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Informationen zur politischen Bildung Nr. 351/2022

Das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes

Till Patrik Holterhus

/ 39 Minuten zu lesen

Die einzelnen Elemente des im Grundgesetz verankerten deutschen Rechtsstaatsprinzips belegen, dass sich die Bundesrepublik Deutschland der Idee der Rechtsstaatlichkeit verschrieben hat.

Vom 6. Februar 1919 bis zum 21. Mai 1920 tagt die Weimarer Nationalversammlung und legt die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Weimarer Republik als erste Demokratie auf deutschem Boden fest. (© akg-images|akg-images)

Wie eine Vielzahl anderer Staaten, hat sich die Bundesrepublik Deutschland entschieden, ihr Gemeinwesen nach der Idee rechtsstaatlicher Ordnung zu organisieren. Deutschland ist also ein Rechtsstaat. Aber was bedeutet das konkret? Den zentralen Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage bildet die deutsche Verfassung, also das Grundgesetz, das die Bundesrepublik Deutschland auf eine rechtsstaatliche Grundordnung festlegt.

Historische Ausgangspunkte

RECHTSSTAAT – Ohne Gesetze geht nichts!

Die Geschichte der deutschen Rechtsstaatlichkeit beginnt allerdings keineswegs erst mit der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland von 1949. Vielmehr lassen sich ihre heute im Grundgesetz fortwirkenden Ursprünge bis in die liberalen Diskurse über das richtige Maß von Herrschaftsgewalt im späten 18. und 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Damit soll nicht gesagt werden, dass es einzelne Ansätze rudimentärer rechtsstaatlicher Ordnung nicht auch bereits zuvor gegeben hat, etwa in den mittelalterlichen deutschen Herzogtümern und Königreichen. Als staatstheoretisches Gesamtkonzept der Begründung und Begrenzung tritt die Rechtsstaatlichkeit im deutschen Kontext jedoch erst ab dem Ende des 18. Jahrhunderts in Erscheinung.

(© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 128 010)

Einen wichtigen Ausgangspunkt bilden dabei die nordamerikanische (1773–1783) und die Französische Revolution (1789–1799). Inspiriert von den freiheitlichen Leitgedanken der Revolutionen und deren sich in der Staatsorganisation deutlich niederschlagenden Folgen, wandten sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch deutsche Staatsdenker der Rechtsstaatsidee zu. Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit den absolutistischen Herrschaftsordnungen des 18. Jahrhunderts wurde die Rechtsstaatlichkeit dabei vor allem als Garantie bürgerlicher Freiheit gegenüber den schrankenlosen Zugriffen des Staates verstanden. Eine wesentliche Grundlage bildete das aufklärerische Vernunftdenken des deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724–1804). Der Rechtsstaat sei ein Staat, in dem die Vernunft herrsche, nicht die Religion oder der bloße Wille des Herrschers. Nach Ansicht des Staatsrechtlers Robert von Mohl (1799–1875) – der als Begründer des deutschen Begriffs "Rechtsstaat" gilt – sollten in der rechtsstaatlichen Ordnung vor allem bürgerliche Freiheiten sowie die liberalen, nationalen und sozialen politischen Werte des deutschen Vormärz gelten. Mit dem Scheitern der Märzrevolution 1848 ebbte diese starke politische Aufladung der Rechtsstaatsidee allerdings zunächst wieder ab. In der Folge hatten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu alle deutschen Staaten Verfassungen eingeführt, in denen sich zahlreiche Forderungen der bürgerlichen Rechtsstaatsbewegung bereits in Ansätzen wiederfanden – allen voran das Großherzogtum Baden und das Königreich Württemberg.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wich das bürgerliche Verständnis der Rechtsstaatlichkeit einer eher formalen Betrachtungsweise, die sich vor allem auf die Funktionsfähigkeit, die Rechtsbindung und die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung konzentrierte. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt im Deutschen Kaiserreich (1871–1918) mit der Umschreibung des Rechtsstaats als "Staat des wohlgeordneten Verwaltungsrechts", wie ihn der Rechtswissenschaftler Otto Mayer (1846–1924) seinerzeit nannte. Gerade in diesem formalen Sinne zeigte sich das als konstitutionelle Monarchie verfasste Kaiserreich in einer Gesamtschau der deutschen Landesverfassungen und der Reichsverfassung von 1871 in weiten Teilen bereits als rechtsstaatlich organisiert. So existierten nicht nur eine effektive Rechtsordnung und eine äußerst funktionsfähige öffentliche Gewalt, sondern auch Ansätze von Gewaltenteilung, der Bindung öffentlicher Gewalt an das Recht und einer unabhängigen Justiz. Diese frühen rechtsstaatlichen Strukturen des Kaiserreichs konnten sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in der Weimarer Republik (1918–1933) zu einem vergleichsweise hohen Niveau an Rechtsstaatlichkeit fortentwickeln und weiter verdichten.

Ein vorerst jähes Ende fand die deutsche Rechtsstaatlichkeit im Nationalsozialismus (1933–1945). Ausgehend vom Ermächtigungsgesetz, das die Grundsätze der Gewaltenteilung der Weimarer Republik vollends zerstörte, entledigte sich das nationalsozialistische Willkürregime – auch unter willfähriger Unterstützung des Nationalsozialisten und "Kronjuristen des Dritten Reichs" Carl Schmitt (1888–1985) – schließlich sämtlicher rechtsstaatlicher Begrenzungen.

QuellentextZur Person Carl Schmitt

Er war Staatsrechtler in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, der auch als politischer Philosoph gehandelte Carl Schmitt (1888–1985). An seiner Person scheiden sich bis heute die Geister. Er gilt als Kronjurist des "Dritten Reiches", als karrieristischer und einflussreicher Juraprofessor und Gutachter, der sowohl das Vorgehen der Nazis während des Röhm-Putsches als auch die "Nürnberger Rassegesetze" rechtfertigte. Nach dem Krieg war er Persona non grata, Prototyp des gewissenlosen Wissenschaftlers, zumal er an seinem rabiaten Antisemitismus festhielt.

Im Unterschied zu vielen NS-Juristen wurde er nicht nahtlos in den akademischen Betrieb der Bundesrepublik übernommen. Dennoch waren die juristischen Väter des Grundgesetzes zu einem nicht geringen Teil seine Schüler, ebenso Verfassungsrichter; die Begriffe "wehrhafte Demokratie" und "Verfassungswirklichkeit" gehen auf seinen Einfluss zurück. Seine Theorien bilden eine wichtige Grundlage für rechte wie linke Intellektuelle. Schmitts Denken scheint eine Grundmelodie der Regierungspraxis moderner, auch (post-)demokratischer Staaten zu sein. […]

Carl Schmitt hatte bis zum Schluss auf der juristischen Ebene die Weimarer Republik verteidigt und sogar ein Verbot der NSDAP betrieben. Doch nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler trat er nicht nur in dessen Partei ein, sondern arbeitete mit Hermann Göring und Roland Freisler, Hitlers späterem Blutrichter, zusammen.

Carl Schmitt bekleidete in der gleichgeschalteten Nazi-Justiz mehrere hohe Ämter. Er feierte die Ermordung der SA-Kader im sogenannten Röhm-Putsch und er war ein geradezu paranoider Judenhasser. Nach Kriegsende internierten und verhörten ihn die US-Behörden. Sie wollten ihn in Nürnberg als Kriegsverbrecher vor Gericht stellen. Zu einer Anklage kam es nicht. Doch da sich Carl Schmitt weigerte, sich seiner Verantwortung für die Nazi-Diktatur zu stellen, wurde er nicht in den juristischen Lehrbetrieb der Bundesrepublik Deutschland übernommen. […]

Im 21. Jahrhundert bilden die Schriften Carl Schmitts die ideologische Grundlage der "Neuen Rechten" mit Denkern wie Alain de Benoist oder Pierre Krebs. Aber auch im linken Spektrum finden sich Schmitt-Epigonen: die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, der Politiker Joschka Fischer oder der italienische Philosoph Giorgio Agamben.

Was den umstrittenen Staatsrechtler für die unterschiedlichsten politischen Lager bis heute anschlussfähig macht, ist eine Begriffsscheidung, die in die Ideengeschichte einging. […]

Die Freund-Feind-Theorie: Damit hatte Carl Schmitt das Betriebs- und Funktionsgeheimnis des modernen Staates formuliert. Nicht als Forderung, sondern als Beschreibung einer idealen Form tiefgreifender Machtsicherung – unabhängig davon, um welche Art von Staat es sich dabei handelt. Primat der Politik, nicht des Rechts, so Carl Schmitt, ist die Bedingung dafür, dass ein Staat sich gegen seine Gegner behaupten kann. […]

Politik kann nur existieren, wenn die Möglichkeit besteht, einen Feind zu erkennen. Staatliche Ordnung genießt dabei absolute Priorität vor der rechtlichen. Konkret bedeutet das: Zum Zweck der Sicherheit des Staates kann eine Verfassung zeitweise gebrochen oder suspendiert werden.

Carl Schmitts Freund-Feind-Konzeption entstand vor der Nazi-Diktatur, sie ist also nicht als Gebrauchsanweisung zur Installation einer Gewaltherrschaft zu verstehen. Schmitt ging es vielmehr darum, in den unsicher werdenden politischen Verhältnissen der Weimarer Republik die Rolle des Staates zu stärken. Sein staatsdienender Etatismus und seine Treue zur Verfassung gingen weit genug, dass er bereits 1932 Pläne ausgearbeitet hatte, mit denen eine zeitlich begrenzte legale Diktatur des Reichspräsidenten errichtet werden sollte. So sollten – nach Schmitt – Verfassung und Demokratie geschützt und die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten verhindert werden. […]

Unter dem Titel "Der Führer schützt das Recht" hatte Carl Schmitt am 1. August 1934 in der gleichgeschalteten "Deutschen Juristen-Zeitung" die formalrechtliche Begründung für das Vorgehen Hitlers gegen Ernst Röhm und die SA nachgeliefert:

"Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Missbrauch, wenn er im Augenblick kraft seines Führertums als Oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft. […] Der wahre Führer ist immer auch der Richter. […] Die Tat des Führers […] war echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz." […]

Carl Schmitts Schriften "Der Hüter der Verfassung" und "Der Begriff des Politischen" erschienen zu einem Zeitpunkt, als die Weimarer Republik nur noch durch Notverordnungen und vom Reichspräsidenten ernannte Kanzler regiert werden konnte. Adolf Hitler war der letzte in dieser Reihe. Diese Zeit zeichnete sich auch dadurch aus, dass der Staat sein Heil in der Stärkung seiner Exekutivgewalt und einer Aufforstung polizeilicher Maßnahmen suchte. Flankiert wurde das durch eine antiparlamentarische Rhetorik, die den Reichstag als Quatschbude denunzierte, woran auch Carl Schmitt nicht unbeteiligt war. […]

Carl Schmitt machte sich zum Komplizen einer verbrecherischen Diktatur. Zum einen, weil er ein skrupelloser Karrierist war. Zum anderen aber, weil er mehr als einmal der Weimarer Republik die letzte Ölung verabreicht hatte und nun für sich die Chance sah, seinen idealen autoritären Staat mit aufzubauen. […]

Michael Reitz, "Versuch über das Denken Carl Schmitts", in: Deutschlandfunk vom 24. Februar 2019

Anders als teilweise behauptet, bereitete die bis zu diesem Zeitpunkt vorherrschende eher formale Konzeption der Rechtsstaatlichkeit (der Weimarer Republik) dabei keineswegs den Nährboden der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Vielmehr war die Diktatur der Nationalsozialisten zu keinem Zeitpunkt auch nur mit den grundlegendsten Anforderungen der rechtsstaatlichen Idee (insbesondere der Allgemeingültigkeit der Rechtsordnung, der Rechtsbindung öffentlicher Gewalt, der Gewaltenteilung oder des effektiven Rechtsschutzes) in Einklang zu bringen. Erst nach der Befreiung Deutschlands im Jahr 1945 konnte ein Wiederaufbau der Rechtsstaatlichkeit im besetzten Deutschland und ab 1949 dann auch in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland beginnen.

Für die Deutsche Demokratische Republik (DDR, 1949–1990) war dies jedoch nicht der Fall. Obwohl bis heute vereinzelt der Mythos von einer rechtsstaatlichen DDR aufrechterhalten wird, gewährleistete das diktatorische Herrschaftssystem der DDR zentrale Aspekte der Rechtsstaatlichkeit gerade nicht. Zwar sah die Verfassung der DDR vereinzelt rechtsstaatliche Elemente vor. Die Wirklichkeit wurde diesen Ansprüchen jedoch nicht gerecht. Entsprechend dem Selbstverständnis der DDR als Arbeiter-und-Bauernstaat, der Staat und Gesellschaft als Einheit begriff, galten Konflikte zwischen der Staatsgewalt und ihren Bürgerinnen und Bürgern von vornherein als ausgeschlossen. In der Logik des SED-Regimes waren etwa eine Gewaltenteilung oder eine verwaltungs- und verfassungsgerichtliche Kontrolle der Staatsgewalt durch eine unabhängige Justiz überflüssig.

QuellentextDie DDR war kein Rechtsstaat

In der DDR fehlten bereits die formalen Elemente des Rechtsstaates wie die Gewaltenteilung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Bindung der Verwaltung an die gültigen Gesetze) und die Unabhängigkeit der Gerichte. Der Staatsaufbau und das Rechtswesen der DDR entsprachen allein aus diesem Grund nicht rechtsstaatlichen Standards. Zudem kann ein Staat, der – wie die DDR – auf seine Bürger schießen lässt oder sie in Gefängnisse sperrt, weil sie ihn verlassen wollten, kein Rechtsstaat sein. […]

Die Verfassung der DDR stellte klar, dass der sozialistische Staat instrumentalen Charakter in den Händen der Arbeiterklasse unter Führung der SED besaß. In konsequenter Weiterentwicklung des Gedankens, dass das Recht der zum Gesetz erhobene Wille der herrschenden Klasse sei, wurde das sozialistische Recht der DDR zum Ausdruck der Macht der herrschenden "Arbeiterklasse" und ihrer Verbündeten, die sie durch ihr Hauptinstrument, den Staat, verwirklichte. […]

Die Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches waren anfangs in der DDR übernommen worden. 1976 wurde es dann durch das Zivilgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik ersetzt. Eigentums-, Patent- und Erbrecht waren eng begrenzt, das Vertragsrecht war der Planwirtschaft verpflichtet.

Die erste Verfassung aus dem Jahre 1949 enthielt neben dem Grundsatz des föderalen Aufbaus des Staates noch bürgerlich-demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien wie die Gewaltenteilung oder die Unabhängigkeit der Gerichte und der Rechtspflege sowie Grundrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit oder Auswanderungsfreiheit. Einzelne Elemente davon blieben zwar auch noch in der sozialistischen Verfassung der DDR von 1968 erhalten, galten in der Verfassungswirklichkeit aber nicht. Die für einen Rechtsstaat unabdingbare Unabhängigkeit der Gerichte war nicht gegeben. Das Rechtswesen der DDR entsprach damit nicht rechtsstaatlichen Standards. In der DDR waren Rechtsanwälte nicht unabhängig vom Staat. Sie hatten kein Recht auf Akteneinsicht und bekamen – wie die Richter – lediglich einen zusammenfassenden Bericht. Vor allem bei politischen Prozessen griff die SED-Führung außerdem oft direkt in Verfahren ein und legte Urteile fest bzw. korrigierte diese, dann meist im Sinne einer Strafverschärfung.

Politische Häftlinge gab es in der DDR-Terminologie nicht: Sie wurden kriminalisiert bzw. als "normale" Straftäter angesehen. Bei Anklagen und Urteilen herrschte vielfach Willkür. Typische politische Delikte waren "Sabotage", "staatsfeindliche Hetze" oder "Rowdytum". Nicht selten gab es bei den Verfahren gar keine Beweise, und die Urteile trafen solche, die mit den ihnen vorgeworfenen "Taten" gar nichts zu tun hatten. Die Haftstrafen waren meist drakonisch und reichten von langen Gefängnisaufenthalten bis zu Lagerhaft in der Sowjetunion. […]

Art. 32 der Verfassung gewährleistete die Freizügigkeit, d. h. das Recht eines jeden Bürgers, innerhalb des Staatsgebiets der DDR und im Rahmen ihrer Gesetze seinen Wohnsitz oder zeitweiligen Aufenthalt frei zu wählen und sich innerhalb des Staatsgebiets aufzuhalten. Dessen ungeachtet war die DDR nach Art. 12 Abs. 2 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966, den die DDR am 14. Januar 1974 ratifizierte und der am 23. März 1976 in Kraft trat, völkerrechtlich verpflichtet, ihren Bürgern die Ausreise zu gestatten. Dieser Verpflichtung kam die DDR mit folgender Begründung nicht nach: "Die Auswanderung ist ein typisches Produkt der Krisenwirtschaft kapitalistischer Staaten, in der DDR gibt es keine soziale Basis für ein Grundrecht auf Auswanderung. Die Entscheidung über Auswanderungsanträge liegt im freien Ermessen der Verwaltungsbehörden, die dabei die Klassenauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus zu berücksichtigen haben, sie stellen in Rechnung, dass die Auswanderung in einen imperialistischen Staat bedeutet, Menschen einem System auszuliefern, das sie ausbeutet und zwingt, einer aggressiven Politik zu dienen, die ihre Existenz gefährdet und sich gegen den Sozialismus richtet."

