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Vertrauensschutz und Staatswohl? | NSU-Komplex | bpb.de

NSU-Komplex Editorial Was wir wissen, was wir nicht wissen. Der Rechtsterrorismus des NSU Reclaim and Remember. Die NSU-Tribunale als solidarische Gerechtigkeitspraxis "Szenetypische Straftaten". Zur Rolle der Sicherheitsbehörden im NSU-Komplex Vertrauensschutz und Staatswohl? Grenzen der juristischen Aufarbeitung im NSU-Komplex Postmigrantisches Gedenken. Solidarische Praktiken gegen institutionellen Rassismus Zeugnis ablegen und gehört werden. Betroffenenperspektiven auf ein mögliches Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex Vielstimmig aufarbeiten. Zivilgesellschaftliche Perspektiven auf ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex

Vertrauensschutz und Staatswohl? Grenzen der juristischen Aufarbeitung im NSU-Komplex

John Philipp Thurn

/ 14 Minuten zu lesen

Der NSU-Prozess und mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse haben zwar einiges erbracht, es offenbarten sich aber auch Grenzen dieser Verfahren. Neben der strafrechtlichen Verengung ist vor allem die mangelnde Kontrolle der Verfassungsschutzämter ein Problem.

Mit den Verbrechen des NSU haben sich seit 2012 über ein Dutzend parlamentarische Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern befasst, außerdem das Oberlandesgericht (OLG) München in einem der längsten Strafprozesse in der Geschichte der Bundesrepublik. Es ist also erheblicher Aufwand betrieben worden, um die rassistische Mord- und Anschlagsserie sowie die behördliche Mitverantwortung rechtsstaatlich aufzuarbeiten.

Das vielzitierte Versprechen der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass "alles" getan werde, "um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen", kann dennoch nicht als eingelöst gelten. Die justizielle wie die parlamentarische Untersuchung des NSU-Komplexes haben zwar einiges erbracht. Aber beide rechtsstaatlichen Prozeduren sind, wie im Folgenden gezeigt wird, an eine Reihe von – teils strukturellen – Grenzen gestoßen. Nicht zuletzt wird es dabei um die Inlandsgeheimdienste und insbesondere ihren Einsatz von sogenannten Vertrauenspersonen ("V-Leuten") gehen.

Strafprozessuale Verengung

Das Urteil des OLG München im Strafverfahren "gegen Beate Z.u.a. wegen Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung u.a. (NSU)" ist inzwischen rechtskräftig. Als rechtsfehlerfrei bestätigt hat der Bundesgerichtshof 2021 die Verurteilung von Zschäpe als Mittäterin der Morde, ebenso die niedrige Strafe von zweieinhalb Jahren Haft gegen André Eminger, der insbesondere vom Vorwurf der Beihilfe zum versuchten Mord bezüglich des Sprengstoffanschlags in der Kölner Probsteigasse freigesprochen wurde. Strafrechtlich sind damit für die Taten des NSU insgesamt fünf Personen zur Verantwortung gezogen worden. Aber inwieweit hat der Münchner Prozess die Taten aufgeklärt und durch Gerechtigkeit zum Rechtsfrieden beigetragen?

Um am Ende anzufangen: Die 2020 veröffentlichten schriftlichen Urteilsgründe bedeuteten eine Enttäuschung, nicht nur für die Hinterbliebenen der Mordopfer. Nebenklägerin Elif Kubaşık, die Witwe des 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık, erklärte dazu: "Das Urteil ist sehr lang. Aber warum haben Sie dann nicht wenigstens aufgeschrieben, was diese Morde mit uns und unseren Familien angerichtet haben?" Gerade in einem derart historischen Strafverfahren hätte es für das Gericht nahegelegen, als Teil der Tat- und Schuldfrage auch die – zumindest für die Strafzumessung (§46 Strafgesetzbuch, StGB) relevanten – erwartbaren Verbrechensfolgen zu thematisieren, einschließlich der teils rassistisch geprägten polizeilichen Ermittlungen. Ungeklärt blieb in München für die Angehörigen die zentrale Frage, weswegen der NSU genau ihren Ehemann, Vater, Sohn oder Bruder tötete – und welche Unterstützung es an den Tatorten gab. Schon die mündliche Urteilsbegründung durch den Vorsitzenden Richter Manfred Götzl im Juli 2018 wurde wegen der niedrigen Strafen für Eminger und Ralf Wohlleben, den Beschaffer der Mordwaffe, von Nazis auf der Besuchertribüne im Gerichtssaal gefeiert.

