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Auf dem Weg in die "Ökodiktatur"? | Ökologie und Demokratie | bpb.de

Ökologie und Demokratie Editorial Auf dem Weg in die "Ökodiktatur"? Klimaproteste als demokratische Herausforderung System change, not climate change? Ziviler Ungehorsam im Zeichen der Klimakatastrophe Nachhaltigkeit und Demokratie Handeln und Verhandeln. Eine kurze Demokratiegeschichte der Atomkraft Tyrannei der Minderheit? Energiewende und Populismus Schnell oder demokratisch? Dilemmata demokratischer Beteiligung in der Nachhaltigkeitstransformation Klimaschutz lokal vermitteln. Zur Rolle zivilgesellschaftlicher Klimaübersetzer:innen in Dänemark und Deutschland

Auf dem Weg in die "Ökodiktatur"? Klimaproteste als demokratische Herausforderung - Essay

Johannes Varwick

/ 12 Minuten zu lesen

Das sympathisierende Umfeld der Klimabewegung sollte klarmachen, dass Gewalt kein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung ist. Denn die autoritäre Durchsetzung kompromissloser Klimapolitik würde kaum nützen, aber die Gesellschaft zerreißen.

Die Stabilität des globalen Ökosystems und insbesondere der menschgemachte Klimawandel ist unstrittig eines der zentralen Probleme unserer Zeit. Daran ändern auch Relevanz und Konjunktur anderer wichtiger Themen – wie der Covid-19-Pandemie seit Anfang 2020 oder des Krieges in der Ukraine seit Frühjahr 2022 – nichts Grundlegendes. Verschiedene Klimamodelle geben uns nur noch wenige Jahre, um überhaupt etwas gegen die Katastrophe zu tun – was entsprechend einschneidende Maßnahmen erfordern würde: "Die radikalen Veränderungen, die wir jetzt bräuchten, sind nun in einem Expresstempo zu realisieren." Zu Recht hat sich in diesem Zusammenhang in den vergangenen Jahren der Diskurs auch begrifflich verschoben: Nicht mehr "Klimawandel", sondern "Klimakrise" ist die vorherrschende Terminologie, viele sprechen mittlerweile gar von "Klimanotstand" oder "Klimakatastrophe". Die Mehrzahl der WissenschaftlerInnen schätzt die Situation als dramatisch ein, und der UN-Generalsekretär António Guterres warnte 2021: "Wir graben unser eigenes Grab."

Hierbei handelt es sich um eine diskursive Strategie, der schon "einige Spurenelemente von Fatalismus und Resignation beigemischt sind". Fest steht: Die "Gespenster der Externalisierungsgesellschaft", von denen der Soziologie Stephan Lessenich schrieb, lassen sich nicht länger ignorieren – man könne darauf mit Abwehrreflexen und Realitätsverweigerung reagieren oder eben "radikale Veränderungen in Angriff nehmen". Die Ende 2021 ins Amt gekommene rot-grün-gelbe Bundesregierung muss, kann und wird hier einige Weichen neu stellen. So hieß es etwa im Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen: "Wenn wir zu Beginn dieses Jahrzehnts konsequent handeln und die sozial-ökologische Transformation einläuten, können wir die Klimakatastrophe noch verhindern und zu einer klimagerechten Welt beitragen." Und die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock konstatierte im Wahlkampf, dass (nur) die nächste Regierung "noch aktiv Einfluss auf die Klimakrise" nehmen könne. Allerdings ist absehbar, dass auch die Regierung, der Baerbock inzwischen als Außenministerin angehört, die "Weltenrettung" nicht so radikal angehen (können) wird, wie von manchen erhofft. Enttäuschungen sind somit programmiert.

Auch wenn es keine empirischen Belege dafür gibt, dass nicht-demokratische Regierungssysteme diesbezüglich erfolgreicher sind, stellt sich somit die grundsätzliche Frage, ob liberale Demokratien über die politischen Mittel und Instrumente verfügen, um einer Herausforderung wie dem Klimawandel rasch und wirksam zu begegnen oder ob sie hierfür möglicherweise zu schwerfällig sind. Und wenn dem so sein sollte: Ist der Verzicht auf andere politische Priorisierungen und demokratischen Interessenausgleich der einzig gangbare Weg, die Erde als Lebensraum für die Menschheit zu retten? Sind wir damit also auf dem Weg in eine Art "Ökodiktatur"?