Adenauer Campus, DDR-Tutorium, @ Konrad-Adenauer-Stiftung 2021;
Externer Link: www.adenauercampus.de/ddrtutorium/mythos-und-wirklichkeit/die-ddr-war-ein-rechtsstaat
Externer Link: www.adenauercampus.de/staat-und-gesellschaft/justiz

Verfassungsrechtliche Grundlagen

In der heutigen, mit der ehemaligen DDR vereinten Bundesrepublik Deutschland spielt die Verfassung für die Rechtsstaatlichkeit eine entscheidende Rolle. Als ranghöchste Rechtsquelle der Bundesrepublik Deutschland regelt das Grundgesetz (GG) in verbindlicher Weise die Grundordnung des Staates und dabei insbesondere auch die wesentlichen Prinzipien der deutschen Staatsstruktur.

(© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 60 040)

In Artikel 20 Absatz 1 GG legt die Verfassung etwa ausdrücklich fest, dass die Bundesrepublik Deutschland republikanischen und demokratischen Grundsätzen folgt, in der Form eines föderalen Bundesstaates organisiert ist und sich als Sozialstaat um die soziale Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger bemüht: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat". Bei diesen sogenannten Staatsstrukturprinzipien handelt es sich um das Republikprinzip, das Demokratieprinzip, das Bundesstaatsprinzip und das Sozialstaatsprinzip. Hinzu kommt die hier besonders interessante verfassungsrechtliche Entscheidung für die Rechtsstaatlichkeit. Auch dieses fünfte Staatsstrukturprinzip – das Rechtsstaatsprinzip – ist im Grundgesetz verankert. Gemeinsam bilden diese Staatsstrukturprinzipien das Fundament des liberalen Ideals eines freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens der Bundesrepublik Deutschland.

Anders als die übrigen Staatsstrukturprinzipien wird das Rechtsstaatsprinzip im Grundgesetz jedoch überraschenderweise nicht ausdrücklich genannt. Zwar kommt der Begriff der Rechtsstaatlichkeit im Grundgesetz vor. Ausdrücklich spricht die deutsche Verfassung von Rechtsstaatlichkeit jedoch immer nur dort, wo es ihr gerade um andere Herrschaftsordnungen geht. So formuliert das Grundgesetz etwa in Bezug auf die deutschen Länder (Art. 28 Abs. 1 GG), die Europäische Union (Art. 23 Abs. 1 GG) oder die internationale Strafgerichtsbarkeit (Art. 16 Abs. 2 GG) explizit die Anforderung deren jeweiliger Rechtsstaatlichkeit, nicht aber in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland selbst.

Doch obwohl es an dieser ausdrücklichen Nennung fehlt, bestehen keine Zweifel daran, dass auch die Rechtsstaatlichkeit ein wesentliches Staatsstrukturprinzip der Bundesrepublik Deutschland ist. Die verfassungsrechtliche Festlegung auf eine rechtsstaatliche Ordnung ergibt sich dabei aus verschiedenen verfassungsrechtlichen Normen, die den Begriff der Rechtsstaatlichkeit zwar nicht explizit nennen, wohl aber ihre einzelnen Elemente zur Grundlage der Organisation des deutschen Staates machen. Von besonderer Bedeutung ist Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 GG.

Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 GG
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

Dieser Art. 20 Abs. 2 und 3 GG – der seinem Wortlaut nach eigentlich "lediglich" die rechtsstaatlichen Elemente der Gewaltenteilung und der Rechtsbindung aller öffentlichen Gewalt regelt – wird als zentraler Standort des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips in der deutschen Verfassung verstanden.

Als allgemeines Prinzip gehört die rechtsstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland damit in ihrem Kern sogar zu den ganz besonderen, weil gänzlich unabänderbaren Teilen des deutschen Verfassungsrechts. Gemäß Art. 79 Abs. 3 GG dürften die in Art. 20 GG geregelten Staatsstrukturprinzipien auch durch eine Verfassungsänderung nicht angetastet werden ("Ewigkeitsklausel"). Solange es also das Grundgesetz gibt, kann die rechtsstaatliche Ordnung nicht auf verfassungskonforme Weise aufgehoben werden.

Art. 79 Abs. 3 GG
(3) Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.

QuellentextEwigkeitsklausel, Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht

[…] Verfassungen werden von ihren Müttern und Vätern in der Absicht geschaffen, einen verlässlichen Rechtsrahmen für lange Epochen zu gewährleisten. Das Grundgesetz enthält in Artikel 79 für bestimmte Kernbereiche (Grundsätze der Artikel 1 und 20) sogar eine sogenannte Ewigkeitsklausel, die Änderungen ausschließt. Zulässige Änderungen der Verfassung sind durch zwingend notwendige Zwei-Drittel-Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat erschwert.

Andererseits verändern sich moderne Gesellschaften auf allen Lebensgebieten mit großer Geschwindigkeit. Das gilt sowohl für Lebensumstände (Technologien, ökonomische und gesellschaftliche Strukturen) als auch für Wertvorstellungen. Das hat dazu geführt, dass das Grundgesetz schon bis 2009 insgesamt 57 Mal formell geändert oder ergänzt worden ist. Die Zahl der tatsächlichen Verfassungsänderungen ist damit nicht erfasst. Viele große und kleine Umwälzungen werden von den zuständigen Staatsorganen zunächst nicht als solche erkannt oder sollen auch nicht ins öffentliche Bewusstsein treten. So etwa die zunehmenden Normsetzungen der obersten Bundesgerichte und der damit verbundene schleichende, aber unbestreitbare Wandel der Bundesrepublik von einem Gesetzesstaat in einen Richterstaat. Das Bundesverfassungsgericht wird schon bei der Wahrnehmung seiner legalen Kompetenzen zutreffend als ein ständiger Ausschuss zur Fortbildung und Ergänzung des Grundgesetzes verstanden.

Die unvermeidbare Fortbildung des Rechts durch die Richter ist eine legitime Daueraufgabe der Justiz. […] Dabei sind die Grenzen zwischen richterlichen Fortbildungen und Änderungen der Verfassung unscharf. Bei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist zu unterscheiden zwischen Entscheidungen zur (notwendigen) Fortbildung des Grundgesetzes in Fragen, die vom Verfassunggeber nicht geregelt wurden oder werden konnten, und solchen, in denen das Bundesverfassungsgericht von den im Grundgesetz festgelegten Wertmaßstäben abweicht oder diese durch andere ersetzt, also die Verfassung ändert. Diese Unterscheidung ist für die Herrschaft über den Inhalt des Grundgesetzes von grundlegender Bedeutung. […]

Das Grundgesetz schließt […] eine Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur Änderung des Grundgesetzes aus. Das entspricht der einmütigen Auffassung des Verfassunggebers. Das Bundesverfassungsgericht sollte ein Staatsorgan zum Schutze, nicht zur autonomen Änderung der Verfassung sein. Die Gegenmeinung müsste sich über den eindeutigen Wortlaut und den Normzweck des Artikels 79 hinwegsetzen. Eine weitere, ungleich höhere Schranke gegen Verfassungsänderungen durch das Bundesverfassungsgericht bildet Absatz 3 des Artikels 79. Danach ist jegliche Änderung des Grundgesetzes unzulässig, "durch welche die Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden". An Verfassungsänderungen durch das Bundesverfassungsgericht wären die Länder nicht beteiligt.

Über die Grenzen der Befugnisse des Bundesverfassungsgerichts zu autonomen verfassungsrechtlichen Normsetzungen ist schon in der Vergangenheit lebhaft diskutiert worden, besonders bei einer Reihe von Entscheidungen zu neuen "Grundrechten" (Informationelles Selbstbestimmungsrecht), zum Schutz der persönlichen Ehre (Artikel 5, Absatz 2) und zur Frage der Gleichstellung von Ehe und Familie (Artikel 6, Absatz 1) mit anderen Gemeinschaftsformen. Anlass dazu gaben auch Entscheidungen, die sich nicht darauf beschränkten, erlassene Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, sondern künftige zu erlassende Gesetze inhaltlich vorauszubestimmen. Die hinter den oft leidenschaftlich geführten Diskursen stehende Kernfrage lautet: Ist das Bundesverfassungsgericht als "Hüter der Verfassung" berechtigt, das Grundgesetz zu ändern?

Die Eidesformel der Verfassungsrichter lautet: "Ich schwöre, dass ich als gerechter Richter allezeit das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland getreulich wahren und meine richterlichen Pflichten gegenüber jedermann gewissenhaft erfüllen werde. So wahr mir Gott helfe." Die Wahrung des Grundgesetzes begründet und begrenzt die Kompetenzen des Gerichts. Bei manchen seiner Entscheidungen wird immer öfter gefragt: Ist das noch so, oder entwickelt es sich durch richterlich vorgenommene Verfassungsänderungen zum "Herrn über die Verfassung"?

[…] Das Bundesverfassungsgericht hat seine Funktion des "Hüters der Verfassung" nicht nur in Einzelfällen, sondern im Sinne einer Rollenveränderung zunehmend variiert und verlassen. Es ist auf dem Wege, die Verfassung als Motor gesellschaftlicher Veränderungen richterrechtlich zu "dynamisieren", umzugestalten und grundgesetzliche Garantien für obsolet zu erklären. Das Bundesverfassungsgericht wird so von einem Hüter der Verfassung zu einem im Grundgesetz nicht vorgesehenen Organ der Verfassungsänderung. […]

Der Verfasser ist emeritierter Professor für Rechtswissenschaft der Universität Konstanz.

Bernd Rüthers, "Wer herrscht über das Grundgesetz?", in: FAZ.NET vom 17. November 2013
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In seinen zentralen Zielen liegt das im Grundgesetz geregelte Rechtsstaatsprinzip der Bundesrepublik Deutschland nahe an der oben aus theoretischer Perspektive erörterten Rechtsstaatsidee. Dem Rechtsstaatsprinzip der deutschen Verfassung geht es im Kern um die Begründung und Begrenzung von Staatsgewalt zum Zweck einer freiheitlichen Gestaltung des deutschen Gemeinwesens. Auch die deutsche Verfassung belässt es nicht bei einem vagen Programmsatz, sondern versteht das Rechtsstaatsprinzip als eine Menge verschiedener einzelner Anforderungen an die Gestaltung der deutschen Herrschaftsordnung.

(© picture-alliance/dpa, dpa Grafik | dpa-infografik GmbH 102 998; Quelle: Bundesverfassungsgericht)

In der verfassungsrechtlichen Konstruktion finden sich diese einzelnen strukturellen Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips nicht allein in Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 GG, sondern zeigen sich in einer Vielzahl weiterer verfassungsrechtlicher Normen. Hinzu kommt, dass auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), welches in der Staatsorganisation der Bundesrepublik Deutschland für die Auslegung der Verfassung zuständig ist, in seiner Rechtsprechung der vergangenen 70 Jahre einige zusätzliche Aspekte des Rechtsstaatsprinzips entwickelt hat, die sich tatsächlich gar nicht explizit in der Verfassung finden. Für das häufig sehr knapp und abstrakt formulierte Verfassungsrecht ist das allerdings ein völlig üblicher (und sogar notwendiger) Vorgang.

Elemente des deutschen Rechtsstaatsprinzips

Eine effektive deutsche Rechtsordnung

Die rechtsstaatliche Organisation der Bundesrepublik Deutschland zeigt sich zuvorderst darin, dass das Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger durch Recht geregelt wird. Allem voran steht das Interner Link: deutsche Grundgesetz, das als ranghöchste Rechtsquelle nicht nur die Werteordnung und Organisation der Bundesrepublik Deutschland festlegt, sondern auch den Maßstab für die Gestaltung allen sonstigen ("einfachen") Rechts bildet. Auf dieser Grundlage regelt eine Vielzahl von Gesetzen sowohl die rechtlichen Beziehungen der Bürgerinnen und Bürger untereinander (Privatrecht) als auch ihr Verhältnis zum Staat, das heißt zur öffentlichen Gewalt (Öffentliches Recht).

So bestimmt im Bereich des Privatrechts das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), wie ein Kaufvertrag geschlossen wird, wer nach einem Verkehrsunfall Schadensersatz zu leisten hat, ob und wie ein Vermögen vererbt oder die Ehe geschlossen und wieder geschieden wird. Im Bereich des Öffentlichen Rechts regeln beispielsweise die Polizeigesetze, wann ein Polizeibeamter oder eine Polizeibeamtin eine verdächtige Person festnehmen darf, die baurechtlichen Gesetze bestimmen, unter welchen Bedingungen die Bauämter eine Baugenehmigung erteilen, und das Strafgesetzbuch (StGB) legt fest, welche Handlungen in der Bundesrepublik Deutschland mit Geld- oder Freiheitsstrafe geahndet werden. In ihrer weit über den eben genannten Umfang hinausreichenden Gesamtheit – zu der auch noch eine große Zahl von der Europäischen Union erlassener Rechtsnormen zählt – bilden diese Gesetze die deutsche Rechtsordnung. Diese geht dabei allen sonstigen, etwa sittlichen, moralischen oder religiösen Verhaltensregeln vor und gilt grundsätzlich für jeden und jede in gleichem Maße.

Beispiel "Ehrenmorde": In besonderem Maße stehen daher etwa sogenannte Ehrenmorde im Widerspruch zum deutschen Rechtsstaatsprinzip. Wenn eine andere Verhaltensordnung, nämlich ein archaisches und verfehltes Verständnis von (Familien-)Ehre, zur "Rechtfertigung" für die Tötung eines anderen Menschen (meist Frauen) angeführt wird, hat dies im Rechtsstaat keinerlei Bedeutung. Allein die deutsche Rechtsordnung bildet den Maßstab dafür, was im deutschen Staatsgebiet verboten und was erlaubt ist. Sogenannte Ehrenmorde sind nach deutschen Recht absolut verboten und werden im Regelfall als Mord mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet.

Beispiel Kirchenasyl: Ein weiteres Beispiel bildet das sogenannte Kirchenasyl. Wenn endgültig ausreisepflichtigen Menschen durch kirchliche Einrichtungen Zuflucht gewährt wird, so ändert jedenfalls der Umstand, dass es sich gerade um kirchliche Einrichtungen handelt, nichts daran, dass der weitere Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland rechtswidrig ist. Auch Akte christlicher Barmherzigkeit durch die Kirche dürfen nicht gegen das geltende Recht verstoßen.

QuellentextDie Grenze zwischen Recht und Moral

Am ersten Aprilwochenende [2022] liefen allerorten die Corona-Verordnungen der Bundesländer aus. […] Zahlreiche Grundrechtsbeschränkungen fallen zwar weg, doch offene Freude darüber zeigt kaum einer. In den Medien überwiegt die skeptische Einschätzung, die Lockerungen kämen zu früh oder zu unüberlegt. Der versprochene Basisschutz könnte sich als zu lasch entpuppen.

Das inzwischen ungewohnt anmutende Regelungsvakuum füllt sich allerdings in Windeseile. An die Stelle der nicht mehr vorgesehenen Pflichten und Verbote treten nahtlos "dringende Empfehlungen". […] So heißt es etwa an der Universität Münster, gemeinsam werde man ein wichtiges Instrument [das Maskentragen] weiter nutzen, das jeden vor einer Infektion schützen könne. Man wolle solidarisch mit allen sein, deren Wohlergehen von einem achtsamen Miteinander in der Gesellschaft abhänge. […]

[…]. Die Privatautonomie ermöglicht jedermann, seine Verträge nur mit demjenigen abzuschließen, mit dem er es möchte. Die Geschäftsinhaber können Masken also vorschreiben oder empfehlen. Kunden, die das nicht wollen, haben ihrerseits die Möglichkeit, in anderen Geschäften einzukaufen. Das sind die Spielregeln der Marktwirtschaft. Hier mag es Grenzen geben, zum Beispiel bei marktbeherrschender Stellung und bei sittenwidriger Diskriminierung. Im Ausgangspunkt beruht das Privatrecht aber auf privaten, subjektiven und nicht zu begründenden Entscheidungen. Das private Hausrecht erlaubt es, missliebige Besucher fernzuhalten.