Weitgehend ausgeblendet hat der von 2013 bis 2018 dauernde Strafprozess an seinen über 400 Verhandlungstagen "die staatliche Mitverantwortung für die Entstehung des NSU-Netzwerks und für dessen langjährige ungestörte Terroraktivitäten sowie die rassistische Natur der Ermittlungen". Dass die Strafjustiz den NSU als ein isoliertes Trio mit nur vier Unterstützern versteht, ist zum Teil durchaus dem Staatsschutzsenat des OLG vorzuwerfen: Das Gericht wollte weder das Ausmaß und damit die Gefährlichkeit der terroristischen Vereinigung (§129a StGB) aufklären – noch zumindest festhalten, dass im Strafverfahren über weitere Beteiligte des Nazi-Netzwerks beziehungsweise eine Verstrickung der Inlandsgeheimdienste nicht entschieden wurde. Stattdessen wurde in München die Geschichte des NSU so geschrieben, als hätte es die mindestens 30 bekannten sicherheitsbehördlichen "Quellen" im Umfeld des Trios nicht gegeben. Sogar im eklatanten Fall des hauptamtlichen Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme erklärte das Gericht dessen Zeugenaussage, er habe die Ermordung von Halit Yozgat am 6. April 2006 in dessen Kasseler Internetcafé nicht mitbekommen, nicht für unglaubhaft – obwohl Temme zur Tatzeit anwesend war.

Die Aufklärung der Taten litt auch am teilweise auffallend geringen oder selektiven Erinnerungs- und Aussagevermögen nicht nur der meisten Zeug:innen aus dem NSU-Umfeld, sondern auch einiger der befragten Beamt:innen. Die Befragungstechnik des Vorsitzenden Götzl wirkte auf Beobachtende nicht immer zielführend; oft kamen Zeug:innen mit zweifelhaften bis erkennbar interessegeleiteten Aussagen davon, auch weil behördliche Akten zu ihnen nicht hinzugezogen wurden. Der Nebenklagevertreter Yavuz Narin erwähnte im Prozess, er werde "öfter gefragt, warum Zeugen aus der Szene hier vor Gericht so dreist und ungestraft lügen können". Beispielsweise leugnete Marcel Degner, der ehemalige Chef des Neonazi-Netzwerks "Blood and Honour" in Thüringen, seine langjährige Tätigkeit als Spitzel (Deckname "Hagel") für den Verfassungsschutz. Gegen ihn wurde tatsächlich wegen der Falschaussage ermittelt. Letztlich konnte Degner in München nicht zur Sache befragt werden; Nebenklagevertreterin Antonia von der Behrens wies darauf hin, dass die Vernichtung der entsprechenden Akten durch den Verfassungsschutz dazu beigetragen habe.

Entpolitisierung

Das Strafverfahren ist auf die prozessuale Wahrheit ausgerichtet, nicht auf die vermeintlich absolute Wahrheit. Eine rechtsstaatliche Strafprozessordnung schützt nicht zuletzt die Rechte von Beschuldigten. Und ein Zeuge, der sich nicht erinnern will, kann nicht zu einer (verwertbaren) Aussage gezwungen werden. Wie es die Rechtshistorikerin und Medientheoretikerin Cornelia Vismann formulierte, "geht die Justiz mit den Bedingungen ihrer Wahrheitsproduktion offener um als andere Wahrheitsdiskurse. Während diese sich zur Bewahrheitung auf eine höhere Autorität berufen (Natur, Physik, Gott), stellt das Gericht in aller Offenheit aus, dass die Wahrheitsfindung den von ihm selbst gesetzten Regeln folgt"; damit wird die strafjustizielle Wahrheitsfindung in gewisser Weise "immun gegen jeden von außen herangetragenen Zweifel. Einer Relativierung durch andere Wahrheitsformen ist sie nicht zugänglich".