"Weltenrettungsethos-Narrativ" vs. Realpolitik

Wer die panische Angst vor einem Nuklearkrieg in den 1970er oder auch vor dem Waldsterben in den 1980er Jahren erlebt hat, dem kommt womöglich einiges vertraut vor. Denn wer von der kommenden Katastrophe überzeugt ist, dem bleibt am Ende nur Verzweiflung – oder weitere Radikalisierung bis hin zur Befürwortung einer "Ökodiktatur". Der Begriff "Ökodiktatur" ist freilich umstritten und nicht einheitlich definiert, schlimmer noch: Er gilt vielen inzwischen als Kampfbegriff zur Diffamierung einer ökologisch orientierten Politik. Im herkömmlichen Verständnis ist damit eine Regierungsform gemeint, die die als notwendig erkannten Maßnahmen zugunsten von Klimaschutz auch mit freiheitseinschränkenden Mitteln durchsetzen will, zum Beispiel durch staatliche Regeln und Verbote in allen Lebensbereichen. In diesem Beitrag wird "Ökodiktatur" allerdings so verstanden, dass weit darüber hinaus Maßnahmen ergriffen würden, die erstens dem Parteienstreit entzogen und zweitens unter Umständen auch mit radikalen oder sogar gewalttätigen Mitteln autoritär durchgesetzt würden.

Auch wenn wir von einer solchen Systemveränderung weit entfernt sind: Das Thema Klimapolitik, so beobachtet der "Zeit"-Journalist Thomas Schmidt, habe auf der politischen Bühne eine gewisse Eigenlogik entwickelt, "ins Unbedingte, ins Quasireligiöse zu streben". Die aus dieser Konfiguration abgeleiteten Verfahren müssten zwingend "über dem Parteienstreit schweben, über dem administrativen Gemurkel, den Abstimmungsdelirien und dem lästigen Widerspruchsgeist, wenn sie denn Klimaschutzpolitik langfristig begründen und befeuern wollen". Notwendigerweise wisse man aber eigentlich, dass die Politik hinter diesen Erwartungen nur zurückbleiben könne. Denn wer in einem "Weltenrettungsethos-Narrativ" argumentiere, könne sich "nicht umdrehen und wieder anderen politischen Spielfeldern zuwenden". Das ist dann tatsächlich das Dilemma einer politischen Ordnung, "die nicht in der Lage zu sein scheint, sich der Dimension von Angst und Zerstörung zu öffnen, die real ist und nur größer wird, je mehr man sich ihr verweigert".

Diesem Narrativ folgte auch die damals 16-jährige "Fridays for Future"-Galionsfigur Greta Thunberg, als sie im Herbst 2019 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen sprach. Neben großer Wut sprach aus ihren Worten auch die Angst vor einer Zukunft, von der sie mehr betroffen sein wird, als all die versammelten Frauen und Männer, die ihr als VertreterInnen von 193 Staaten zuhörten: "Sie haben meine Träume und meine Kindheit mit Ihren leeren Worten gestohlen. (…) Ganze Ökosysteme kollabieren. Wir stehen am Anfang eines Massenaussterbens. Und alles, worüber Sie reden können, sind Geld und Märchen vom ewigen Wirtschaftswachstum. Wie können Sie es wagen!" Ihr Ausruf "How dare you!" war "ein Satz für das Wörterbuch des immer noch jungen 21. Jahrhunderts, ein Satz, der eine Welt zum Einstürzen bringen könnte, wenn diese Welt dafür bereit wäre".

Nicht nur junge, auch viele ältere Menschen sehen im Klimawandel eine gewaltige Bedrohung. Sie haben gute Gründe, laut und deutlich auf die davon ausgehenden Gefahren hinzuweisen, und es ist das Verdienst von AktivistInnen und Demonstrierenden, dass das Thema im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit angekommen ist. Doch wie reagieren – zumindest in der Summe – Politik und Gesellschaft? Mit einem halbherzigen Klimapakt, mit immer mehr Flugreisen, mit nicht wirklich radikaler Veränderung des eigenen Lebensstils im Sinne einer massiven Verringerung des ökologischen Fußabdrucks, mit Beschwichtigungen und Hinweisen auf das politisch Machbare und Mögliche – kurz: mit Realpolitik. Selbst Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen antwortete im März 2022 nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine auf die Frage, ob Sicherheit nun wichtiger sei als Klimaschutz und Kohlekraftwerke vielleicht sogar weiterlaufen müssten: "Im Zweifel ist das so."