Im Bereich des Staates ist das Problem grundsätzlich anders gelagert: Er ist verpflichtet, die freie Entfaltung der Persönlichkeit im Rahmen der geltenden Gesetze zu ermöglichen. Aber auch hier ist zu differenzieren. Öffentlich-rechtliche Museen und Konzerthäuser leben vom Publikum, das je nach Interesse freiwillig kommt. Bei Schulen und Universitäten jedoch ist das anders. Der Schulbesuch fußt auf der allgemeinen Schulpflicht. Die Universitäten sind als Körperschaften mitgliedschaftlich organisiert. Nicht nur Mitarbeiter, sondern auch Studenten sind Mitglieder der Hochschule. Zudem sind die Träger von Schulen und Universitäten auch Dienstherren und Arbeitgeber des dort beschäftigten Personals. Wenn hier die zuständigen Leitungsgremien dringende Empfehlungen veröffentlichen, handelt es sich um deutlich mehr als um eine unverbindliche Meinungsäußerung. Ein rechtlich erlaubtes Verhalten, also der Verzicht auf das Masketragen, wird vielmehr mit der vollen Autorität des hoheitlichen Leitungsorgans als rücksichtslos, gesundheitsgefährdend und unsolidarisch abgestempelt. […]

[…] An die Stelle des nicht mehr einschlägigen Rechts tritt nunmehr die herrschende Moral. Und genau hier liegt das Problem. Gegen Rechtspflichten kann man sich auf dem Rechtsweg wehren, im öffentlichen Recht insbesondere derjenige, der als Adressat von einem Befehl betroffen ist. Es gibt hierfür ein vorgeschriebenes Verfahren, mit dem sich die Rechtmäßigkeit obrigkeitlicher Anordnungen überprüfen lässt. Die hoheitlichen Empfehlungen hängen dagegen ganz bewusst im luftleeren Raum. Offiziell wird niemand zu etwas gezwungen, von Rechtspflicht und Zwang ist ausdrücklich nicht die Rede. Die Stimmung freilich, die solche Empfehlungen erzeugen, und die soziale Brandmarkung von Personen, die sich nicht im Sinne des Leitungsorgans verhalten, erzeugen einen Druck, der über die bei Ordnungsverstößen angedrohte Geldbuße erheblich hinausgeht. […]

An solchen Weichenstellungen ist Widerspruch in grundsätzlicher Weise geboten. Als Träger hoheitlicher Verwaltung sind Universitäten und Schulen wie alle Staatsorgane an Recht und Gesetz gebunden. Wenn sich Schüler, Studenten und das Lehrpersonal an die geltenden Vorschriften halten, steht es den öffentlich-rechtlichen Einrichtungen nicht zu, diese Verhaltensweisen als gut oder schlecht, anständig oder unanständig zu bewerten. Gesetzesgehorsam darf und muss der Staat in allen seinen Institutionen mit Recht jederzeit einfordern. Darüber hinausgehende Einstellungen, Meinungen und Lebensformen sind dagegen Privatsache. Hier eröffnet sich das Feld der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die jeder führen kann, wie es ihm oder ihr beliebt. Doch bleibt es dem Staat jederzeit verwehrt, für wohlfeiles Verhalten Kopfnoten zu verteilen.

Die Trennung von Recht und Moral gehört zu den großen Errungenschaften moderner freiheitlicher Rechtsordnungen. Ein sozialethisches Minimum darf der Staat rechtlich einfordern, so liest man es in den Lehrbüchern. Ansonsten hat jeder das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er sich an die geltenden Gesetze hält. Für die momentane Debatte bedeutet dies: Wenn die Maskenpflicht nicht mehr besteht, darf jeder sich in dieser Hinsicht verhalten, wie er es möchte. Andererseits hat jedermann das Recht, seine Mitmenschen für genau dieses Verhalten zu kritisieren, öffentlich anzuprangern und auf diese Weise eine zivilgesellschaftliche Diskussion anzustoßen. Der Staat selbst darf sich an dieser Meinungsbildung aber nicht beteiligen. Er ist vielmehr dafür zuständig, den einzelnen Bürgern die Wahrnehmung ihrer Freiheit im Rahmen des geltenden Rechts zu gewähren. […] Vermutlich bilden die Corona-Debatten lediglich die Spitzen des Problems. [...] Dahinter aber steht womöglich eine größere Verschiebung. Die Grenze zwischen Recht und Moral gerät seit Jahrzehnten unter Druck. Vielen fällt es schwer, die Meinungsneutralität des Staates nicht nur als rechtliche, sondern auch als moralische Errungenschaft zu verteidigen. Freiheitsrechte dienen aber gerade den Minderheiten, die sich gegenüber der moralisierenden Mehrheit auf die Unterstützung durch die staatliche Rechtsordnung verlassen dürfen. […]

Peter Oestmann, "Maskenmoral statt Maskenpflicht?", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. April 2022; © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

QuellentextRechtspositivismus vs. Naturrecht

Rechtspositivismus: Lehre, die die These vertritt, dass Recht und Moral streng getrennt werden sollten. Recht sei das, was der Gesetzgeber im vorgeschriebenen Verfahren als solches verabschiedet hat. Eine Beurteilung des Rechts an moralischen Maßstäben verbiete sich in modernen Gesellschaften, weil es keine einheitlichen oder gar homogenen Moralvorstellungen gebe. Verbindlichkeit beziehe das Recht dann aus der Legitimität seines Ursprungs, also regelmäßig aus den demokratischen Verfahren und aus der Garantie von Rechtssicherheit. Verbrechen von Diktatoren können strafrechtlich trotzdem verfolgt werden, auch wenn sie im Einklang mit "ihrem eigenen Recht" handelten, indem man explizit das Rückwirkungsverbot außer Kraft setzt.

Naturrecht: Lehre, die die These vertritt, dass man Recht und Moral nicht trennen könne. Etwas sei Recht oder Unrecht, weil es der Natur des Menschen bzw. der natürlichen Vernunft entspreche (deshalb auch "Vernunftrecht") bzw. widerspreche. Daher gebe es auch Recht, welches gelte, ohne dass es in einem Gesetz enthalten sein muss, z. B. die Menschenrechte. Das positive, in Gesetzen enthaltene Recht müsse zudem an der Moral gemessen werden. Nur Gesetze, die moralischen Ansprüchen genügen, könnten den Anspruch erheben, befolgt zu werden. Viele Gesetze und staatlich geförderte Handlungen im Nationalsozialismus waren nach dieser Position kein Recht, sondern Unrecht, weshalb z. B. die Nürnberger "Rasse"-Gesetze und die KZ-Morde niemals legitim sein können (Legitimität). Im Mittelalter galt die göttliche Ordnung als Maßstab des Rechts. Das N. ergab sich somit aus der gottgewollten Ordnung. In der Aufklärung erkannte man dann das Problem, den Inhalt des N. eindeutig, d. h. unabhängig von persönlichen Standpunkten, zu bestimmen. Weitgehende Einigkeit besteht aber bis heute hinsichtlich der auf dem Gedanken des N. beruhenden Radbruch’schen Formel […] ["Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als "unrichtiges Recht" der Gerechtigkeit zu weichen hat."]. Der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch hatte diese 1946 mit Blick auf den Nationalsozialismus entwickelt. […]

Stichworte Rechtspositivismus und Naturrecht, in: Lennart Alexy / Andreas Fisahn / Susanne Hähnchen / Tobias Mushoff / Uwe Trepte, Das Rechtslexikon. Begriffe, Grundlagen, Zusammenhänge, Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf. 2019

Als maßgebliche Verhaltensordnung spielt das Recht in der rechtsstaatlichen Ordnung für das gesellschaftliche Zusammenleben in der Bundesrepublik Deutschland eine besonders bedeutsame Rolle. Um seine korrekte Anwendung zu gewährleisten, wird das deutsche Recht an Universitäten (im Fach Jura) oder in verschiedenen Ausbildungsberufen gelehrt und erlernt. Als Organe der Rechtspflege wirken die im deutschen Recht ausgebildeten Bürgerinnen und Bürger dann unter anderem als Richterinnen, Anwälte, Staatsanwältinnen, Urkundsbeamte oder Gerichtsvollzieherinnen.

Anders als andere Elemente des deutschen Rechtsstaatsprinzips wird im Grundgesetz nicht explizit festgelegt, dass eine allgemeingültige und effektive Rechtsordnung existieren muss. Da das Grundgesetz selbst bereits Teil der deutschen Rechtsordnung ist, wäre dies auch paradox. Die Existenz einer deutschen Rechtsordnung ist daher nicht primär verfassungsrechtliches Erfordernis, sondern vielmehr logischer Ausgangspunkt aller Rechtsstaatlichkeit. Dies zeigt sich konkret etwa dort, wo der Wortlaut des Art. 20 Abs. 3 GG mit einer gewissen Selbstverständlichkeit von dem Vorhandensein einer "verfassungsmäßigen Ordnung" sowie der Existenz von "Gesetz und Recht" ausgeht.

Die deutsche Staatsgewalt und ihr Gewaltmonopol

In der Bundesrepublik Deutschland kommt die Rolle der im Rechtsstaat unbedingt erforderlichen institutionalisierten Herrschaft (öffentliche Gewalt) der deutschen Staatsgewalt zu. Aus rechtsstaatlicher Perspektive ist die deutsche Staatsgewalt dabei vor allem dafür zuständig, die deutsche Rechtsordnung zu setzen und durchzusetzen. Zur Staatsgewalt zählen alle auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene mit dieser Aufgabe befassten Stellen und Organe. Im Einzelnen offenbart sich die Staatsgewalt in einer Vielzahl unterschiedlicher Erscheinungsformen. Sie zeigt sich etwa als Bundes- oder Landesparlament, wenn sie ein neues Gesetz erlässt oder ein bereits bestehendes Gesetz abändert, als Polizeibehörde, wenn sie eine betrunkene Autofahrerin oder einen betrunkenen Autofahrer an der Weiterfahrt hindert, als Bürgeramt, wenn sie eine Meldebescheinigung ausstellt, als Finanzamt, wenn sie einen Steuerbescheid erlässt, oder als Gericht, wenn sie eine Diebin oder einen Dieb zu einer Freiheitsstrafe verurteilt oder einen Nachbarschaftsstreit um nächtliche Lärmbelästigung entscheidet.

Soweit erforderlich, kommt der deutschen Staatsgewalt dabei auch das Recht zu, die Rechtsordnung mit Zwang und letzten Endes auch mit Gewalt durchzusetzen. Wer sich weigert, eine Steuererklärung abzugeben, obwohl sie oder er dazu verpflichtet ist, kann vom Finanzamt mit einem Zwangsgeld belegt werden. Versuchen eine betrunkene Autofahrerin oder ein betrunkener Autofahrer entgegen polizeilicher Anweisung die Fahrt fortzusetzen, so können die anwesenden Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten letztlich auch körperliche Zwangsmaßnahmen anwenden, um die Betrunkene oder den Betrunkenen an der Weiterfahrt zu hindern. Treten eine verurteilte Diebin oder ein verurteilter Dieb ihre oder seine Freiheitsstrafe nicht freiwillig an, so kann sie oder er zwangsweise einer Justizvollzugsanstalt zugeführt werden.

Die deutsche Staatsgewalt ist dabei die einzige Instanz, der die Aufrechterhaltung und Durchsetzung der deutschen Rechtsordnung, insbesondere auch mit Zwangsmaßnahmen, obliegt. Sie allein verfügt also über das rechtsstaatliche Herrschafts- und Gewaltmonopol. Die Bürgerinnen und Bürger selbst dürfen die Aufrechterhaltung und Durchsetzung der Rechtsordnung hingegen – mit wenigen Ausnahmen, etwa bei der Notwehr – nicht in ihre eigenen Hände nehmen.

Beispiel Reichsbürgerinnen und Reichsbürger: Es handelt sich daher (nicht nur, aber vor allem) aus rechtsstaatlicher Perspektive um ein erhebliches Problem, wenn etwa die sogenannten Reichsbürgerinnen und Reichsbürger den legitimen Herrschaftsanspruch der deutschen Staatsgewalt mit aberwitzigen Begründungen nicht anerkennen, sich ihren Anweisungen (gewaltsam) widersetzen oder sogar selbst die Durchsetzung "ihres" Rechts betreiben. Der deutsche Rechtsstaat kann solche Unterminierungen seines Herrschafts- und Gewaltmonopols nicht akzeptieren und geht daher entschieden gegen entsprechende Akteure vor.

QuellentextWas wollen die "Reichsbürger"?

(© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 132 167)

[…] Das Phänomen der "Reichsbürger" erfährt seit der zweiten Hälfte der 2010er Jahre öffentliche Aufmerksamkeit. Grund dafür ist der Mord an einem Polizeibeamten im fränkischen Georgensgmünd durch einen "Reichsbürger". Am 19. Oktober 2016 stürmte die Polizei das Wohnhaus des Mannes, um dessen 31 Schusswaffen zu konfiszieren. Der Mann, der sein Grundstück mit einer gelben Linie und einem Schild als "Regierungsbezirk Wolfgang" markiert hatte, schoss auf die Beamten, wobei er mehrere verletzte – einen davon tödlich. Vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth wurde er dafür zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

"Reichsbürger" zweifeln die Legitimität und Souveränität der Bundesrepublik Deutschland an. Manche von ihnen meinen, Deutschland befinde sich noch immer im Krieg und sei besetzt, da nach dem Zweiten Weltkrieg kein Friedensvertrag geschlossen worden sei. Andere behaupten, die Bundesrepublik sei nicht einfach nur ein Besatzungskonstrukt geheimer Mächte hinter den Alliierten, sondern darüber hinaus eine Firma – die BRD GmbH. Entsprechend würden bei Auseinandersetzungen mit dem Staat lediglich privatrechtliche Regelungen gelten. Ein Teil des Milieus zieht daraus den Schluss, dass das Deutsche Reich der letzte rechtmäßige Staat der Deutschen gewesen sei. Dessen Handlungsfähigkeit müsse folglich wiederhergestellt werden. Andere wiederum glauben, aus der Bundesrepublik "austreten", sich zu individuellen Souveränen erklären oder gar einen eigenen Staat ausrufen zu können. Aber woher kommt dieser Glaube?

Der Begriff "Reichsbürger" ist vor allem durch die Aktionen des selbsternannten "Reichskanzlers" Wolfgang Ebel geprägt. […] Für Ebel war die Bundesrepublik eine illegale Vereinigung, die als Deckmantel einer "jüdisch-freimaurerischen" Verschwörung diente. Folglich müssten "Reichsbürger" weder Steuern und Gebühren noch Buß- oder Ordnungsgelder an die Bundesrepublik zahlen. Das führte zu zahlreichen juristischen Auseinandersetzungen. Ebel und seine Gefolgsleute verschickten seitenlange Begründungen für die Nichtexistenz der Bundesrepublik an die Behörden. Als "Reichsregierung" erließen sie Todesurteile gegen Beamt:innen für ihren "Volksverrat", da sie für einen illegalen Staat tätig seien. Zudem boten Mitglieder der [von Ebel gegründeten "Kommissarischen Reichsregierung"] KRR kostenpflichtige Lehrgänge an, in denen über die vermeintlich wahre Rechtslage Deutschlands informiert wurde. Darüber hinaus verkauften sie "Reichsdokumente", wie etwa Reisepässe und Führerscheine.

Das Anwachsen der KRR führte zu Spannungen zwischen ihren Mitgliedern, die zu mehreren Abspaltungen führten. Dieser Prozess setzte sich weiter fort, sodass inzwischen dutzende mehr oder weniger aktive reichsideologische "Regierungen" existieren.

Für das Jahr 2020 verzeichnet das Bundesamt für Verfassungsschutz 20 000 (2019: 19 000) "Reichsbürger und Selbstverwalter", von denen 1000 Mitglieder (2019: 950) als rechtsextrem eingestuft werden. Auf der Social Media-Plattform Telegram hingegen verzeichnen offene "Reichsbürger"-Kanäle (Stand: Juni 2021) mehr als 60 000 Abonnent:innen [...].

Reichsbürger in der Tradition des "Reichskanzlers" Wolfgang Ebel glauben, die Handlungsfähigkeit eines Deutschen Reiches bereits durch ihr eigenes "Regierungshandeln" unmittelbar wiederhergestellt zu haben. […]

Jan Rathje, "'Reichsbürger' und Souveränismus", in: Aus Politik und Zeitgeschichte 35–36/2021 "Verschwörungstheorien", S. 34–40; online unter
Interner Link: www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/verschwoerungstheorien-2021/

Beispiel Friedensrichterinnen und Friedensrichter: Ähnlich liegt die Situation, wenn selbsternannte Friedensrichterinnen und Friedensrichter sich anmaßen, jenseits der staatlichen Gerichtsbarkeit (ihr eigenes) "Recht" zu sprechen. Vertraut sich etwa das Opfer einer Straftat nicht den staatlichen Behörden und Gerichten an, sondern verständigt sich mit der Täterin oder dem Täter darauf, dass eine (in seinem oder ihrem Kreis anerkannte) Privatperson mit der Ausurteilung einer Wiedergutmachung beauftragt werden soll, so stellt dies eine Gefahr für das staatliche Herrschaftsmonopol dar. Obwohl es auf den ersten Blick so scheinen mag, als handele es sich um eine unproblematische, weil freiwillige Entscheidung der betroffenen Person, kann der deutsche Rechtsstaat die Entstehung solcher Strukturen von Paralleljustiz nicht erlauben, wenn er seine Autorität als effektive Staatsgewalt nicht in Frage gestellt sehen möchte.