Das bleibt theoretisch überzeugend, auch wenn es die parallele Aufarbeitung des NSU-Komplexes durch die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse immerhin ermöglichte, Wissen aus anderen rechtsstaatlichen Verfahren (in denen es beispielsweise keine Angeklagten gibt) in den Gerichtssaal zu bringen. Darum bemühten sich einige engagierte Vertreter:innen der Nebenklage, die eine Vielzahl von Beweisanträgen zum NSU-Unterstützerkreis und zur Rolle der Geheimdienste stellten. Das OLG lehnte die meisten Anträge ab, ohne dass die Strafprozessordnung es dazu gezwungen hätte.

Damit ist der Anfang des Münchner Verfahrens erreicht. Hauptverantwortlich für die Verengung und "künstliche Entpolitisierung" des Strafverfahrens war die Behörde des Generalbundesanwalts (GBA) mit ihren Ermittlungen und der auf wenige Personen beschränkten Anklage. Dass die staatsanwaltschaftliche Untersuchung die sogenannten Sicherheitsinteressen der Verfassungsschutzbehörden zu berücksichtigen hatte, diente hier erkennbar nicht der strafrechtlichen Wahrheitsfindung. Insbesondere scheint der GBA geheimdienstliche Vertrauenspersonen, also nach einer Verpflichtungserklärung entgeltlich für die Dienste tätige Privatpersonen (Spitzel) und deren hauptamtliche Führungspersonen weitgehend als Zeug:innen aus der Anklageschrift herausgehalten zu haben.

Einer Strafverfolgungsbehörde, zu deren historischem Erbe erwiesenermaßen Schwierigkeiten im Umgang mit rechtsradikalen Netzwerkstrukturen gehören, hätte ein anderes Vorgehen gut zu Gesicht gestanden. Auch das Beschleunigungsgebot, das zu einer zügigen Anklage der inhaftierten Beschuldigten verpflichtete, rechtfertigte dem Kasseler Rechts- und Politikwissenschaftler Maximilian Pichl zufolge jedenfalls nicht, während der mehrjährigen Hauptverhandlung kaum weiter zu ermitteln, Beweisanträgen aus der Nebenklage entgegenzutreten – und dann im Schlussplädoyer ohne entsprechende Untersuchungen zu behaupten, es habe nicht einmal "Anhaltspunkte für eine strafrechtliche Verstrickung von Angehörigen staatlicher Stellen" gegeben (so Bundesanwalt Herbert Diemer). Kritik kam insoweit schon vom zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages 2017: Eine "breitere Ermittlungskonzeption" wäre geboten gewesen, da nicht feststehe, dass es keine weiteren strafbaren Unterstützungsleistungen gegeben habe; bei der Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter 2007 bestünden sogar "Anhaltspunkte dafür, dass an dem Geschehen weitere Personen beteiligt waren". Weitere Anklagen scheint der GBA aber nicht mehr erheben zu wollen.

Der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strasbourg leitet aus Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention eine Verpflichtung ab, bei – zumal rassistischen – Tötungsdelikten effektive staatliche Ermittlungsverfahren zu führen, gerade wenn es sicherheitsbehördliche Verwicklungen gibt. Bislang muss davon ausgegangen werden, dass "der EGMR die Aufklärung des NSU-Komplexes als unzureichend bewerten würde".

Geheimnis und Vertrauen

Zum Entstehen und ungehinderten Wirken des NSU hatten das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) sowie die Landesverfassungsschutzämter (LfV), vor allem in Thüringen und Sachsen, beigetragen, die etwa durch die Bezahlung von V-Leuten wie Tino Brandt vom "Thüringer Heimatschutz" jahrelang die rechte Szene mitfinanzierten. Dabei erschwerten sie nicht zuletzt auch polizeiliche Ermittlungen, weil sie ihre "Quellen" schützen wollten. Beispielsweise setzte sich das zuständige LfV Thüringen bei Staatsanwaltschaft und Polizei gegen die Verfolgung von Brandt ein, warnte seine Eltern vor einer Telefonüberwachung und ihn selbst vor Hausdurchsuchungen. Bei Marcel Degner staunte die Polizei einmal, so die Worte des Journalisten Ronen Steinke, über eine "klinisch saubere" Wohnung, nachdem ihn der stellvertretende Leiter des LfV Peter Nocken besucht hatte. Im Fall Andreas Temme bezeugten in München ein Verfassungsschützer und ein Kriminalbeamter, dass der damalige hessische Innenminister Volker Bouffier (CDU) 2006 durch eine pauschale Sperrerklärung die polizeiliche Befragung aller von Temme geführten Vertrauens- und Gewährspersonen verhindert hatte. Darunter war der Neonazi Benjamin Gärtner, mit dem Temme am Tag der Ermordung von Halit Yozgat mehrfach telefoniert hatte.