Was bedeutet dies für die politische Auseinandersetzung? Braucht es möglicherweise doch eine Radikalisierung des politischen Diskurses, um Klimaschutz stärker zu priorisieren? Und wohin könnte dies führen? Auch wenn es etwas weit hergeholt erscheint und für manche provokant klingen mag, könnte ein vergleichender Blick auf die Radikalisierung von Teilen der Studentenbewegung Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre weiterhelfen.

Radikalisierung als Notwehr

Selbstverständlich unterscheiden sich die "Fridays for Future"-Bewegung und Greta Thunberg grundlegend von der "Roten Armee Fraktion" (RAF) und ihrer Protagonistin Ulrike Meinhof – und beide Bewegungen und Personen in einem Atemzug zu nennen, kann Missverständnisse erzeugen, die es unbedingt zu vermeiden gilt. Bei einer vergleichenden Betrachtung geht es mithin ausschließlich um die Zuspitzung eines Argumentes um der Klarheit des (zugespitzten) Argumentes willen. Was bei beiden Frauen jedoch in ähnlicher Weise radikal war und ist, ist ihre Wut, ihr Ansatz, Panik zu verbreiten und damit die gesamte politische Klasse auf die Anklagebank zu setzen. Doch wer wollte zumindest Greta Thunberg und ihrer Generation dies vorwerfen, angesichts der eindeutigen Erkenntnisse über den Zusammenhang unserer Lebensweise mit der Zukunftsfähigkeit des globalen Ökosystems?

Die Tragik der Ulrike Meinhof lag nicht allein darin, dass eine angesehene Journalistin und ein Mitglied der Hamburger Gesellschaft für sich Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung wählte und zu einer führenden Figur der Terrorgruppe RAF wurde – die Tragik lag vor allem darin, dass sie das Land, in dem sie lebte, vollkommen falsch beurteilt hat. Für sie und andere stand die Bundesrepublik Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre unmittelbar vor dem Rückfall in den Faschismus. Auschwitz war nicht nur die moralische Bankrotterklärung der eigenen Elterngeneration, sondern auch unbedingte Verpflichtung der eigenen Generation, eine Wiederholung von so etwas mit allen Mitteln zu verhindern. Der Schritt von den Notstands- zu neuen Ermächtigungsgesetzen war aus dieser Sicht nur ein kleiner, der Übergang vom "Stürmer" zur "Bild" nur ein gradueller. Wer glaubt, dass ein neuer Faschismus unmittelbar bevorsteht, dem ist jedes Mittel recht – auch Gewalt. Natürlich war diese Gesellschaftsanalyse nicht richtig, und viele, auch linke Intellektuelle verstanden und äußerten das – vom Schriftsteller Heinrich Böll über den Politologen Wolfgang Abendroth zum Philosophen Jürgen Habermas. Aber im geschlossenen Weltbild der RAF war die eigene Gewalt eine präventive Notwendigkeit, um Schlimmeres zu verhindern – ein tragischer Irrtum, der viele Menschenleben gekostet hat.

Setzen wir dies nun ins Verhältnis zur heutigen Protestgeneration. Wenn der Politikwissenschaftler und Aktivist Tadzio Müller in einem "Spiegel"-Interview ausführt, der Gesellschaft drohe Gewalt und Sabotage, wenn friedlicher Protest ohne Wirkung bliebe, dann läuten alle Alarmglocken. Dabei ist seine Ausgangsüberlegung durchaus nachvollziehbar, wenn er sagt, dass der etablierte Mechanismus einer Demokratie nicht mehr funktioniere: "Protestbewegungen lenken als Feuermelder die Aufmerksamkeit auf ein Thema, verändern die öffentliche Meinung, und dann muss Politik handeln. Aber sie handelt nicht. Der Mechanismus ist kaputt." Es sei daher legitim, Dinge kaputt zu machen – ein Gaskraftwerk zu sabotieren oder Autos zu zerstören sei mittlerweile Notwehr. "Ein Großteil der Bewegung wird Angst bekommen und friedlich werden. Ein kleiner Teil wird in den Untergrund gehen." Wer Klimaschutz verhindere, schaffe "die grüne RAF. Oder Klimapartisanen. Oder Sabotage for Future. Wie auch immer sie sich dann nennen."