Wie bereits das Erfordernis einer effektiven Rechtsordnung, ist auch der grundlegende rechtsstaatliche Anspruch auf die Existenz einer deutschen Staatsgewalt sowie deren Herrschafts- und Gewaltmonopol nicht an einer konkreten Stelle der deutschen Verfassung explizit niedergelegt. Vielmehr ist es nahezu das gesamte Grundgesetz, das sich mit der Einrichtung einer effektiven öffentlichen Gewalt beschäftigt. Schon der erste Artikel des Grundgesetzes, Art. 1 Abs. 1 GG, unterstellt eine "staatliche Gewalt". Noch deutlicher wird es, wenn etwa Art. 30 GG grundsätzliche Zuweisungen von "staatlichen Befugnissen" und "staatlichen Aufgaben" vornimmt oder Art. 70 ff. GG die Gesetzgebung, Art. 83 ff. GG die Verwaltung und Art. 92 ff. GG die Rechtsprechung ausdrücklich den Organen der deutschen Staatsgewalt (in Bund und Ländern) zuweisen.

Aufteilung der deutschen Staatsgewalt

In der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland bedeutet die Existenz eines Herrschafts- und Gewaltmonopols der deutschen Staatsgewalt jedoch nicht, dass diese Staatsgewalt bei einem einzelnen Akteur oder Organ konzentriert wäre. Vielmehr ist die öffentliche Gewalt auf (auch personell) eigenständige Staatsorgane verteilt, um so einem Machtmissbrauch vorzubeugen. Als herrschaftsbegrenzendes Element des deutschen Rechtsstaatsprinzips ist diese Teilung der Staatsgewalt in Art. 20 Abs. 2 GG geregelt.

Art. 20 Abs. 2 GG
(2) Alle Staatsgewalt […] wird […] durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

Im Grundsatz geschieht die Aufteilung der deutschen Staatsgewalt also entlang der klassischen staatlichen Funktionentrias öffentlicher Gewalt. Sie teilt sich in Gesetzgebung (Legislative), Regierung bzw. Verwaltung (Exekutive) und Rechtsprechung (Judikative).

Neben diese horizontale Ebene der Gewaltenteilung tritt in der Bundesrepublik Deutschland allerdings noch eine vertikale Dimension. Als föderaler Bundesstaat teilt die Bundesrepublik Deutschland ihre öffentliche Gewalt nicht nur horizontal zwischen unterschiedlichen Bundesorganen auf, sondern zugleich auch noch vertikal zwischen den Organen des Bundes und den Organen der verschiedenen Länder. Besonders deutlich wird diese vertikale Aufteilung der Staatsgewalt in Art. 30 GG.

Artikel 30 GG
Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zuläßt.

(© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 61 115)

Vor dem Hintergrund dieser Verfassungsentscheidung für eine horizontale und vertikale Gewaltenteilung bestimmt das Grundgesetz im Einzelnen recht genau, welcher Teil der Staatsgewalt tatsächlich auf Landes- und welcher (trotz Art. 30 GG recht umfangreiche Teil) auf Bundesebene ausgeübt wird. Wo eine Ausübung auf Bundesebene vorgesehen ist, legt das Grundgesetz außerdem fest, welches Bundesorgan konkret zuständig ist.

So regelt beispielsweise Art. 73 Abs. 1 Nr. 2 GG, dass für die gesamte Gesetzgebung im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts der Bund zuständig ist. Art. 77 Abs. 1 GG wiederum bestimmt, dass auf der Ebene des Bundes die Gesetze durch den Deutschen Bundestag beschlossen werden. In Kombination bedeutet dies, dass der Deutsche Bundestag für die Gesetzgebung im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts zuständig ist. Im Einzelnen findet die horizontale und vertikale Teilung der deutschen Staatsgewalt in einer ganzen Reihe weiterer Vorschriften des Grundgesetzes ihre spezifische Ausgestaltung.

Die Gewaltenteilung in der Bundesrepublik Deutschland gilt jedoch nicht absolut. Die Staatsorgane stehen gerade nicht gänzlich unabhängig nebeneinander. Vielmehr kommt es an einer Reihe von Punkten zu einer komplexen Verschränkung der Gewalten (bzw. der Staatsorgane, die die jeweiligen Gewalten ausüben). Diese Verschränkung zeigt sich auf zwei Arten. Einerseits kontrollieren sich die Gewalten gegenseitig (sogenannte aus dem englischen Sprachgebrauch stammende checks and balances). Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland der Deutsche Bundestag (Legislative) für die Wahl des Bundeskanzlers als Spitze der Bundesregierung (Exekutive) zuständig ist und diesen über ein konstruktives Misstrauensvotum auch wieder aus dem Amt entfernen kann. Andererseits wirken die verschiedenen Gewalten in ihren Zuständigkeiten mitunter umfassend zusammen. So ist etwa die Bundesregierung, obwohl sie einen Teil der Exekutive bildet, über ihr Recht, Gesetzesinitiativen ins Parlament einzubringen, an der Gesetzgebungsfunktion des Deutschen Bundestages entscheidend beteiligt. Solange dieses Zusammenwirken dabei auf eine Weise geschieht, die keiner Gewalt ein erhebliches Übergewicht gegenüber den anderen Gewalten verschafft oder eine andere Gewalt ihrer Kernfunktion beraubt, ist eine solche Gewaltenverschränkung nicht nur unbedenklich, sondern rechtsstaatlich betrachtet sogar sehr praktisch. Nur so können – nach der Rechtsprechung des BVerfG – "Entscheidungen von den Organen getroffen werden, die nach ihrer Organisation, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen für eine möglichst sachgerechte Entscheidung verfügen".

Beispiel Corona-Verordnungen: Die rechtsstaatlichen Anforderungen der Gewaltenteilung lassen sich gut anhand der diversen "Corona-Verordnungen" aus den Jahren 2020 und 2021 verdeutlichen. Durch das vom Bundestag erlassene Infektionsschutzgesetz wurde der Bundesregierung und den Landesregierungen in der COVID-19-Pandemie die Kompetenz eingeräumt, eine Reihe von Aspekten im Zusammenhang mit der Pandemiebekämpfung selbst gesetzlich (in Form von Rechtsverordnungen) zu regeln. Grund dafür war, dass ein besonders kurzfristiges und zielgerichtetes Vorgehen gegen die verheerenden Auswirkungen der Pandemie ermöglicht werden sollte. Obwohl der Bundesregierung und den Landesregierungen damit in einem gesellschaftspolitisch besonders sensiblen Bereich gesetzgeberische Befugnisse übertragen wurden (welche diese auch ausführlich nutzten), handelte es sich bei der Übertragung nicht um einen Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Teilung legislativer und exekutiver Staatsgewalt. Da die Übertragung unter strikten gesetzlichen Bedingungen und Beschränkungen und auch nur für die konkrete Situation der COVID-19-Pandemie erfolgte, stellte sie sich lediglich als eine rechtsstaatlich zulässige Erscheinungsform der Gewaltenverschränkung dar. Der Erlass von Rechtsverordnungen ist in Art. 80 GG geregelt.

Anders hätte die Situation gelegen, wenn der Bundestag etwa ein Gesetz erlassen hätte, mit dem der Bundesregierung oder den Landesregierungen für die Dauer der COVID-19-Pandemie die vollständige und unbedingte Kompetenz zur Gesetzgebung übertragen worden wäre. Eine solche generelle Selbstentmachtung des Parlaments verstieße gegen das rechtsstaatliche Gebot der Gewaltenteilung, weil es die Legislative gerade ihrer Kernfunktion berauben würde.

Bindung der deutschen Staatsgewalt an das Recht

Zu den wesentlichen Elementen des deutschen Rechtsstaatsprinzips gehört auch die Bindung aller deutschen Staatsgewalt an das Recht. Sie ist maßgeblich in Art. 20 Abs. 3 GG geregelt.

Art. 20 Abs. 3 GG
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

Speziellen Ausdruck findet diese Rechtsbindung außerdem in Art. 1 Abs. 3 GG, der noch einmal ausdrücklich die Bindung der deutschen Staatsgewalt an den verfassungsrechtlichen Katalog der deutschen Grundrechte (insbesondere Art. 1–19 GG) regelt.

Art. 1 Abs. 3 GG
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

In der rechtsstaatlichen Konstruktion der Bundesrepublik Deutschland bildet die geltende (Verfassungs-)Rechtsordnung also nicht nur die Grundlage, sondern auch die Grenze aller deutschen Staatsgewalt.

Zunächst legt Art. 20 Abs. 3 GG in seinem ersten Halbsatz fest, dass die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, heißt also an das Grundgesetz gebunden ist (sog. Vorrang der Verfassung). Obwohl die deutsche Legislative das einfache Gesetzesrecht selbst erschaffen kann (und soll), ist sie nicht völlig ungebunden. Vielmehr werden der Gesetzgebung durch die Verfassung als ranghöchste Rechtsquelle Grenzen gesetzt. Verstößt ein einfaches Gesetz gegen die Verfassung, ist es nichtig und kann in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland keine Geltung beanspruchen. Das BVerfG wird dieses Gesetz dann für nichtig erklären.
Ein solcher Verstoß gegen die verfassungsmäßige Ordnung kann dann vorliegen, wenn grundgesetzliche Vorschriften zur Zuständigkeit, zum Verfahren oder zur Form der Gesetzgebung nicht eingehalten werden (formelle Verfassungswidrigkeit). Denkbar ist aber ebenso, dass ein Gesetz in seinem konkreten Inhalt mit den sachlichen Anforderungen des Grundgesetzes nicht vereinbar ist (materielle Verfassungswidrigkeit).

Beispiel Luftsicherheitsgesetz: Anschaulich zeigte sich eine solche materielle Verfassungswidrigkeit im 2005 erlassenen und dann 2006 durch das BVerfG teilweise für nichtig erklärten Luftsicherheitsgesetz. Das im Nachgang der Anschläge vom 11. September 2001 erlassene Gesetz enthielt unter anderem eine Ermächtigung zum gezielten militärischen Abschuss von zivilen Verkehrsflugzeugen, wenn diese sich in fremder Gewalt befinden und als Waffe gegen andere Menschen missbraucht werden sollen. Weil eine solch ultimative staatliche Gefahrenabwehr allerdings zwangsläufig mit der Tötung von Passagierinnen und Passagieren sowie der Crew einherginge und es somit zu einer Herabsetzung unschuldiger Menschen zu bloßen Objekten des staatlichen Handelns käme ("Verdinglichung"), verstieß die gesetzliche Ermächtigung gegen die verfassungsrechtlich geschützte Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 GG). Das Gesetz konnte daher aus rechtsstaatlicher Perspektive keinen Bestand haben.

Beispiel Mietendeckel: Ein gutes Beispiel für die Nichtigkeit eines Gesetzes wegen dessen formeller Verfassungswidrigkeit bietet der sogenannte Berliner Mietendeckel. Das im Jahr 2020 vom Abgeordnetenhaus des Landes Berlin beschlossene Gesetz zur Neuregelung gesetzlicher Vorschriften zur Mietenbegrenzung enthielt verschiedene Regeln über die Ausgestaltung (insbesondere die Begrenzung) von Wohnraummieten in Berlin. Weil aber die Zuständigkeit für das Mietpreisrecht als Teil des bürgerlichen Rechts nach Art. 72 und 74 GG in die Zuständigkeit des Bundes und nicht in die Zuständigkeit der Länder fällt, verstieß das Gesetz des Berliner Abgeordnetenhauses gegen die grundgesetzlichen Vorschriften zur Gesetzgebungszuständigkeit und war daher aus formellen Gründen nichtig.

Die in Art. 20 Abs. 3 GG geregelte Rechtsbindung der deutschen Staatsgewalt gilt nicht allein für die Legislative, sondern ebenso für die Exekutive und die Judikative. Anders als für die gesetzgebende Gewalt spricht Art. 20 Abs. 3 GG in seinem zweiten Halbsatz jedoch nicht von einer Bindung an die verfassungsmäßige Ordnung, sondern von einer erweiterten Bindung an Recht und Gesetz. Für die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung gilt daher nicht nur eine Bindung an das Grundgesetz, sondern auch an die (durch die Legislative erlassenen) Gesetze (sog. Vorrang des Gesetzes). Die geltenden Gesetze dürfen also weder außer Acht gelassen noch darf von ihnen abgewichen werden.

Diese wesentlich umfassendere Bindung ist darin begründet, dass Exekutive und Judikative – im Gegensatz zur Legislative – grundsätzlich nicht mit dem Erlass, der Änderung oder der Aufhebung von Gesetzen befasst sind, sondern diese lediglich anwenden. Zwar ist selbstverständlich auch die Legislative an die von ihr selbst erlassenen Gesetze gebunden. Da ihr jedoch stets die Möglichkeit zukommt, diese Gesetze auch wieder aufzuheben, ist die Bindung aus rechtsstaatlicher Perspektive von geringerer Relevanz.

Beispiel Wohnungsdurchsuchung I: Durchsuchen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte die Privatwohnung einer Bürgerin oder eines Bürgers ohne besonderen Anlass, obwohl die geltenden Polizeigesetze solche willkürlichen Durchsuchungen gerade ausdrücklich untersagen, so handelt es sich um einen Verstoß der vollziehenden Gewalt gegen geltendes Recht. In der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ist eine solche Durchsuchung daher eindeutig als rechtswidrig und damit als Verstoß gegen die Rechtsbindung der deutschen Staatsgewalt zu beurteilen.

Beispiel Rechtsbeugung: Halten eine Strafrichterin oder ein Strafrichter in einem Strafverfahren den freiwilligen Abbruch einer Schwangerschaft auch innerhalb der ersten zwölf Wochen aus moralischen Gründen für bestrafungswürdig und verurteilen eine Frau daher zu einer Freiheitsstrafe, obwohl sie oder er wissen, dass das Strafgesetzbuch einen solchen freiwilligen und ärztlich durchgeführten Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen gerade nicht unter Strafe stellt, so handelt es sich um ein gegen geltendes Recht verstoßendes Urteil. Weil Richterinnen und Richter ausschließlich auf der Grundlage der geltenden Gesetze urteilen dürfen, kann ein solches Urteil in der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland keinen Bestand haben und wird daher in der nächsthöheren Instanz aufgehoben werden. Der Strafrichterin oder dem Strafrichter drohen bei einer solch eklatanten Missachtung des Gesetzes außerdem sogar selbst ein Strafverfahren wegen Rechtsbeugung.

Die in Art. 20 Abs. 3 GG geregelte Gesetzesbindung der deutschen Staatsgewalt erschöpft sich in diesem Vorrang des Gesetzes jedoch nicht. Das Rechtsstaatsprinzip geht noch einen Schritt weiter. So ist es insbesondere der vollziehenden Gewalt nicht nur untersagt, entgegen geltendem Recht zu handeln. Sie ist in den wesentlichen Bereichen ihres Handelns darüber hinaus auch darauf angewiesen, dass überhaupt eine gesetzliche Grundlage für ihr Handeln besteht (sog. Vorbehalt des Gesetzes). Konkret bedeutet dies: Will die vollziehende Gewalt in beschränkender oder belastender Art und Weise auf die Bürgerinnen und Bürger einwirken, so bedarf es einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung für diesen Zugriff. Im Rechtsstaat ist der deutschen Staatsgewalt also nicht etwa alles erlaubt, was nicht verboten ist, sondern nur das erlaubt, was auch ausdrücklich erlaubt ist. Dabei gilt: Je intensiver der Zugriff, desto konkreter muss dieser Zugriff im Gesetz geregelt sein.

Beispiel Kopftuchverbot: Die konkreten Auswirkungen des rechtsstaatlichen Vorbehaltes des Gesetzes zeigen sich etwa in der Auseinandersetzung um ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen, die ihren Ausgangspunkt im Jahr 1999 fand. Dabei verweigerte das Land Baden-Württemberg einer für Grund- und Hauptschullehramt ausgebildeten Lehrerin muslimischen Glaubens die Einstellung in den Schuldienst, weil diese nicht bereit war, während des Unterrichts auf das Tragen eines Kopftuchs zu verzichten. Da im geltenden Recht des Landes Baden-Württemberg jedoch keine hinreichend bestimmte gesetzliche Ermächtigung für einen solch tiefen Eingriff der Landesschulbehörde vorhanden war, konnte die Verweigerung aus der Perspektive des deutschen Rechtsstaatsprinzips im Ergebnis keinen Bestand haben.