Von den konkurrierenden sicherheitsbehördlichen Systemlogiken setzte sich also häufig diejenige durch, die "Quellenschutz" vor Strafverfolgung stellt. Grundlage dafür ist das Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG), wonach beispielsweise die Datenübermittlung an Strafverfolgungsbehörden unterbleibt, "wenn überwiegende Sicherheitsinteressen dies erfordern" (§23); zu den danach schützenswerten "Sicherheitsinteressen" gehören nicht zuletzt die Methoden der geheimdienstlichen Arbeit. 2015 erst wurde die staatsanwaltschaftliche Praxis legalisiert, unter bestimmten Voraussetzungen von der Verfolgung von V-Leuten wegen szenetypischer Straftaten abzusehen (§§9a, 9b BVerfSchG).

Im NSU-Komplex wurde nun vielleicht deutlicher als je zuvor ersichtlich, wie das Wirken der Inlandsgeheimdienste es erschwert, politische Verbrechen rechtsstaatlich aufzuarbeiten. Ein krasser Fall ist dabei die "Operation Konfetti" genannte Vernichtung von Akten zu V-Leuten des BfV unmittelbar nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011. Der verantwortliche Geheimdienstler mit dem Decknamen "Lothar Lingen" gab nicht im Untersuchungsausschuss des Bundestages, wohl aber 2014 gegenüber dem GBA zu, dass er die Vernichtung absichtlich veranlasst hatte. Sein Motiv blieb unklar, nicht aufgeklärt werden konnten letztlich auch der Umfang oder gar der Inhalt der betreffenden Akten.

Wer kontrolliert wen?

Es gehört zur Natur der Inlandsgeheimdienste, dass ihre Praktiken nicht-öffentlich und daher gerichtlich schwer zu überprüfen sind. Schon die Auskunft darüber, welche personenbezogenen Daten der Verfassungsschutz gespeichert hat, muss vielfach in mühsamen und langwierigen Verwaltungsgerichtsverfahren erstritten werden. Gerichtlicher Rechtsschutz gegen Überwachung ist weitgehend ausgeschlossen, was kompensiert werden soll durch Einrichtungen wie das Parlamentarische Kontrollgremium und die sogenannte G 10-Kommission des Bundestages, die über Abhör-Anträge entscheidet. Ihre Mitglieder sind "politisch handverlesen", mehrheitlich von den Regierungsfraktionen. Sie sollen mit wenig Personal die Arbeit riesiger Behörden überprüfen und unterliegen der Geheimhaltung.

Welche Möglichkeiten boten nun die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bundestag und Landtagen, um im NSU-Komplex insbesondere die Rolle des Verfassungsschutzes aufzuklären? Pichl versteht die parlamentarische Untersuchung als "politisch-juridische Arena", die sowohl von "rechtsstaatlicher Aufklärung" als auch vom parteipolitischen Ringen um "exekutiven Ordnungserhalt" geprägt ist. Sie unterliegt besonderen staatsorganisationsrechtlichen Vorgaben: Im Föderalismus darf ein Parlament prinzipiell nur Sachverhalte untersuchen, für die der Bund oder das jeweilige Land auch zuständig sind; länderübergreifende Ermittlungen sind daher prekär – beispielsweise wenn ein Thüringischer Ausschuss den Mordfall von Heilbronn hinsichtlich der Verbindungen zwischen dem vermeintlichen Zufallsopfer und der rechten Szene untersucht. Zudem fehlt es den parlamentarischen Untersuchungen häufig auch an Personal und Zeit, um ihre Arbeit neben den übrigen Parlamentsaufgaben bis zum Ende der jeweiligen Legislaturperiode sinnvoll abzuschließen: Nach dem sogenannten Diskontinuitätsprinzip enden dann alle parlamentarischen Ausschüsse.