In diesem Zusammenhang lohnt sich auch der Blick auf die jungen AktivistInnen, die im Frühjahr 2022 in zahlreichen deutschen Städten unter dem Namen "Aufstand der letzten Generation" mit Hungerstreiks, Blockaden, Sabotageaktionen und Ultimaten für radikalen Klimaschutz protestierten. Der Übergang von friedlichen Blockaden zum Aufruf zu Gewalt gegen Sachen wie Kohlekraftwerke ist dabei durchaus fließend. Der Ton in dieser Gruppe sei "ein ganz anderer als bei Fridays for Future", schreibt Politikredakteur Justus Bender von der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" und zitiert aus dem Ultimatum, das Bundeskanzler Olaf Scholz Anfang 2022 gestellt wurde: Werde er sich nicht äußern, wie er die Forderungen nach mehr Klimaschutz umzusetzen gedenke, "sehen wir uns gezwungen, mit zivilem Widerstand für das Überleben aller einzustehen. Wir werden in diesem Fall anfällige Infrastruktur wie Häfen und Flughäfen als Ausdruck unseres unverändert fossilen Alltags in diesem Land stören" und "zum Innehalten bringen". Dieser andere Ton wurde auch deutlich, als zwei AktivistInnen von "Die letzte Generation" im November 2021 Scholz zu einem öffentlichen Streitgespräch trafen. Dem vorausgegangen war ein 27-tägiger Hungerstreik, den sie am Tag vor der Bundestagswahl 2021 für die Zusage zu einem Treffen mit Scholz beendet hatten. Wer keine radikalmöglichen Klimamaßnahmen erlasse, der mache sich mitschuldig am Hungertod von Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen. Scholz versuchte den Blick auf das aus seiner Sicht Machbare zu lenken und warb für seine Vorstellungen vom Umbau zu einer klimaneutralen Industrie und Gesellschaft – stieß damit aber bei den AktivistInnen auf keinerlei Verständnis.

Dass es radikalen Gruppen gar nicht darauf ankommt, eine größere Öffentlichkeit für sich zu gewinnen, erläutert Tadzio Müller: "Die Öffentlichkeit wird das hassen, aber dass die Öffentlichkeit Klimaaktivismus gut findet, hat auch nichts gebracht." Zugleich äußert er recht unverblümt Verständnis für die Radikalisierung: "Die Regierung schnürt ein wirkungsloses Klimapaket, während Millionen auf der Straße sind. Das war wirklich der maximale Mittelfinger. Wenn die Gesellschaft weiter so macht, entscheidet sie sich für die Militanz, nicht diejenigen, die dann militant werden." Protestforscher wie Dieter Rucht weisen allerdings zurecht darauf, dass der traditionsreiche zivile Ungehorsam "mit friedlicher, geschweige denn unfriedlicher Sabotage nichts zu tun [hat]. Sabotage mag in autoritären und totalitären Systemen notwendig und legitim sein. Wer aber in demokratischen Systemen diese Grenze aufweicht, begibt sich auf eine abschüssige Bahn und wird nicht einmal eine starke Minderheit der Bevölkerung gewinnen können."

In ihrer Radikalität mögen die Aussagen von "Die letzte Generation" verstören, die Grundanalyse ist jedoch durchaus stimmig. Und hier liegt die Parallele zu den damals Radikalisierten: Wenn mein Überleben und das meiner ganzen Generation, ja der gesamten Menschheit akut gefährdet ist – dann habe ich das moralische Recht, tatsächlich alles zu unternehmen, um dies zu verhindern, also Widerstand zu leisten. Und wenn wir über Widerstand sprechen – wie weit sind wir von (der Sehnsucht nach) einer "Ökodiktatur" entfernt?

Auswege und Sackgassen

Es sind mithin Überlegungen dazu notwendig, ob beziehungsweise wie wir demokratisch aus diesem Dilemma herauskommen. Ein Versagen angesichts dieser zentralen Menschheitsaufgabe kann tatsächlich leicht zu Autoritarismus führen. Wie das politische System und die Gesellschaft auf den Klimawandel reagieren, entscheidet darüber, ob die Demokratie als Modell auch angesichts der Katastrophe funktioniert. Doch was wäre anderes denkbar als das Ringen um Mehrheiten im demokratischen Diskurs?

Das demokratische politische System sollte auf jegliche Gedankenspiele in Richtung einer wirklichen "Ökodiktatur" souverän reagieren. Und das sympathisierende Umfeld der Klimabewegung muss frühzeitig – und deutlich früher als dies das linksliberale Umfeld der ersten Generation der RAF getan hat – klarmachen, dass Gewalt kein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung ist. Denn die autoritäre Durchsetzung kompromissloser Klimapolitik, geschweige denn die Errichtung einer entsprechenden Diktatur würde unsere Gesellschaft zerreißen, Generationen gegeneinander ausspielen und viele unschuldige Opfer fordern. Die Chance, dass sie zur notwendigen Umkehr in der Klimapolitik führen würde, wäre zudem verschwindend gering.