Die Versagung des Zugangs in den Schuldienst für Lehrerinnen, die ein Kopftuch tragen möchten, ist folglich nur dann möglich, wenn die jeweils zuständigen Landesgesetzgeber eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für eine solche Versagung schaffen. Solche gesetzlichen Grundlagen sehen sich wegen der Intensität der Beeinträchtigung muslimischer Lehrerinnen jedoch wiederum hohen verfassungsrechtlichen Anforderungen ausgesetzt.

Orientierungssicherheit in der deutschen Rechtsordnung (Rechtssicherheit)

Zu den zentralen Elementen der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gehört auch die Rechtssicherheit. Rechtssicherheit bedeutet, dass die Bürgerinnen und Bürger stets Gewissheit darüber haben, welches Recht gerade für sie gilt. Dies umfasst sowohl das Privatrecht, das die rechtlichen Beziehungen der Bürgerinnen und Bürger untereinander betrifft, als auch – in besonderem Maße – das öffentliche Recht, welches das Verhältnis zwischen Staat und Bürgerin oder Bürger regelt.

Dabei ist es kaum möglich, dass jede Bürgerin oder jeder Bürger zu jedem Zeitpunkt genaue Kenntnis über alle für sie oder ihn geltenden Rechtsnormen hat. Vielmehr muss daher gewährleistet sein, dass es den Bürgerinnen und Bürgern stets möglich ist, sich über das für sie in einer bestimmten Situation geltende Recht verständlich zu informieren (bzw. sich durch einen Rechtsbeistand – also eine Anwältin oder einen Anwalt – unterstützen zu lassen). Die Bürgerinnen und Bürgern müssen dabei außerdem auf die Gültigkeit dieses Rechts vertrauen und davon ausgehen können, nicht völlig überraschend mit rechtlichen Regeln konfrontiert zu werden. Schließlich ist wichtig, dass die Rechtsordnung keine inneren Widersprüche aufweist, einzelne Rechtsnormen sich also nicht widersprechen.
Eine Norm im Grundgesetz, die dieses allgemeine Erfordernis der Orientierungssicherheit in der Rechtsordnung explizit zum Ausdruck bringt, existiert nicht. Die Rechtssicherheit wird daher im Grundsatz an Art. 20 Abs. 2 und 3 GG als dem zentralen Anknüpfungspunkt des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips festgemacht. Konkret zeigt sich das rechtsstaatliche Element der Rechtssicherheit allerdings in einer Reihe von Einzelaspekten.

Dies umfasst zunächst die Publizität des Rechts. So werden der Erlass, die Änderung oder die Aufhebung von deutschen Gesetzen stets in öffentlichen Amtsblättern verkündet. Dies gewährleistet, dass sich die Bürgerinnen und Bürger über das geltende Recht informieren können. Für die Gesetze des Bundes ist dies beispielsweise ausdrücklich in Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG geregelt.

Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG
(1) Die nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze werden vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt und im Bundesgesetzblatte verkündet.

Die Orientierungssicherheit in der deutschen Rechtsordnung wird darüber hinaus auch durch inhaltliche Anforderungen an die Gestaltung der Rechtsordnung gewährleistet.

So sind Rechtsnormen derart verständlich und präzise zu formulieren, dass ihr Inhalt nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger klar erkennbar ist, sondern insbesondere auch eine unberechenbare und willkürliche Anwendung durch die (an das Recht gebundene) deutsche Staatsgewalt verhindert wird (sog. Bestimmtheitsgebot). Dabei gilt der Grundsatz: Je umfassender die rechtliche Ermächtigung für die deutsche Staatsgewalt, desto höher das Erfordernis an die verständliche und präzise Formulierung der entsprechenden Rechtsnormen.

Klar ist aber auch: Die Regelung konkreter Lebenssachverhalte anhand abstrakter Rechtsnormen ist immer auch auf eine gewisse Flexibilität angewiesen. Endgültige sprachliche Präzision, die alle theoretischen Eventualitäten umfasst, lässt sich kaum erreichen und würde letztlich auch dazu führen, dass die Rechtsordnung ihre Funktionsfähigkeit verlöre. Es ist daher aus rechtsstaatlicher Perspektive durchaus zulässig, dass im Bürgerlichen Gesetzbuch Rechtsbegriffe wie "Treu und Glauben" vorkommen, im Polizeirecht Formulierungen verwendet werden, in denen es schlicht heißt, dass die Polizeibehörden "die notwendigen Maßnahmen treffen können, um eine Gefahr abzuwehren" (sog. Generalklauseln), oder sich etwa das Steuerrecht als besonders komplex darstellt.

Beispiel Online-Durchsuchung: Einen Verstoß gegen das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot stellte das BVerfG etwa fest, als es sich im Jahr 2008 mit den Vorschriften des Verfassungsschutzgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen zur sogenannten Online-Durchsuchung befasste. Konkret erlaubte das damalige Gesetz den heimlichen Zugriff der Verfassungsschutzbehörden auf informationstechnische Systeme (wie z.B. Computer und Mobiltelefone), um so frühzeitig Bestrebungen der Besitzerinnen und Besitzer gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland feststellen zu können. Weil eine solche heimliche Online-Durchsuchung durch die deutsche Staatsgewalt zwar eine nützliche Befugnis, aber eben auch einen besonders schweren Eingriff in die Freiheit, insbesondere in die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger, bedeutet, muss die rechtliche Grundlage insoweit auch besonders hohen Anforderungen an die Normenklarheit und Normenbestimmtheit genügen.

Das einschlägige Verfassungsschutzgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen entsprach diesen Anforderungen jedoch gerade nicht, da die konkreten Voraussetzungen und Grenzen für die Zulässigkeit der Online-Durchsuchung im Gesetz viel zu vage und für die Bürgerinnen und Bürger nicht ausreichend zu erkennen waren. Wegen dieses Verstoßes gegen das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot (und aus einigen weiteren Gründen) konnte das damalige Verfassungsschutzgesetz im Hinblick auf die Online-Durchsuchung daher keinen Bestand haben und wurde vom BVerfG für nichtig erklärt.

Neben die Erfordernisse der Publizität und Bestimmtheit tritt das Verbot der Rückwirkung des Rechts. In der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland sollen vor allem beschränkende und belastende Rechtsnormen ab ihrem Erlass nur für die Zukunft gelten und nicht auch auf vergangene Sachverhalte Anwendung finden. Alles andere würde es den Bürgerinnen und Bürgern praktisch unmöglich machen, sich auf das für sie geltende Recht einzustellen und auf die jeweils geltende Rechtslage zu vertrauen. Eine besonders wichtige Ausformung dieses rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbots betrifft etwa den Bereich des Strafrechts und findet sich in Art. 103 Abs. 2 GG.

Art. 103 Abs. 2 GG
(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

Gerade im Bereich des besonders intensiv (mit Geld- und Freiheitsstrafe) auf die Bürgerinnen und Bürger einwirkenden Strafrechts ist eine Rückwirkung des Rechts aus rechtsstaatlicher Perspektive besonders problematisch und daher absolut verboten.

Einen wichtigen Aspekt der Rechtssicherheit stellt schließlich der Vorgang der Verjährung dar. Unter Verjährung wird verstanden, dass bestimmte Angelegenheiten sich nach einiger Zeit zumindest aus rechtlicher Sicht erledigen. So gilt etwa, dass rechtliche Ansprüche unter Privatpersonen nach einer gewissen Zeit nicht mehr durchsetzbar sind oder gegen das Strafrecht verstoßende Taten mit Ablauf bestimmter Fristen nicht mehr verfolgt werden können.

Beispiel Kaufvertrag: Privatpersonen, die einen Kaufvertrag geschlossen haben, ist es nach Ablauf einer Frist von drei Jahren nicht mehr möglich, die Zahlung des Kaufpreises oder die Übereignung des gekauften Gegenstandes gegeneinander gerichtlich durchzusetzen. Dies gilt selbst dann, wenn die jeweilige Gegenseite ihre Verpflichtung aus dem Kaufvertrag bereits erfüllt hat.

Beispiel Körperverletzung: Begeht jemand eine Körperverletzung, so kann der Staat sie oder ihn dafür nach Ablauf von fünf Jahren nicht mehr strafrechtlich belangen.

Zwar führen diese Verjährungsregeln im Ergebnis dazu, dass bestimmte Absprachen zwischen Privatpersonen nicht immerwährend eingehalten werden müssen und die Schuld einer Straftäterin oder eines Straftäters nicht ewig gesühnt werden kann. Zugleich wird dafür aber ein gewisser Rechtsfrieden erlangt, in dem die Bürgerinnen und Bürger sich darauf verlassen können, dass in der Vergangenheit liegende Geschehnisse irgendwann rechtlich abgeschlossen sind. Zudem gilt es, Gerichte und Verwaltung nicht übermäßig (bis hin zur Gefährdung ihrer rechtsstaatlich besonders bedeutsamen Funktionsfähigkeit) zu belasten.

Damit die Verjährung nicht in Konflikt mit dem Gerechtigkeitsempfinden der Bürgerinnen und Bürger gerät, gelten für bestimmte Bereiche besonders lange Verjährungsfristen. Privatrechtliche Schadensersatzansprüche wegen vorsätzlicher Körperverletzung verjähren beispielsweise erst nach dreißig Jahren. Im Strafrecht verjährt Mord – also die aus besonders verwerflichen Gründen vollzogene Tötung eines anderen Menschen – sogar nie.

QuellentextMord verjährt nie

[…] Das Landgericht Itzehoe verhandelt […] seit Oktober [2021] den Fall Irmgard F., 96 Jahre alt. Als junge Frau war sie Sekretärin im KZ Stutthof. Zum ersten Mal muss sich eine Zivilistin in Deutschland für Verbrechen im Todeslager der Nazis verantworten, die Staatsanwaltschaft wirft ihr Beihilfe zum Mord in mehr als 11000 Fällen vor. […]

[…] Kann der ehemaligen Schreibkraft eines KZ-Kommandanten die Mitschuld am Holocaust nachgewiesen werden?

[…] Irmgard F. schweigt. Sie sagt hier kein Wort zu ihrer Vergangenheit. Was man weiß: Sie war 18, später 19 Jahre alt, als sie von 1943 bis 1945 im warmen Büro des Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe arbeitete, während draußen im KZ Stutthof Gefangene […] litten und Tausende umgebracht wurden. Juristisch war die Angeklagte zur Tatzeit Heranwachsende, deshalb gilt trotz ihres hohen Alters das Jugendstrafrecht. […]

Asia Shindelman [wurde mit 16 mit ihrer Familie im Juli 1944 in das KZ Stutthof bei Danzig verschleppt] war schon einmal Zeugin in einem NS-Verfahren, 2020 in Hamburg wurde der 92-jährige Bruno D. wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 5000 Fällen zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt. Er hatte für die SS in Stutthof auf einem Wachturm gestanden, der Anklage galt er als "kleines Rädchen in der Tötungsmaschine des Konzentrationslagers". Mehrere SS-Wachleute wurden in den vergangenen Jahren zur Rechenschaft gezogen, gerade steht in Brandenburg ein 101-Jähriger vor Gericht.

Aber dieser Prozess ist anders, denn Irmgard F. trug keine Uniform und kein Gewehr. Sie saß an der Schreibmaschine.

Sie schrieb für Menschen, die über den Tod verfügten. Sie scheint ein weiteres kleines Rädchen gewesen zu sein, das diese monströse Tötungsmaschine am Laufen hielt, eine Bürokratin des Terrors. […]

Die Shindelmans wurden ins Ghetto deportiert, dann nach Stutthof. "Schneller, schneller, heraus, verfluchte Judenbande", hätten die SS-Leute in die Viehwaggons geschrien, die Zeugin Shindelman sagt das auf Deutsch. Dann die Selektion, ihre Oma sah sie nie wieder, der Vater kam später nach Dachau und war nach dem Krieg ein ausgezehrter Mann. […]

Irmgard F. schaut im Gericht selten in Richtung der Flatscreens der Videoübertragung [mit der Asia Schindelmann, 93 Jahre, aus New Jersey, USA, zugeschaltet ist], ab und zu fährt sie sich durchs Gesicht. "Frau F. hat sich das Hörgerät rausgenommen", sagt der Richter, Irmgard F. nestelt am linken Ohr herum, als ob sie das Gerät störe, ein Helfer setzt die Ohrmuschel wieder ein. Die Angeklagte wirkt bei all dem wie abwesend. […]

Zwei Leben. Die Nebenklägerin Shindelman und die Angeklagte F., die zwei Jahre lang die Stenotypistin des Kommandanten war. Begegnet sind sich die beiden Frauen in Stutthof wahrscheinlich nie.

Irmgard F. hatte ihr Dienstzimmer in der Kommandantur, nördlicher Flügel. […]

"Es ist nicht möglich, hier zu sitzen und nichts zu sehen", sagt Marcin Owsin´ski [Leiter der wissenschaftlichen Abteilung des KZ-Museums]. Er steht in dem Zimmer, das damals das Schreibzimmer von Irmgard F. war, die damals noch Irmgard D. hieß. Eine Abstellkammer, Bücher stapeln sich auf einem Tisch. Durch die Fenster sieht man rüber ins Lager, dorthin, wo damals Asia Shindelman versuchte zu überleben. […]

Irmgard F. war selbst mehrmals Zeugin. Verhört wurde sie unter anderem vor dem Prozess gegen Kommandant Hoppe, der nach dem Urteil 1957 gerade mal drei Jahre im Gefängnis saß, danach ein unauffälliges Leben führte und 1974 starb. In einer Befragung soll sie gesagt haben, dass auch Befehle für Erschießungen und Deportationen über ihren Schreibtisch gegangen seien. Aber die meisten ihrer alten Aussagen dürfen jetzt nicht vom Gericht verwendet werden. Sie wurde damals offenbar nicht über ihre Rechte belehrt.

In Befragungen vor diesem Prozess behauptete Irmgard F. in ihrem Zimmer im Seniorenheim, das Lager an sich nie betreten und mit den Morden nichts zu tun gehabt zu haben. "Lächerlich" seien die Ermittlungen nach all den Jahren. Fotos oder Dokumente von damals habe sie seit der Flucht aus dem Osten oder dem Umzug ins Altenheim keine mehr. Was ihre Arbeit für den KZ-Kommandanten Hoppe betraf, so könne sie sich "nur an Bestellungen für Gartenbedarf erinnern", so ein ermittelnder Staatsanwalt. […]

Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Irmgard F., vormals Irmgard D., zur Anstellung im KZ gezwungen wurde. Damals holten die Nazis zwar immer mehr Frauen als Aufseherinnen, Telefonistinnen oder Sekretärinnen in die Lager, weil die Männer im Krieg gebraucht wurden, aber die Zivilistinnen kamen in der Regel freiwillig. […] Die Anklage geht davon aus, dass sie "teilweise bis ins Detail", gewusst habe, was in Stutthof geschah. Sie habe "die reibungslose Funktionstüchtigkeit des Lagers gesichert".

Und doch fragen sich manche, wie die einstige KZ-Sekretärin mit 96 vor diesem Jugendgericht landen konnte. Hans-Jürgen Förster sagt: "Rechtlichkeit hat kein Verfallsdatum." Der frühere Bundesanwalt vertritt gemeinsam mit Thomas Walther vier der 31 Nebenkläger und Nebenklägerinnen. Die Rechtsprechung hat sich geändert, inzwischen gilt auch Beihilfe zum Mord bei den NS-Verbrechen als Tatbestand. Ermittler wie Förster und Walther trugen entscheidend dazu bei, dass die Fahndung nach mutmaßlichen Tathelfern wieder aufgenommen wurde und manche von ihnen vor Gericht kamen. Aber Rechtlichkeit hat nur dann kein Verfallsdatum, wenn Mord oder Beihilfe zum Mord bewiesen wird, weil nur Mord nicht verjährt. Die meisten Täter sind ohnehin längst tot. […]

Irmgard F. setzt sich die Brille auf, reibt sich die Stirn, während Asia Shindelman davon erzählt, wie Goldzähne aus Menschen herausgerissen und Häftlinge zu Tode gepeitscht wurden. Den Wächtern habe es Spaß gemacht, sagt sie. Nie habe sich danach eine deutsche Behörde an sie gewandt […]. Erst 75 Jahre nach Stutthof wurden deutsche Ermittler auf sie aufmerksam. […]

[Ende Mai wurde der Prozess fortgesetzt, ein Urteil ist noch nicht gesprochen. – Anm. d. Red.]