In den NSU-Untersuchungsausschüssen konnten sich einerseits "alle Parlamentarier als Aufklärer von Missständen in der Gesellschaft (…) inszenieren". Zumindest in manchen Ausschüssen gelang es, dass die Abgeordneten über parteipolitische Grenzen hinweg zusammenarbeiteten. Andererseits waren die gesellschaftlichen Erwartungen auch besonders hoch, dass die strukturellen Missstände in Polizeibehörden und Geheimdiensten aufgeklärt würden, für die im Münchner Strafprozess kein Raum sein sollte.

Grenzen der rechtsstaatlichen Aufarbeitung ergaben sich hier wiederum insbesondere aus dem Wirken des Verfassungsschutzes. Die erwähnten Aktenvernichtungen führten dazu, dass bei den – ohnehin seltenen – Vernehmungen von V-Leuten die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben nicht anhand von amtlichen Unterlagen überprüft werden konnte. Befragte Beamt:innen erschienen oft unvorbereitet und nicht aufklärungsgewillt. Nicht nur der Journalist Dirk Laabs fragte sich: Warum "blockierten, logen und verzerrten Beamte die Wahrheit?" Teilweise versuchten Geheimdienste auch mit dem Argument des "Staatswohls", Aussagegenehmigungen zu verweigern, etwa für BfV-Abteilungsleiterin Dinchen Franziska Büddefeld. Das Diskontinuitätsprinzip ermöglichte es den Behörden, bei der Herausgabe von Akten auf Zeit zu spielen; ein probates Mittel war es auch, einem Ausschuss kurz vor dessen Abschluss eine exzessive Menge an Akten zukommen zu lassen, für deren Auswertung die Zeit fehlte. Klagen von Parlamentarier:innen dagegen, dass ihr Beweiserhebungsrecht rechtswidrig beschränkt wurde, hätten erwartbar zu lange gedauert.

Leider hat auch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in einer Reihe von jüngeren Entscheidungen das parlamentarische Fragerecht in Bezug auf V-Leute eingeschränkt. Danach sind die Geheimdienste ein "Ausdruck der Grundentscheidung des Grundgesetzes für eine wehrhafte Demokratie, des Selbstbehauptungswillens des Rechtsstaates" und darf die Regierung Abgeordneten die Auskunft über den Einsatz verdeckter Quellen regelmäßig verweigern. Wenn Informationen zur geheimdienstlichen Arbeitsweise mit verdeckten Quellen offengelegt werden, sei grundsätzlich "die Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste und folglich das Staatswohl gefährdet", bringt die Gießener Rechtswissenschaftlerin Jelena von Achenbach dieses etatistische Sicherheitsdenken auf den Punkt. Dabei wird einseitig der Regierung die Bestimmung des "Staatswohls" überlassen, wozu, wie ihr Freiburger Fachkollege Benjamin Rusteberg kritisiert, offenbar nicht die "Sicherheit vor Exekutivbehörden" gehört. Um Geheimdienste wirksam kontrollieren und gegebenenfalls die gesetzlichen Grundlagen ihrer Arbeit verändern zu können, wäre umgekehrt die parlamentarische Kenntnis der Behördenpraxis erforderlich. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts scheint dagegen "Rechtsstaat und Demokratie der Effektivität der Nachrichtendienste unterzuordnen".

Staatsschutz statt Verfassung?

Die rechtsstaatliche Aufarbeitung des NSU-Komplexes hat es insgesamt kaum geschafft, das zerstörte Vertrauen in die staatlichen Institutionen bei den Betroffenen wiederherzustellen. So stellt Pichl in Anlehnung an den Pariser Soziologen Luc Boltanski die Frage, was staatliche Untersuchungen von Skandalen überhaupt leisten können, weil sie gesellschaftliche (Macht-)Verhältnisse nicht infrage stellen: Die Justiz kann Urteilssprüche über Einzelpersonen fällen, aber keine Systeme und Strukturen analysieren. Dort liege eine Aufgabe insbesondere der sozialwissenschaftlichen Forschung. Struktureller und institutioneller Rassismus bleiben selbstverständlich auch wichtige Themen für Medien und Zivilgesellschaft.

