf eine Invasion Kubas bereit. Als Robert Kennedy das Schreiben persönlich Botschafter Dobrynin übergibt, übermittelt er diesem mündlich das Versprechen des Präsidenten, auch die "Jupiter" aus der Türkei abzuziehen. Diese Zusage müsse allerdings streng geheim bleiben. Chruschtschow kann dem Präsidium des ZK am 28. Oktober berichten: Der Verzicht einer amerikanischen Invasion Kubas sei ebenso erreicht worden wie das Versprechen eines Abzugs der "Jupiter". Allerdings habe sowjetisches Handeln inzwischen zum Tod eines Amerikaners geführt. Jetzt bestehe die Gefahr eines Krieges und damit einer nuklearen Katastrophe. Um die Welt zu retten, müssten die Raketen aus Kuba abgezogen werden. Das Präsidium des ZK stimmt Chruschtschow zu. Dieser teilt Kennedy die Entscheidung mit. In der Folge werden die MRBM sowie die sowjetischen Soldaten samt weiteren Waffen von Kuba in die UdSSR abgezogen.

Pausenzeichen

Im April 1963 erfolgt der von Kennedy zugesagte Abzug der "Jupiter" aus der Türkei. Darüber hinaus werden die Gespräche für ein Atomtestabkommen wieder aufgenommen. Nur wenige Monate später, Anfang August, unterzeichnen das Vereinigte Königreich, die Sowjetunion und die USA in Moskau ein "Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser". Im selben Monat schließen die UdSSR und die USA in Genf ein Abkommen über die Einrichtung einer direkten Fernschreibverbindung zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml. Ihre Hoffnung ist, dadurch die Gefahr eines Krieges durch Zufall oder aufgrund eines Missverständnisses zu verringern.

Die Kuba-Krise 1962 wirkt somit gewissermaßen wie ein Warnschuss: Sie schafft ein breites öffentliches Bewusstsein dafür, wie fragil das atomare Gleichgewicht ist und führt dazu, dass die beiden Supermächte Vorkehrungen treffen, eine nukleare Eskalation unwahrscheinlicher zu machen – durch die genannten Abkommen und besseren Informationsaustausch, aber auch durch die Verlängerung von Befehlsketten für den Einsatz von Atomwaffen. Die kurzzeitige Phase der Entspannung ist jedoch nur ein Zwischenspiel: Am 22. November 1963 reißen zwei Schüsse in Dallas John F. Kennedy aus dem Leben. Chruschtschow wird am 14. Oktober des folgenden Jahres in Moskau als Vorsitzender des Ministerrates und Erster Sekretär der KPdSU abgelöst. Damit endet die nur kurze "Pause" der Entspannung im Kalten Krieg.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Reiner Pommerin, Die Kubakrise 1962, Ditzingen 2022.

  2. Vgl. Don Bohning, The Castro Obsession. U.S. Covert Operations against Cuba 1959–1965, Sterling VA 2005.

  3. Vgl. Summary of Facts – Investigation of CIA Involvement in Plans to Assassinate Foreign Leaders, 5.6.1975, Externer Link: http://www.fordlibrarymuseum.gov/library/document/0005/7324009.pdf.

  4. Vgl. Dimitrij N. Filippovych/Wladimir I. Ivkin, Die Raketentruppen der UdSSR und ihre Beteiligung an der Operation "Anadyr" (1962), in: Dimitrij N. Filippovych/Matthias Uhl (Hrsg.), Vor dem Abgrund. Die Streitkräfte der USA und der UdSSR sowie ihrer deutschen Bündnispartner in der Kubakrise, München 2005.

  5. Vgl. Ernest R. May/Philip D. Zelikow (Hrsg.), The Kennedy Tapes: Inside the White House during the Cuban Missile Crisis, Cambridge MA 1997. Auch die Protokolle der nicht während der Krise aufgezeichneten Sitzungen des ExComm sind hier abgedruckt.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Reiner Pommerin für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist Oberst der Reserve, emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der TU Dresden und Mitherausgeber der "Militärgeschichtlichen Zeitschrift". 2022 erschien sein Buch "Die Kubakrise 1962".