Peter Burghardt, "Die Bürokratin des Terrors", in: Süddeutsche Zeitung vom 17. Februar 2022

Öffentlichkeit, Begründungspflicht und Verhältnismäßigkeit

Das deutsche Rechtsstaatsprinzip zeichnet sich außerdem dadurch aus, dass es eine Reihe von Anforderungen daran stellt, in welcher Art und Weise die deutsche Staatsgewalt konkret ausgeübt werden soll. Diese Anforderungen – die ebenfalls an Art. 20 Abs. 2 und 3 GG als zentralem Anknüpfungspunkt des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips im Grundgesetz festgemacht werden – betreffen dabei die Ausübung deutscher Staatsgewalt in ihrer ganzen Breite. Sie gelten also für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung gleichermaßen.

Nach dem Grundsatz der Öffentlichkeit vollzieht sich die Ausübung der deutschen Staatsgewalt nicht im Geheimen oder Verdeckten, sondern geschieht stets in einer Weise, welche für die deutschen Bürgerinnen und Bürger transparent und einsehbar ist. Wenn etwa der Deutsche Bundestag Gesetze berät oder beschließt, so geschieht dies öffentlich.

Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG
(1) Der Bundestag verhandelt öffentlich.

Die Bürgerinnen und Bürger können dem Deutschen Bundestag bei der Ausübung seiner Legislativfunktion also tatsächlich zusehen, sei es, indem sie sich selbst in den Deutschen Bundestag begeben oder die Debatten des Deutschen Bundestages im Parlamentsfernsehen verfolgen. Die Öffentlichkeit der Ausübung deutscher Staatsgewalt zeigt sich aber etwa auch in Gerichtsverfahren. Klagt die Staatsanwaltschaft jemanden in einem Strafverfahren an, so können nach Kapazität des Gerichtssaals grundsätzlich alle Bürgerinnen und Bürger der Verhandlung beiwohnen und dem Gericht dabei zusehen, wie es die Angeklagte oder den Angeklagten anhört, Zeuginnen und Zeugen befragt und am Ende ein Urteil fällt. Ein Ausschluss der Öffentlichkeit ist hingegen nur in Ausnahmefällen, etwa zum Schutz minderjähriger Angeklagter oder Zeuginnen, möglich.

QuellentextWer schreibt vor Gericht mit?

[…] Die Denkmäler des Rechtsstaats sind nicht aus Stein. Die Denkmäler des Rechtsstaats bestehen aus Papier, Tönen, Atmosphäre. Nicht nur aus den Urteilen und Beschlüssen der Gerichte, sondern auch aus dem Leben im Gerichtssaal, das zu diesen Entscheidungen führt: dem Ringen um Wahrheit. Nur hält der deutsche Rechtsstaat solche Denkmäler für verzichtbar. […]

Während in Großbritannien und Irland seit 1973 größere Verfahren aufgezeichnet werden, in Spanien seit 1986, und selbst Rumänien seit 2014 seine Prozesse audiovisuell dokumentiert, gibt es in Deutschland: nichts. Würde sich Deutschland heute um die Mitgliedschaft in der EU bewerben, es würde nicht den europäischen Mindeststandards an die Justiz entsprechen, bemängelte 2019 die Berliner Rechtsanwältin Margarete von Galen, die sich seit Jahren mit der Fehlerkultur im Justizsystem befasst. Frankreich dagegen ist stolz darauf, den Bataclan-Prozess für die Geschichte zu konservieren, um die Reaktion des Rechtsstaats auf den schlimmsten Terrorangriff der letzten Jahre auch kommenden Generationen zu zeigen: An jedem einzelnen Verhandlungstag filmen vier Kameras im Gerichtssaal mit, Mikrofone nehmen auf, wer was sagt, was geschieht. Fürs Nationalarchiv, damit nichts verloren geht.

In Deutschland kann man noch nicht einmal die großen historischen Prozesse nachlesen. Nicht, was der Anwalt von Erich Honecker zur Verteidigung des ehemaligen Staats- und Parteichefs der DDR vorbrachte. Nicht, was die Staatsanwälte in den Mauerschützen-Prozessen über die Schuld der Grenzsoldaten sagten. Niemand kann nachhören, wie Beate Zschäpe im NSU-Prozess ihr letztes Wort gesprochen und wie sich der Vater eines NSU-Opfers auf den Boden geworfen hat, um zu zeigen, wie er seinen sterbenden Sohn fand […] [.]

[…] Protokollanten gibt es. Aber das Protokoll vor Land- und Oberlandesgerichten verdient seinen Namen nicht. Denn dort wird nur Formales vermerkt. Zum Beispiel: "Der Zeuge Max Müller kam und machte Angaben zur Sache. Der Zeuge Max Müller wurde unvereidigt entlassen". Was der Zeuge Müller aber zur Sache sagte, ob er die Angeklagte be- oder entlastete, das steht nicht im Protokoll. Wer nicht drin war im Gerichtssaal, wird nie wieder erfahren können, was dort gesprochen wurde. […]

Die deutsche Justiz […] hängt am alten Trott. Sie verbrämt ihn als "richterliche Unabhängigkeit". Denn jeder Richter hat in seinem Sitzungssaal die alleinige Sitzungsgewalt – er allein bestimmt, wie das Verfahren läuft. Auch, ob das Verfahren aufgezeichnet wird oder nicht. Als wenn eine Tonaufnahme die Unabhängigkeit des Gerichts einschränken würde. Ein souveränes Gericht hat dadurch nichts zu fürchten, Fehler könnten vermieden, Missverständnisse ausgeräumt werden. Am Oberlandesgericht Düsseldorf wird das seit Jahren so gemacht. Es steht damit ziemlich allein da. Nun könnte es eine Zeitenwende geben. Im Koalitionsvertrag der Ampel steht auf Seite 106 der Satz: "Die Hauptverhandlungen müssen in Bild und Ton aufgenommen werden." Doch ob sich die zukünftige Regierung damit durchsetzt? Die Widerstände in der Justiz sind stark.

Oft werden geradezu groteske Argumente gegen die Aufnahme bemüht. Im NSU-Prozess hieß es, die Zeugen sollten unbeeinflusst sprechen können. Eine Tonaufnahme würde sie hemmen – dass um sie herum 80 Juristen saßen, ein Saal voller schwarzer Roben, hat die Zeugen vermutlich noch ein wenig mehr gehemmt. Selbst als die Verteidigung beantragte, wenigstens das Plädoyer der Bundesanwaltschaft aufzunehmen, lehnte das Gericht ab. […]

Selbst unter Juristen fand man es dann doch ein wenig unbefriedigend, dass der NSU-Prozess allein mithilfe der Medien dokumentiert wurde: Man kann die 438 Tage nur deswegen nachlesen, weil Journalisten der ARD und der Süddeutschen Zeitung sowie Aktivisten von NSU-Watch Tag für Tag im Gericht mitgeschrieben haben […].

Der Bundestag änderte […] 2017 das Gerichtsverfassungsgesetz. In Paragraf 169 ist nun geregelt: Bei Prozessen "von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland" darf aufgezeichnet werden: für die Wissenschaft, für die Geschichtsschreibung. Natürlich nicht für die Öffentlichkeit, aber immerhin, es ist ein Schritt. Der Paragraf trat am 18. April 2018 in Kraft. Drei Monate später erging das Urteil im NSU-Prozess. Aber das OLG München entschied sich, keinen Gebrauch von der neuen Freiheit zu machen. […]

Selbst nach dem Urteil will die Justiz am liebsten nichts rausrücken. Manche Gerichte schützen die Schuldsprüche im Namen des Volkes vor dem Volk. Nur knapp ein (!) Prozent aller Urteile wird veröffentlicht. Und das hat sich in den letzten 50 Jahren auch kaum verändert, trotz Digitalisierung […].

Meist sind es ganz profane Gründe, die zu dieser Geheimniskrämerei führen: die Angst der Richter, sich der Kritik von Fachkollegen auszusetzen. Oder "fehlender Mut", wie es in einem Modernisierungspapier der bayerischen Oberlandesgerichte und des Bundesgerichtshofs steht, was auch immer das Wort "Mut" hier bedeuten soll. Und manchmal sagen Gerichte auch rundheraus, dass es ihnen einfach zu viel Mühe macht, die Urteile vor der Herausgabe zu anonymisieren. […]

[…] Wie lange wollen Gerichte es noch dem Engagement von Bürgern oder Journalisten überlassen, Wort für Wort mitzuschreiben? Wie lange noch wollen Gerichte historische Prozesse sang- und klanglos verhallen lassen? Wie lange noch wird dieser geschichtliche Schatz ignoriert?

Annette Ramelsberger, "Gegen das Vergessen", in: Süddeutsche Zeitung vom 4. Dezember 2021

Neben den Grundsatz der Öffentlichkeit tritt der Grundsatz der Begründungspflicht. Diese wiederum verlangt, dass die deutsche Staatsgewalt stets verständlich darlegt, auf welchen tragenden Erwägungen ihr Handeln im Einzelnen fußt. Erlässt beispielsweise der Deutsche Bundestag ein Gesetz, so wird dieses regelmäßig von einer Gesetzesbegründung (amtliche Begründung) begleitet, in der die Bürgerinnen und Bürger nachlesen können, welche Erwägungen dem neuen Gesetz zugrunde liegen. Dieses Erfordernis einer Begründung gilt aber nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen. Selbst wenn eine Behörde einen einzelnen Verwaltungsakt erlässt, muss sie diesen begründen. Versagt etwa eine Baubehörde die Genehmigung eines Bauvorhabens, so wird sie auch eine solche individuelle Versagung gegenüber der verhinderten Bauherrin oder dem verhinderten Bauherrn stets mit einer Erläuterung versehen.

Die Grundsätze der Öffentlichkeit und der Begründungspflicht sichern aus rechtsstaatlicher Perspektive vor allem, dass die Ausübung deutscher Staatsgewalt im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit dem geltenden Recht überprüft werden kann. Damit stellen sie sich letztlich als eine Fortsetzung der oben bereits besprochenen Rechtsbindung der deutschen Staatsgewalt dar.

Hinzu kommt der für das deutsche Rechtsstaatsprinzip herausragend wichtige Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Nach diesem Grundsatz ist es erforderlich, dass stets ein angemessenes Verhältnis zwischen dem durch ein bestimmtes staatliches Handeln verfolgten Ziel einerseits und den damit einhergehenden Beschränkungen für die Bürgerinnen und Bürger andererseits besteht. Das bedeutet zum einen, dass dort, wo ein solches angemessenes Verhältnis zwischen Ziel und Mittel nicht gegeben ist, das staatliche Handeln zu unterbleiben hat. Zum anderen bedeutet es, dass die zur Erreichung eines bestimmten Ziels ausgeübte Staatsgewalt stets auf das unbedingt notwendige Maß belastender Einwirkungen zu begrenzen ist.

Beispiel Ladendieb: Wollen eine Polizeibeamtin oder ein Polizeibeamter eine auf frischer Tat ertappte flüchtende Ladendiebin oder einen Ladendieb aufhalten, so dürfen sie oder er dies nicht anhand eines gezielten Schusses mit der Dienstwaffe tun. Das Verhältnis von Ziel (Festnahme und Strafverfolgung der Diebin oder des Diebes sowie Rückgabe der Beute) und Mittel (schwere Verletzung, möglicherweise sogar der Tod der Diebin oder des Diebes sowie die zusätzliche Gefährdung Unbeteiligter) stehen in einem offensichtlichen Missverhältnis.

Verhältnismäßigkeit zwischen Ziel und Mittel läge hingegen dann vor, wenn die Festnahme durch ein Verfolgen, Greifen an der Jacke und Niederringen geschähe. Ist der gezielte Schuss mit der Dienstwaffe aber tatsächlich die einzige Möglichkeit, um die Ladendiebin oder den Ladendieb festzunehmen, so nimmt die rechtsstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland in Kauf, dass die Ladendiebin oder der Ladendieb in diesem Fall entkommen kann.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird jedoch nicht nur auf exekutives Handeln angewendet, sondern auch auf alle übrigen Arten der Ausübung deutscher Staatsgewalt – so etwa auch auf die deutsche Gesetzgebung.

Beispiel Antiterrordateigesetz: Ein gutes Beispiel für ein Gesetz, das aus der Perspektive des deutschen Rechtsstaatsprinzips gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstieß (und deshalb im Jahr 2013 durch das BVerfG in Teilen für verfassungswidrig erklärt wurde), war das sogenannte Antiterrordateigesetz.

Das damalige Gesetz verfolgte das Ziel, durch eine Erleichterung des Informationsaustausches zwischen verschiedenen deutschen Behörden eine Verbesserung bei der Abwehr terroristischer Gefahren zu erreichen. Dazu sah es als Mittel die Einrichtung einer Antiterrordatei von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten vor, in der die Daten von Angehörigen terroristischer Vereinigungen und deren sogenannten Unterstützerinnen und Unterstützern zentral gespeichert werden sollten. Aus rechtsstaatlicher Perspektive ist eine solche zentrale Speicherung und der Austausch von individuellen Daten zwischen Polizei und Nachrichtendiensten besonders bedenklich, weil es die (wenn auch zunächst hypothetische) Gefahr birgt, dass diese sensiblen Daten durch die Staatsgewalt missbraucht werden.

Das BVerfG erklärte daher zwar die Speicherung der Daten von Angehörigen terroristischer Vereinigungen für verfassungsgemäß. Für die Speicherung von sogenannten Unterstützerinnen und Unterstützern stellte es hingegen einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz fest. Weil unter "Unterstützerinnen und Unterstützern" auch solche Personen verstanden werden könnten, denen es gar nicht um die Unterstützung terroristischer Aktivitäten geht, sondern um sonstige, grundsätzlich unproblematische Unterstützungen (wie z.B. die unwissentliche Vermietung einer Wohnung an Angehörige einer terroristischen Vereinigungen o. ä.), könne es im Ergebnis (sozusagen als "Beifang") dazu kommen, dass auch Daten unbescholtener Personen gespeichert würden, die überhaupt nicht in terroristische Machenschaften involviert sind. Das Verhältnis von Ziel und Mittel wäre dann insoweit nicht mehr angemessen. Das Gesetz musste daher nachgebessert werden.

Effektiver Rechtsschutz gegen die deutsche Staatsgewalt

Ein weiteres wesentliches Element der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ist das Vorhandensein eines effektiven Rechtsschutzes.

Gerade weil die deutsche Staatsgewalt auf die Bürgerinnen und Bürger beschränkend einwirken kann, muss den Betroffenen im Rechtsstaat die Möglichkeit gegeben werden, das Handeln der öffentlichen Gewalt in einem gerichtlichen Verfahren auf seine Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen. In der deutschen Verfassung ist dieser Grundsatz vor allem in Art. 19 Abs. 4 GG geregelt.

Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG
(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.

Ist eine Bürgerin oder ein Bürger der Auffassung, die deutsche Staatsgewalt verhält sich ihr oder ihm gegenüber rechtswidrig, so kann sie oder er dagegen im Wege des Rechtschutzes gerichtlich vorgehen.

Beispiel Wohnungsdurchsuchung II: Zur Verdeutlichung soll hier noch einmal auf das oben bereits verwendete Beispiel zurückgekommen werden, bei dem Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte die Privatwohnung einer Person ohne besonderen Anlass durchsuchten.

Ist die betroffene Person (richtigerweise) der Ansicht, es handele sich bei einer solchen anlasslosen Durchsuchung um einen Verstoß gegen die geltenden Polizeigesetze, so steht ihr die Möglichkeit offen, Klage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht zu erheben. Das Gericht wird auf diese Klage dann mit einem Urteil die Rechtswidrigkeit des Handelns der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten (die einen Teil der deutschen Staatsgewalt bilden) feststellen.

Macht das Verwaltungsgericht dies wider Erwarten nicht, so steht der von der Durchsuchung betroffenen Person zunächst der Rechtsweg in die höheren Instanzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit offen. Bleibt auch dies ohne Erfolg, so ist es "in letzter Instanz" möglich, eine Verfassungsbeschwerde gegen die polizeiliche Durchsuchung (und die ablehnenden Entscheidungen der Gerichte) beim BVerfG zu erheben. Der Rechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger ist also umfassend gewährleistet.

Rechtsschutz ist aber natürlich nicht erst dann möglich, wenn staatliche Maßnahmen bereits abgeschlossen sind. Sehr häufig wird es für die Bürgerinnen und Bürger von Interesse sein, sich gegen eine staatliche Maßnahme zu wehren, deren beschränkende Wirkung für sie gerade noch andauert. Es geht dann nicht mehr nur um die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit des staatlichen Handelns, sondern auch um deren möglichst baldige Beendigung.