Gerichten und Staatsanwaltschaften stellt sich im Umgang mit Geheimdiensten die Aufgabe, das Justizsystem vor Übergriffen einer vermeintlich extralegalen "Superexekutive" zu bewahren. Anstatt sich mit Agenten eines exekutivischen "Staatswohls" zu identifizieren, haben sie die Verfassung und das Gesetz zu wahren.

Ein wichtiges Ergebnis der parlamentarischen Untersuchungen sind demnach die umfangreichen Abschlussberichte voll von empirischem Material über die "Verselbständigungen des V-Leute-Systems und die problematischen Arbeitsweisen des Verfassungsschutzes". Während von historischen Strafverfahren wie dem NSU-Prozess bislang leider keine offiziellen Protokolle oder Tonaufzeichnungen existieren, hinterließen die Ausschüsse "Archive für Staatskritik", so Pichl.

Der NSU-Komplex hat die alte bürgerrechtliche Frage wieder aufgeworfen, wie sich Inlandsgeheimdienste vereinbaren lassen mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie: Wird die Verfassung nicht besser geschützt, wenn allein die Polizeien politisch motivierte Gewalt zu verhindern suchen, während legale Aktivitäten von Parteien und anderen Gruppierungen, die wie die AfD eine fundamental andere Ordnung wollen, ohne heimliche Überwachungsmethoden erfasst werden? Das zentrale Problem der Verfassungsschutzbehörden ist dabei nicht die politische Grundhaltung von Teilen ihres Führungspersonals – auch wenn heutzutage noch ein Landesamtschef erzählt, dass der Antikommunismus "tief drin in unserer DNA" stecke –, sondern es ist die strukturelle Eigenlogik des verdeckten Einsatzes von V-Leuten. Mit "Quellenschutz" kann ein Inlandsgeheimdienst nahezu alles begründen, etwa dass die Strafverfolgung eines NS-Hauptverbrechers wie Alois Brunner erschwert wird.

Verfassungsrechtlich gehört der Spitzel-Einsatz von V-Leuten "zu den schwersten denkbaren informationellen Eingriffen in Grundrechte überhaupt". In seiner grundlegenden Entscheidung zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz hat der liberalere Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts kürzlich hervorgehoben, bei einem dauerhaften Einsatz könne "eine ursprünglich tatsächlich bestehende Vertrauensbeziehung durch staatliche Intervention einseitig heimlich gebrochen und in ein von Überwachung geprägtes Verhältnis verwandelt werden". Unverständlich bleibt insofern, warum nicht Überwachungsmaßnahmen wie diese, die offenbar "um überhaupt zu funktionieren, der parlamentarischen Kontrolle entzogen werden müssen, schlicht verfassungswidrig sind".

Angesichts der dokumentierten negativen Folgen, die der Einsatz von V-Leuten für die Verhinderung und die rechtsstaatliche Aufarbeitung der Taten des NSU hat, stellt sich auch politisch nicht zuletzt folgende Frage: Welche Erfolge dieser Praxis sind eigentlich nachweisbar – und warum wiegen sie schwerer?

Mit dem absehbaren Ende der rechtsstaatlichen Verfahren zum NSU rückt zunehmend die Forschung in den Vordergrund. Die Bundesregierung will laut Koalitionsvertrag von 2021 "die weitere Aufarbeitung des NSU-Komplexes energisch voran[treiben]" und dazu auch ein zentrales "Archiv zu Rechtsterrorismus" schaffen: Hoffentlich kein weiteres Versprechen, an das noch in zehn Jahren erinnert wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Näher dazu John Philipp Thurn, Was die Strafjustiz nicht sieht. Die Urteilsgründe im NSU-Prozess als Dokument des Scheiterns, in: Kritische Justiz 3/2020, S. 328–334.

  2. Erklärung vom 30.4.2020, Externer Link: https://www.nsu-nebenklage.de/blog/2020/05/19/30-04-2020-erklaerung-von-elif-kubasik-der-witwe-des-am-4-april-2006-ermordeten-mehmet-kubasik-zum-urteil-des-oberlandesgerichts-muenchen.