Die Antwort auf gegenwärtige Radikalisierungstendenzen ist mithin eine entschlossene Realpolitik. So spricht sich auch der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Ottmar Edenhofer, klar für die Wahrung demokratischer Standards aus: "Wir können nur ohne Ökodiktatur das Klima retten. Denn Diktaturen können nicht wirklich lernen. Lernen und Innovationen sind aber entscheidend, um die Wende zu einer postfossilen Gesellschaft und Industrie hinzubekommen. Demokratie und Marktwirtschaft sind große Problemlösungsinstitutionen. Es gilt das Prinzip von Versuch und Irrtum. Es müssen alle mitgenommen werden. Das bekommt kein Diktator hin."

Zugleich ginge es fehl, zu behaupten, das politische System Deutschlands sei außerstande, auf diese Herausforderungen zu reagieren. So hat das Bundesverfassungsgericht im März 2021 entschieden, dass die Regelungen des Klimaschutzgesetzes von Dezember 2019 über die nationalen Klimaschutzziele insofern mit dem Grundgesetz unvereinbar seien, als hinreichende Maßgaben für die Reduktion der Treibhausgasemissionen ab dem Jahr 2031 fehlten. Dies verletze die Grundrechte kommender Generationen. Die schwarz-rote Bundesregierung nahm diese Entscheidung und die gleichzeitige Verschärfung der Klimaziele auf EU-Ebene durch den "Green Deal" zum Anlass, das Klimaschutzgesetz noch vor der Bundestagswahl 2021 zu überarbeiten. Eine Diskussion über die erforderlichen Instrumente wollte und konnte die scheidende Bundesregierung freilich nicht mehr liefern. Ob diese Ziele mit den von der neuen Ampel-Bundesregierung beschlossenen beziehungsweise geplanten Maßnahmen erreicht werden können, ist allerdings ungewiss.

Ebenso ungewiss ist, ob die Gesellschaft die sicher einschneidenden Maßnahmen mittel- bis langfristig akzeptieren wird und ob im demokratischen Prozess abermalige Veränderungen, in die eine oder andere Richtung, vorgenommen werden müssen. Es wird insofern insbesondere darauf ankommen, dass gesellschaftliche AkteurInnen ein Meinungsklima befördern, in dem auch drastische politische Entscheidungen mitgetragen werden. Die Bewährungsprobe für demokratische Politik steht mithin noch aus.

Dabei werden aller Wahrscheinlichkeit nach noch schwerste Dilemmata zu bewältigen sein: Die Realpolitik stiehlt sich gerne mit dem Aphorismus aus der Debatte: "Politik ist die Kunst des Möglichen". Wenn aber die Analyse der Wissenschaft stimmt und die Apokalypse in wenigen Jahren unumkehrbar sein wird, dann ist das Mögliche schlicht nicht genug. Wir brauchen daher das Unmögliche, das Radikale, das Systemverändernde. Wenn die demokratische Politik dazu nicht in der Lage ist, dann werden andere Wege genommen, und der Weg in die "Ökodiktatur" wäre vorgezeichnet. Ein erster Schritt in eine solche wäre, Gewalt in dieser Frage als gutgemeinte und daher legitime Form des Protests, vielleicht sogar als notwendigen Anstoß für wirkliche Verhaltensänderungen stillschweigend zu akzeptieren oder zumindest gedanklich zu tolerieren. Das wäre die Bankrotterklärung einer sich als demokratisch verstehenden Gesellschaft, auch wenn richtig bleibt, dass die anstehende Grundfrage in erster Linie lautet, wie wir die Klimakatastrophe verhindern – und nicht die Radikalisierung der Klimaschutzbewegung das Hauptproblem ist.

Aus dem Recht der Jüngeren, radikal zu sein, erwächst angesichts der dramatischen Lage gerade für die Älteren die Verpflichtung, radikal anders auf den Klimawandel zu reagieren. Es wird aber keinen anderen Weg zum Erfolg geben, als die Klimakrise mit friedlichen Mitteln und innerhalb der demokratischen Spielregeln zu bekämpfen – dies aber entschlossen.

Weitere Inhalte

ist Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Externer Link: http://www.johannes-varwick.de