Beispiel Demonstrationsverbot: Ein solche Situation liegt etwa dann vor, wenn ein "Bündnis für Tierwohl" ordnungsgemäß für den kommenden Sonntag eine Demonstration anmeldet, bei der gegen Massentierhaltung demonstriert werden soll, die zuständige Versammlungsbehörde diese Demonstration jedoch (zu Unrecht) mit dem Hinweis verbietet, von einer solchen Demonstration gehe eine unerwünschte sonntägliche Lärmbelästigung aus.

In der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland steht den Verantwortlichen des Bündnisses nun der Rechtsweg zum Verwaltungsgericht offen. Kommt das zuständige Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis, dass die mit einer Lärmbelästigung begründete Untersagung der Demonstration tatsächlich gegen das geltende Versammlungsrecht verstößt, so wird es nicht nur die Rechtswidrigkeit der behördlichen Maßnahme feststellen, sondern diese in ihrer beschränkenden Wirkung ja gerade noch andauernde Maßnahme auch aufheben. Mit dieser durch das Gericht nun neu gestalteten Rechtslage kann die Demonstration so doch noch am kommenden Sonntag stattfinden.

Die rechtsstaatliche Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes kann allerdings gerade bei solchen staatlichen Maßnahmen, die nicht nur eine einzelne, sondern eine Vielzahl von Personen und Interessen betreffen, weitreichende Folgen haben. Mitunter kommt es sogar zu Konflikten zwischen dem Erfordernis effektiven Rechtsschutzes einerseits und der Erledigung wichtiger staatlicher Aufgaben andererseits.

Beispiel Stromtrasse: Dies gilt etwa dann, wenn gegen die staatliche Entscheidung zum Bau einer im Rahmen der "Energiewende" dringend benötigten Stromtrasse häufig hunderte, ja sogar tausende Bürgerinnen und Bürger klagen, weil sie durch den geplanten Verlauf der Stromtrasse in ihrem Grundeigentum betroffen sind oder gesundheitliche Beeinträchtigungen fürchten. Hinzu kommen regelmäßig noch eine Reihe von Verfahren, die durch klageberechtigte Umweltverbände initiiert werden, weil diese Nachteile für die Natur erwarten. Die daraus resultierende Vielzahl komplizierter und langwieriger gerichtlicher Prozesse kann dann durchaus dazu führen, dass sich die Erfüllung der wichtigen staatlichen Aufgabe verzögert, die Bürgerinnen und Bürger trotz des Ausstiegs aus der fossil-nuklearen Energiegewinnung im ganzen Land mit ausreichend Strom zu versorgen.

Dennoch muss der Rechtsstaat eine solche Vielzahl von Verfahren zugunsten einer stets effektiv vorhandenen Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung staatlichen Handelns im Grundsatz aushalten. Nur als letzte Lösung sollte im Rechtsstaat die Beschneidung des Rechtsschutzes in Betracht gezogen werden. Zuvor müssen jedenfalls alle anderen Möglichkeiten – etwa die Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren oder die Einstellung weiterer Richterinnen und Richter – in Erwägung gezogen werden.

Insgesamt betrachtet fungiert der gerichtliche Rechtsschutz damit einerseits als Fortsetzung der Rechtsgebundenheit der deutschen Staatsgewalt, andererseits aber auch als wichtiger Aspekt der Gewaltenteilung. Um eine Fortsetzung der Rechtsgebundenheit handelt es sich, weil mit dem gerichtlichen Rechtsschutz die unrechtmäßige, also gegen die geltende Rechtsordnung verstoßende Ausübung deutscher Staatsgewalt konkret festgestellt und beseitigt werden kann. Einen Aspekt der Gewaltenteilung bildet der gerichtliche Rechtsschutz insoweit, als er der rechtsprechenden Gewalt eine besondere Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive (und teilweise auch der Legislative) zuweist.

Allein die Möglichkeit, sich vor einem Gericht gegen das Handeln der Staatgewalt zu wehren, reicht für einen effektiven Rechtsschutz jedoch noch nicht aus. Damit der Rechtsschutz wirklich effektiv ist, bedarf es einiger Voraussetzungen im Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung der deutschen Justiz und der gerichtlichen Verfahren.

Dazu gehört vor allem, dass Gerichte unabhängig und nicht befangen sind (Art. 97 GG). So werden Richterinnen und Richter in Deutschland grundsätzlich auf Lebenszeit ernannt, sind keinerlei inhaltlichen Weisungen durch Vorgesetzte unterworfen und können nicht gegen ihren Willen (vorzeitig in den Ruhestand) versetzt werden. Schon bevor eine Klage überhaupt erhoben wird, steht nach dem gerichtlichen Geschäftsverteilungsplan fest, welche Richterin oder welcher Richter eines Gerichts den nächsten Fall übernimmt (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Richterinnen und Richter werden so davor geschützt, in Abhängigkeitsverhältnisse zu gelangen oder von den übrigen Teilen der Staatsgewalt instrumentalisiert zu werden.

Art. 97 Abs. 1 GG
(1) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.
(2) Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. [...]

Art. 101 Abs. 1 GG
(1) Ausnahmegerichte sind unzulässig. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.

Ein effektiver Rechtsschutz wird außerdem darüber gewährleistet, dass jede Behauptung unrechtmäßiger Ausübung der deutschen Staatsgewalt stets einer eingehenden und umfassenden inhaltlichen Würdigung unterzogen und in einem fairen Verfahren verhandelt wird.

Art. 103 Abs. 1 GG
(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

Der Rechtsschutz wird darüber hinaus, wenn nötig, auch besonders zügig gewährt. Droht ein Handeln der deutschen Staatsgewalt irreversible Konsequenzen zu verursachen, so können die betroffenen Bürgerinnen und Bürger auch vorläufigen Rechtsschutz bei Gericht beantragen. Das Gericht wird die Angelegenheit dann zunächst kursorisch beurteilen und regeln, noch bevor es in einem späteren Verfahren eine endgültige Entscheidung trifft.

Beispiel Abrissverfügung: Verfügt eine Baubehörde wegen eines (fälschlich angenommenen) Verstoßes gegen das geltende Baurecht den Abriss eines Gartenhäuschens und kündigt außerdem an, diesen Abriss schon in der nächsten Woche selbst umzusetzen, so können der betroffene Eigentümer bzw. die Eigentümerin des Gartenhäuschens zwar vor Gericht dagegen klagen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass das Gericht dem Abriss in einem solchen normalen Verfahren rechtzeitig wird Einhalt gebieten können.

Die rechtsstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht dem Eigentümer bzw. der Eigentümerin daher, vorläufigen Rechtsschutz zu beantragen. Das Gericht wird dann in einem vorläufigen Verfahren eine erste Einschätzung des Falles vornehmen. Ist es sich bei dieser ersten Einschätzung unsicher, ob die Abrissverfügung rechtmäßig ist, so wird es gegenüber der Baubehörde anordnen, dass ein Abriss bis zum Abschluss des Hauptverfahrens nicht vollzogen werden darf und den Eigentümer so vor der unumkehrbaren Zerstörung seines Gartenhäuschen (zumindest vorübergehend) schützen.
Schließlich wird in der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland darauf geachtet, dass der Rechtsschutz für alle Bürgerinnen und Bürger einfach und ungehindert zugänglich ist. Soweit sich jemand die Kosten eines Prozesses gegen eine Maßnahme der deutschen Staatsgewalt nicht leisten kann, werden ihr oder ihm regelmäßig Prozesskostenhilfe gewährt. Als weiteres Beispiel für die ungehinderte Zugänglichkeit werden blinden oder sehbehinderten Menschen die Prozessunterlagen auf Wunsch auch in Blindenschrift zur Verfügung gestellt.

Haftung der deutschen Staatsgewalt

Als wichtiges Element des deutschen Rechtsstaatsprinzips ist schließlich die Staatshaftung zu nennen. Die in Art. 20 Abs. 3 GG vorgesehene Rechtsbindung der deutschen Staatsgewalt wird damit zu einem konsequenten Ende geführt.

Verstößt die deutsche Staatsgewalt gegen das (im Rechtsstaat natürlich auch für sie) geltende Recht, so ist es für die Betroffenen nicht nur möglich, diesen Rechtsverstoß rechtskräftig feststellen bzw. beseitigen zu lassen. Vielmehr können sie den Staat für etwaige Schäden, die durch dessen rechtswidriges Verhalten entstanden sind, auch haftbar machen. Seine wesentliche verfassungsrechtliche Ausprägung findet dieses Prinzip der Staatshaftung in Art. 34 GG.

Art. 34 Satz 1 GG
Verletzt jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verantwortlichkeit grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft, in deren Dienst er steht.

Darüber hinaus hat das BVerfG in seiner Rechtsprechung eine Reihe weiterer Möglichkeiten der Staatshaftung entwickelt, sodass mittlerweile eine Vielzahl möglicher Grundlagen staatlicher Haftung für rechtswidriges Handeln existiert.

Beispiel Wohnungsdurchsuchung III: Zur Verdeutlichung soll hier ein drittes Mal auf das oben bereits verwendete Beispiel zurückgekommen werden, bei dem Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte die Privatwohnung einer Person ohne besonderen Anlass durchsuchten. Das Beispiel soll nun aber dahingehend ergänzt werden, dass die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten zum Zweck der Durchsuchung auch noch ohne weitere Ankündigung die Wohnungstür aufgebrochen und so einen Schaden verursacht haben.

Dass die betroffene Person durch das zuständige Verwaltungsgericht die Rechtswidrigkeit der Durchsuchung (inklusive des Aufbrechens der Wohnungstür) feststellen lassen kann, wurde bereits besprochen.

Bedeutsam ist an dieser Stelle aber, dass ihr im deutschen Rechtsstaat außerdem ein Anspruch auf Ersatz des entstandenen Schadens gegenüber der deutschen Staatsgewalt und dabei genauer gesagt gegenüber der Polizeibehörde zusteht, die für die handelnden Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten zuständig ist. Auch diesen Anspruch kann die geschädigte Person gerichtlich feststellen lassen und danach vom deutschen Staat einfordern.

Der wehrhafte Rechtsstaat

Obwohl die heutige rechtsstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine große Errungenschaft darstellt, leben in Deutschland Menschen, die sich (auch gewaltsam) gegen diese Ordnung richten und sie aus verschiedenen Gründen beseitigen wollen – so etwa, wenn in der Ideologie politischer oder religiöser Extremisten kein Platz für die Höchstrangigkeit der deutschen Rechtsordnung oder die Allgemeingültigkeit des Rechts ist. Diese Extremisten weisen also eine für alle Menschen in gleichem Maße geltende Rechtsordnung zurück. Teilweise wird auch bereits die Existenz effektiver Staatsgewalt an sich abgelehnt (Anarchismus). Wieder andere wollen die Staatsgewalt in einer Weise zentralisieren, die schon deren Gewaltenteilung oder Bindung an das Recht nicht zulässt (Diktatur).

Verteidigungsmechanismen

(© picture-alliance, dpa-infografik 15 703; Quellen: BMI, Juraforum)

Der deutsche Rechtsstaat steht solchen Bestrebungen gegen seine wesentlichsten Elemente – die über Art. 79 Abs. 3 GG auch zu den unabänderbaren Teilen der deutschen Verfassung gehören – allerdings nicht wehrlos gegenüber. Vielmehr ist die rechtsstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland durch eine Reihe von Mechanismen geprägt, mit denen sie sich gegen Angriffe verteidigen kann.

So existiert in Deutschland zunächst die Institution des Verfassungsschutzes. Den Behörden des Verfassungsschutzes kommt die Aufgabe zu, relevante Informationen (teilweise auch im Verborgenen) zu sammeln und auszuwerten, um so allgemeine Tendenzen zur Unterminierung des Rechtsstaates frühzeitig zu erkennen und konkrete (auch gewaltsame) Angriffe auf den Rechtsstaat und seine Institutionen mithilfe der Polizei abwehren zu können.

Darüber hinaus sieht das deutsche Strafrecht im Strafgesetzbuch (StGB) empfindliche Strafen für Handlungen vor, die auf die Abschaffung der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gerichtet sind. Zu nennen sind hier beispielweise die Straftatbestände des Hochverrats (§ 81 StGB), des Verbreitens von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (§ 86 StGB), der Bildung terroristischer Vereinigungen (§ 129a StGB) oder der Volksverhetzung (§ 130 StGB).

§ 81 Abs. 1 StGB
Wer es unternimmt, mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt [...] die auf dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beruhende verfassungsmäßige Ordnung zu ändern, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft.

Einen wichtigen Teil der Verteidigungsmechanismen des deutschen Rechtsstaats bildet darüber hinaus die im Grundgesetz geregelte Möglichkeit, politische Parteien oder sonstige Vereinigungen, die darauf ausgerichtet sind, die rechtsstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik zu bekämpfen und zu beseitigen, wegen ihrer Verfassungswidrigkeit zu verbieten.

Art. 21 Abs. 2 GG
(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.

Art. 9 Abs. 2 GG
(2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit [...] sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung [...] richten, sind verboten.

QuellentextExkurs zum NPD-Verbotsverfahren

Das […] Urteil im NPD-Verbotsverfahren hat durchaus historische Bedeutung. Ein Parteiverbot gilt als das "schärfste Schwert" der Demokratie, die inhaltlichen Hürden sind hoch. Das letzte Mal wurde mit der KPD im Jahr 1956 eine Partei verboten, 1952 die "Sozialistische Reichspartei". Der erste Versuch eines NPD-Verbots war 2003 daran gescheitert, dass es zu viele staatliche V-Leute in der Parteiführung gab. […]

In den vergangenen Jahrzehnten gab es nach rechtsextremistischen Vorfällen regelmäßig die politische Forderung, die NPD müsse verboten werden. Nach dem Auffliegen des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) im November 2011 kam das Thema erneut auf die politische Tagesordnung; und blieb es, auch als sich intensive Verbindungen zwischen NSU und NPD nicht erhärten ließen. Zwei Fragen standen im Vordergrund: Würde man die Hürde der V-Leute diesmal nehmen können? Und: Hätte ein Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht wirklich Erfolg? […]

Sollte man Extremismus nicht anders bekämpfen als durch ein Parteiverbot? Sind andere Organisationen nicht viel schlimmer? So lauten häufige Einwände. Politisch kann man das sehr unterschiedlich sehen. Dazu muss man aber wissen: Die Verfasser des Grundgesetzes haben nicht erwartet, dass sich mit einem Parteiverbot Extremismus abschaffen lässt oder Meinungen verbieten lassen. Man entzieht einer Partei die Möglichkeit, an Wahlen teilzunehmen, vom Staat Geld zu bekommen und sich auf die Chancengleichheit zu berufen. Wenn der Antrag einmal gestellt wurde, geht es juristisch allein darum, ob die Voraussetzungen bezogen auf die NPD erfüllt sind oder nicht.

  • Dezember 2013: Der Verbotsantrag von 268 Seiten geht in Karlsruhe ein.

  • März 2015: Das Verfassungsgericht fordert den Bundesrat auf, das Abschalten der staatlichen V-Leute besser zu belegen und gibt Gelegenheit, die inhaltliche Begründung nachzubessern.

  • Mai und August 2015: Der Bundesrat schickt zwei Nachlieferungen nach Karlsruhe. Er legt das Abschalten der V-Leute stärker offen und benennt weitere Beispiele, die die Verfassungswidrigkeit der NPD belegen sollen. Damit wurden auch die zahlreichen ausländerfeindlichen Aktionen des Sommers 2015 Gegenstand des Verfahrens.

  • März 2016: Nachdem das Gericht einige Monate zuvor das Hauptverfahren per Beschluss eröffnet hat, wird drei Tage im Karlsruher Gerichtssaal intensiv verhandelt.

[…] Nur das Bundesverfassungsgericht kann ein Parteiverbot aussprechen. Von der Frage eines Parteiverbotes zu trennen ist, dass Straftaten von Parteimitgliedern wie Volksverhetzung oder Gewalttaten natürlich durch die Strafgerichte geahndet werden können. Das ist eine andere juristische Baustelle. […] Zu Beginn des zweiten Verhandlungstages hat Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle gesagt, dass der Senat kein Verfahrenshindernis wie 2003 sehe. Es ist unwahrscheinlich, dass sich diese Einschätzung im Urteil geändert hat. Beim ersten Versuch zu Beginn der 2000er-Jahre hatten die Sicherheitsbehörden kurz vor der Verhandlung mitgeteilt, dass wichtige Belastungszeugen aus Bundes- und Landesvorständen der NPD gleichzeitig staatliche V-Leute seien, die dem Verfassungsschutz Informationen aus dem Innenleben der Partei lieferten. Man konnte nicht genau feststellen, welche Äußerungen und Aktionen wirklich der NPD zuzurechnen sind, und welche dem Staat. Weil ein rechtsstaatliches Verfahren nicht gewährleistet sei, stellte Karlsruhe das Verbotsverfahren 2003 ein. [...]