  3. Exemplarische Kritik bei Carsten Ilius, Der Mord an Mehmet Kubaşık in Dortmund, in: Antonia von der Behrens (Hrsg.), Kein Schlusswort. Plädoyers im NSU-Prozess, Hamburg 2018, S. 27–61.

  4. Doris Liebscher, Der NSU-Komplex vor Gericht. Zur Notwendigkeit einer Perspektiverweiterung in der rechtlichen Auseinandersetzung mit institutionellem Rassismus, in: Juliane Karakayalı et al. (Hrsg.), Den NSU-Komplex analysieren, Bielefeld 2017, S. 81–106, hier S. 95.

  5. Näher dazu Sebastian Scharmer, Aufklärungsanspruch nicht erfüllt – ein Schlussstrich kann nicht gezogen werden, in: Behrens (Anm. 3), S. 63–101.

  6. Für eine anschauliche Rekonstruktion siehe Externer Link: https://forensic-architecture.org/investigation/the-murder-of-halit-yozgat.

  7. Zit. nach Annette Ramelsberger et al., Der NSU-Prozess. Das Protokoll, München 2018, S. 616.

  8. Vgl. ebd., S. 1156.

  9. Cornelia Vismann, Medien der Rechtsprechung, Frankfurt/M. 2011, S. 42.

  10. Mehmet Gürcan Daimagüler/Alexander Pyka, "Politisierung" im NSU-Prozess. Unnötige Verfahrensverzögerung oder umfassende Aufklärung?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 5/2014, S. 143ff., hier S. 144.

  11. Vgl. Antonia von der Behrens, Wie die Verfassung im NSU-Prozess geschützt wurde, in: Cornelia Kerth/Martin Kutscha (Hrsg.), Was heißt hier eigentlich Verfassungsschutz? Ein Geheimdienst und seine Praxis, Köln 2020, S. 61–73.

  12. Zu den 1950er und 1960er Jahren vgl. Friedrich Kießling/Christoph Safferling, Staatsschutz im Kalten Krieg. Die Bundesanwaltschaft zwischen NS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre und RAF, München 2021, S. 382ff.

  13. Vgl. Maximilian Pichl, Untersuchung im Rechtsstaat. Eine deskriptiv-kritische Beobachtung der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zur NSU-Mordserie, Weilerswist 2022, S. 216–226. Zitat Diemer nach Ramelsberger et al. (Anm. 7), S. 1510.

  14. Bundestagsdrucksache 18/12950, 23.6.2017, S. 986, S. 1096. Der Schlussbericht des Untersuchungsausschusses in Nordrhein-Westfalen 2017 äußerte zur Kölner Probsteigasse "erhebliche Zweifel, dass Uwe Mundlos oder Uwe Böhnhardt die Sprengfalle abgelegt haben". Landtagsdrucksache 16/14400, S. 313.

  15. Vgl. Antonia von der Behrens, Das Netzwerk des NSU, staatliches Mitverschulden und verhinderte Aufklärung, in: dies. (Anm. 3), S. 197–322. Siehe auch Hanna Soditt/Fiona Schmidt, Staatliche Kollusion im NSU-Komplex. V-Personen im Konflikt mit rechtsstaatlichen Standards und menschenrechtlichen Verpflichtungen, in: Karakayalı et al. (Anm. 4), S. 191–208.

  16. Sebastian Schüler, Die NSU-Terrorserie und die staatliche Ermittlungspflicht. Verbrechensaufklärung und staatliche Legitimation, Baden-Baden 2023, S. 182.

  17. Zusammenfassend zur Rolle des Verfassungsschutzes zuletzt Ronen Steinke, Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht, Berlin–München 2023, S. 122, Zitat S. 169.

  18. Vgl. Ramelsberger (Anm. 7), S. 429f., S. 648.

  19. Vgl. Martín Steinhagen, Aufklärung in hessischen Verhältnissen. Der NSU-Untersuchungsausschuss in Wiesbaden, in: Benjamin-Immanuel Hoff/Heike Kleffner/Maximilian Pichl (Hrsg.), Rückhaltlose Aufklärung? NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungsausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl, Hamburg 2019, S. 89–101.

  20. Kritisch dazu Ulrich K. Preuß: "Eine etwas atypische Verwaltung", Gespräch mit Ulrich K. Preuß und Hajo Funke, in: Karakayalı et al. (Anm. 4), S. 221–233, hier S. 228f.

  21. Dazu im Einzelnen Pichl (Anm. 13), S. 195–213.

  22. Vgl. Udo Kauss, Probleme der gerichtlichen Kontrolle des Verfassungsschutzes, in: Kerth/Kutscha (Anm. 11), S. 125–135.

  23. Vgl. Steinke (Anm. 17), S. 61–65.

  24. Pichl (Anm. 13), S. 52.

  25. Vgl. ebd., S. 65, S. 69ff., S. 158.

  26. Florian Meinel, Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus, München 2019, S. 190f.

  27. Vgl. Pichl (Anm. 13), S. 262–265.

  28. Dirk Laabs, Der NSU-Komplex: Gescheiterte Aufklärung, in: Hoff/Kleffner/Pichl (Anm. 19), S. 55–73, hier S. 61.

  29. Vgl. Pichl (Anm. 13), S. 242–249.

  30. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss des Zweiten Senats vom 13. Juni 2017, 2 BvE 1/15 – BVerfGE 146, 1 (49f.).

  31. Jelena von Achenbach, Effektive Nachrichtendienste als Verfassungsgut. Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zu den NSA-Selektoren und zum Einsatz von V-Leuten, in: Hoff/Kleffner/Pichl (Anm. 19), S. 155–168, hier S. 162.

  32. Benjamin Rusteberg, Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser: V-Leute mit Verfassungsrang II, 5.2.2021, Externer Link: https://verfassungsblog.de/kontrolle-ist-gut-vertrauen-ist-besser.

  33. Achenbach (Anm. 31), S. 165.

  34. Vgl. Pichl (Anm. 13), S. 37.

  35. Vgl. Cantürk Kiran, NSU-Komplex: Handelt es sich beim Verfassungsschutz um eine Superexekutive?, in: Kritische Justiz 3/2017, S. 343–356.

  36. Pichl (Anm. 13), S. 313.

  37. Näher dazu Claus Leggewie/Horst Meier, Nach dem Verfassungsschutz. Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik, Berlin 2019.

  38. Steinke (Anm. 17), S. 164. Zur Geschichte des BfV vgl. ebd., S. 149–164; Constantin Goschler, Im Schatten der Gestapo. Personelle Brüche und Kontinuitäten im Bundesamt für Verfassungsschutz, in: Stefan Creuzberger/Dominik Geppert (Hrsg.), Die Ämter und ihre Vergangenheit. Ministerien und Behörden im geteilten Deutschland 1949–1972, Bonn 2018, S. 123–143.

  39. Vgl. Aiko Kempen, Die Geheimdienst-Akten über Alois Brunner, 30.6.2023, Externer Link: https://fragdenstaat.de/blog/2023/06/30/alois-brunner-gehlen-akten-verfassungsschutz.

  40. Mathias Hong, Der Einsatz von V-Leuten und verdeckten Mitarbeitern zwischen sicherheitspolitischer Notwendigkeit und verfassungsrechtlichen Grenzen, in: Jan-Hendrik Dietrich et al. (Hrsg.), Reform der Nachrichtendienste zwischen Vergesetzlichung und Internationalisierung, Tübingen 2019, S. 45–64, hier S. 55.

  41. BVerfG, Urteil vom 26. April 2022, 1 BvR 1619/17 – BVerfGE 162, 1 – juris, Rn. 351.

  42. Benjamin Rusteberg, V-Leute mit Verfassungsrang – ein Pyrrhussieg in Karlsruhe für die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste, 23.7.2017, Externer Link: https://verfassungsblog.de/v-leute-mit-verfassungsrang-ein-pyrrhussieg-in-karlsruhe-fuer-die-parlamentarische-kontrolle-der-nachrichtendienste.

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ist promovierter Jurist und Richter am Sozialgericht Berlin. Er engagiert sich bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) sowie in der Redaktion des "Grundrechte-Reports" und beim "Forum Justizgeschichte".