Eine rechtsextreme Gesinnung allein dürfte nicht ausreichen für ein Parteiverbot. Umgekehrt ist wohl nicht erforderlich, dass die Partei kurz vor einem erfolgreichen Umsturz steht. Also: Was bedeutet, dass eine Partei "darauf ausgehen" muss, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen? Zentral wird sein, wie hoch das Gericht die Hürden an diesem Punkt hängen wird. Beim KPD-Verbot 1956 hatte Karlsruhe eine "aggressiv-kämpferische Haltung" gefordert. Muss zu dieser Haltung heutzutage noch mehr hinzukommen? In der Verhandlungsgliederung stehen die Prüfungspunkte "Umsetzungsschritte" und "Realisierungschance" für die Ziele der Partei. Das Gericht könnte also für wichtig halten, was die Partei bereits von ihrem Programm in die Tat umsetzt, und welches Potenzial sie hat, es umzusetzen. […]

Die Richter haben große Zweifel daran, dass die Ideologie der NPD der "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" entspricht. Dem Parteivorsitzenden Franz hielten sie zahlreiche Zitate aus dem Parteiprogramm mit rassistischem Inhalt vor. Einwände nach dem Motto "alles nicht so gemeint", ließen sie erkennbar nicht gelten. "Sie gehen da zum Teil weiter als die NSDAP", sagte Verfassungsrichter Peter Müller.

Umgekehrt wurden auch die Vertreter des Bundesrates "gegrillt", vor allem bei der Frage, wie groß der Einfluss der NPD wirklich ist. Richter Müller hielt mehreren Innenministern der Länder deren Verfassungsschutzberichte vor, nach denen die NPD auf dem absteigenden Ast sei. Die Zahl der kommunalen Mandate sei minimal, meinte auch Richter Herbert Landau. "Woran kann man den Dominanzanspruch und die 'Atmosphäre der Angst' genau festmachen?", hieß es immer wieder. Ein Ort wie Jamel in Mecklenburg-Vorpommern, von Extremisten als "national befreite Zone bezeichnet", habe rund 50 Einwohner. Den Richterinnen und Richtern ging es nicht darum, extremistische Aktionen zu bagatellisieren. Aber ihre Fragen klangen so, als ob sie über eine bestimmte Gefahrenschwelle nachdenken, die man für ein Parteiverbot braucht, wenn es weiterhin "schärfstes Schwert" und letztes Mittel sein soll.

Um eine Partei zu verbieten, müssen zwei Drittel der acht Richterinnen und Richter dafür sein. […] Das Grundgesetz verfolgt ausdrücklich das Konzept einer "wehrhaften Demokratie". Es wäre eher ungewöhnlich, wenn das Gericht dieses Instrument völlig unbrauchbar machen würde, gerade in Zeiten erstarkender extremistischer Strömungen. Das Gericht hat die Gelegenheit, die Voraussetzungen für ein Parteiverbot zu konkretisieren und sie damit für kommende Fälle nutzbar zu machen – sei es für eine erstarkte NPD oder andere extremistische Parteien.

Frank Bräutigam, "Das NPD-Verbotsverfahren", in: tagesschau.de vom 17. Januar 2017; © ARD Aktuell; online unter: Externer Link: www.tagesschau.de/inland/faq-npd-verbotsverfahren-103.html

Was spricht für und was gegen ein NPD-Verbot

Kontra

  • Eine streitbare Demokratie muss auch eine extremistische Partei aushalten können. Besser ist es, Neonazis gesellschaftlich entgegenzutreten, anstatt sie juristisch zu bekämpfen.

  • Ein Verfahren gegen die NPD könnte ihr neue Aufmerksamkeit und Zuspruch bescheren. Latent rechtsextreme Wähler werden damit womöglich zu Solidarität mit der Partei bewogen.

  • Ein Verbot der NPD könnte zu einer weiteren Radikalisierung der rechtsextremen Szene führen und noch mehr Neonazis in die oft gewaltbereiten "Freien Kameradschaften" treiben.

  • Damit wäre die rechtsextreme Szene schwerer zu kontrollieren. Eine legale Partei ist einfacher zu beobachten.

  • NPD-Politiker in Landtagen und Kommunalparlamenten verlieren durch ein Parteiverbot nicht automatisch ihr Mandat und könnten die Situation durch eine "Märtyrerpose" ausnutzen.

  • Die NPD kann wohl nur verboten werden, wenn der Nachweis gelingt, dass sie eine "aktiv kämpferische, aggressive Haltung" gegenüber der freiheitlich-demokratischen Grundordnung hat. Doch verfassungsfeindliche Bestrebungen einzelner Parteimitglieder reichen vermutlich nicht aus. Der NPD muss ein gezieltes, gemeinsames Agieren mit Neonazi-Gewalttätern nachgewiesen werden.

Pro

  • Durch ein Verbot der NPD würde der rechtsextremen Szene in Deutschland die Organisationsplattform entzogen werden.

  • Damit würden auch die Zahlungen an eine rechtsextreme, rassistische Partei gestoppt werden. Die NPD erhält das meiste Geld vom Steuerzahler über die Parteienfinanzierung.

  • Ein Verbot der Partei würde ein deutliches Zeichen gegen Rechtsextremismus setzen – sowohl an die Deutschen als auch ins Ausland.

  • Das gilt besonders in einem Land, von dem einst im Namen des Nationalsozialismus millionenfacher Mord ausging.

  • Die NPD ist der legale Arm von freien Neonazi-Verbänden. Die müssten dann auf diese Vernetzung verzichten.

Das NPD-Verbotsverfahren von 2003 scheiterte am Einsatz von V-Leuten. Bund und Länder versichern, dass nun alle V-Leute in der NPD-Führung vor Monaten "abgeschaltet" wurden. Sollte sich jedoch herausstellen, dass sich die aktuellen Belege gegen die NPD doch auf Informationen von V-Leuten stützen, ist ein Scheitern zu befürchten.

Ernst Eisenbichler, "Was spricht für und was gegen ein NPD-Verbot Pro und Kontra", in: BR24 vom 7. Januar 2015

Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Januar 2017 zum NPD-Verbotsverfahren

Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) vertritt ein auf die Beseitigung der bestehenden freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtetes politisches Konzept. Sie will die bestehende Verfassungsordnung durch einen an der ethnisch definierten "Volksgemeinschaft" ausgerichteten autoritären Nationalstaat ersetzen. Ihr politisches Konzept missachtet die Menschenwürde und ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar. Die NPD arbeitet auch planvoll und mit hinreichender Intensität auf die Erreichung ihrer gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Ziele hin. Allerdings fehlt es (derzeit) an konkreten Anhaltspunkten von Gewicht, die es möglich erscheinen lassen, dass dieses Handeln zum Erfolg führt, weshalb der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts den zulässigen Antrag des Bundesrats auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit und Auflösung der NPD und ihrer Unterorganisationen (Art. 21 Abs. 2 GG) mit heute verkündetem Urteil einstimmig als unbegründet zurückgewiesen hat.

Bundesverfassungsgericht: Kein Verbot der NPD wegen fehlender Anhaltspunkte für eine erfolgreiche Durchsetzung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele, Pressemitteilung Nr. 4/2017 vom 17. Januar 2017

In Ausnahmefällen können außerdem Richterinnen und Richter aus dem Amt entfernt werden. Dies ist insbesondere durch eine Richteranklage vor dem BVerfG möglich. Voraussetzung für eine Entfernung ist allerdings die hohe Hürde, dass eine Richterin oder ein Richter sich in aggressiv-kämpferischer Weise gegen die rechtsstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gerichtet hat.

Art. 98 Abs. 2 und 5 GG
(2) Wenn ein Bundesrichter im Amte oder außerhalb des Amtes gegen die Grundsätze des Grundgesetzes oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung eines Landes verstößt, so kann das Bundesverfassungsgericht mit Zweidrittelmehrheit auf Antrag des Bundestages anordnen, daß der Richter in ein anderes Amt oder in den Ruhestand zu versetzen ist. Im Falle eines vorsätzlichen Verstoßes kann auf Entlassung erkannt werden.

(5) Die Länder können für Landesrichter eine Absatz 2 entsprechende Regelung treffen. Geltendes Landesverfassungsrecht bleibt unberührt. Die Entscheidung über eine Richteranklage steht dem Bundesverfassungsgericht zu.

QuellentextWann können Richter aus dem Amt entfernt werden?

[…] Am […] [24. März] ist […] [Jens Maier] vorläufig vom Dienst suspendiert worden. Ihm sei "die Führung der Amtsgeschäfte untersagt", so heißt es in der Entscheidung des Dienstgerichts für Richter in Leipzig. Der Grund: Jens Maier ist ein Rechtsextremist, das ist sozusagen amtlich, schon seit 2020 steht sein Name im Verfassungsschutzbericht.

Auch deshalb kann man die Frage stellen, warum Jens Maier überhaupt ins beschauliche Osterzgebirge kommen konnte: in die Position eines Richters. Der Mann, der AfD-Bundestagsabgeordneter von 2017 bis 2021 und Obmann des besonders radikalen "Flügels" der Partei in Sachsen war, der die gleichgeschlechtliche Ehe ein "dekadentes Konstrukt" genannt und gesagt hat, man solle die ZDF-Journalistin Marietta Slomka "entsorgen" – er ist ja erst kürzlich hierhin geschickt worden. Sachsens Justizministerin hat ihm diesen Arbeitsplatz zugewiesen. Auch die Suspendierung, Aktenzeichen 66 DG 1/22, ist nur vorläufig, eine Anordnung im Eilverfahren. Ausgang offen. […]

Der AfD-Jurist Jens Maier [sollte] […] in Dippoldiswalde zivilrechtliche Verfahren betreuen, Nachbarschaftsstreitigkeiten, Testamente, solche Sachen. Das Amtsgericht ist zuständig für Gemeinden mit Namen wie Oberhäslich, Kreischa, Elend. Aber wer glaubt, einer wie Maier könne in der Provinz keinen Schaden anrichten, sondern verbringe den Tag mit Bleistiftanspitzen, der übersieht, worum es hier geht.

Ein Zivilrichter schickt niemanden ins Gefängnis. Er entscheidet nicht über Abschiebungen. Aber auch Konflikte, die man mit dem Vermieter hat, können existenziell sein. Den gesetzlichen Richter kann man sich nicht aussuchen, man bekommt ihn zugewiesen, je nach Anfangsbuchstabe des Nachnamens. Und wer mag dann glauben, dass dieser Richter alle Menschen gleichbehandelt, wenn er zuvor in einer Rede in Dresden im Januar 2017 von der "Herstellung von Mischvölkern" gesprochen hat? Durch sie würden "nationale Identitäten" ausgelöscht, was "einfach nicht zu ertragen" sei. […]

Oder dies: Im Landgasthof Heidekrug in Cotta im April 2017 äußerte Maier Verständnis für die Motive des norwegischen Massenmörders Anders Breivik, der 77 Menschen aus rassistischen Motiven tötete. Der Norweger sei "aus Verzweiflung heraus zum Massenmörder geworden", sagte der AfD-Politiker auf einer Veranstaltung des rechtsextremen Magazins Compact. […] Ohrenzeugen haben es berichtet: Jens Maier schloss die Frage an, ob der um sich greifende Multikulturalismus, die Vermischung der Kulturen innerhalb westlicher Gesellschaften, nicht "zum Wahnsinnigwerden" sei.

[…] 2017 […] war Maier bereits Richter, er arbeitete in der großen Stadt, am Landgericht Dresden. Hier ist der 1962 in Bremen geborene Jurist im Jahr 1997 angekommen, hier hat er Karriere gemacht, lange Zeit unauffällig. Der Präsident des Dresdner Landgerichts verhängte dann im August 2017 eine Disziplinarstrafe gegen Maier. Einen Verweis wegen Verstoßes gegen das Mäßigungsgebot.

Aber seitdem Jens Maier zurückgekehrt ist aus dem Bundestag, muss sich das sächsische Justizministerium mit ihm beschäftigen. An dieses hat sich Maier mit einer Bitte gewandt: Er wolle in seinen alten Beruf zurückkehren. An irgendein Gericht in Sachsen, an dem eine geeignete Stelle frei sei. […]

Die Ministerin hat sich einen juristischen Berater von außen geholt, einen der angesehensten Kenner des Beamtenrechts, den Bonner Professor Klaus Ferdinand Gärditz. Kurzer Anruf bei ihm […] "Das Dienstrecht für Richter ist geschaffen worden, um Richter zu schützen. In den Fünfzigerjahren waren das noch zu 90 Prozent alte Nazirichter. Da wollte man noch nicht so genau nach der Verfassungstreue fragen. Das Leitbild war eher: Man schützt die Richterschaft vor einer machthungrigen Exekutive."

Das Ergebnis: Die Ministerin hat dem AfD-Richter dann nach sehr langer Grübelzeit einen Richterposten angeboten, in Dippoldiswalde, eine halbe Stunde Autofahrt von Dresden entfernt – gleichzeitig aber sofort das Dienstgericht für Richter angerufen, es möge Herrn Maier in den vorzeitigen Ruhestand schicken, weil eine "schwere Beeinträchtigung der Rechtspflege" drohe. Dann geschah erst einmal nichts. Das Dienstgericht ließ sich Zeit. Vielleicht ebenfalls zum Grübeln. Und Jens Maier trat nach vier Jahren im Bundestag ungehindert seinen Dienst "im Namen des Volkes" an.

Rainer Aradei-Odenkirchen ist Familienrichter, seit 2016 Direktor des Amtsgerichtes Dippoldiswalde […]. Natürlich weiß er, welche Fragen jetzt kommen, er hat sie alle oft genug gehört: ein Rechtsextremist als Richter und Kollege, wie kann das angehen, was bedeutet das für den Alltag an so einem Amtsgericht? […] "Meine Aufgabe ist es, dass hier jede Richterin und jeder Richter vollumfänglich seiner Arbeit nachgehen kann", sagt er. Jens Maier habe am 14. März seinen Dienst angetreten, sei ordnungsgemäß empfangen worden, keine besonderen Vorkommnisse. […]

Durch Jens Maiers Ruf als Rechtsextremist könne "das öffentliche Vertrauen in eine unabhängige und unvoreingenommene Rechtspflege beseitigt oder gemindert" werden, so hat jetzt das Dienstgericht seine Entscheidung begründet, Maier doch noch zu suspendieren. Das hätte man zwar schon vor Wochen feststellen können. Aber erst jetzt, so das Dienstgericht bedauernd, habe man es geschafft, eine Anhörung Maiers durchzuführen. [..]

Ein bis zwei Jahre kann das Verfahren sich jetzt noch hinziehen, schätzen Fachleute. Jens Maier lässt sich von einem rechten Szeneanwalt vertreten, Jochen Lober aus Köln, und streiten können sie vor drei Instanzen. Über dem Dienstgericht in Leipzig steht noch der Dienstgerichtshof in Dresden. Darüber steht noch der Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Bislang hat ja nicht einmal die erste Instanz sich wirklich festgelegt.

Für das Amtsgericht Dippoldiswalde bedeutet das: Der Stuhl für Jens Maier muss so lange warmgehalten werden. […]

Ulrike Nimz / Ronen Steinke, "Dienst nach Vorschrift", in: Süddeutsche Zeitung vom 28. März 2022

Im absoluten Notfall und als allerletztes Mittel könnte theoretisch sogar die Bundeswehr im Inland eingesetzt werden, um sich gegen massive Angriffe auf die rechtsstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland zu wehren. Voraussetzung dafür wäre jedoch, dass die Polizeikräfte des Bundes und der Länder die Lage nicht mehr kontrollieren könnten – ein nahezu unvorstellbarer, bürgerkriegsähnlicher Zustand.

Art. 87a Abs. 4 GG
(4) Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung, wenn [...] die Polizeikräfte sowie der Bundesgrenzschutz nicht ausreichen, Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen. […]

Spannungslagen

Die Möglichkeiten des wehrhaften deutschen Rechtsstaats sind jedoch ihrerseits nicht frei von Ambivalenz. Wo dem (Rechts-)Staat die Mittel zur Verfügung gestellt werden, sich gegen seine Angreifer zu wehren, ist die Gefahr eines Umschlagens in die staatliche Tyrannei nie ganz ausgeschlossen. Oder einfacher: Wer garantiert, dass die Staatsgewalt die ihr gegen "Verfassungsfeinde" zur Verfügung gestellten Mittel nicht auch gegen solche Menschen einsetzt, die sich lediglich in zulässiger Kritik, etwa an den bestehenden politischen Verhältnissen, betätigen?

Auch wenn die Situation in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt sicherlich weit davon entfernt ist, dass die zur Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit eingeräumten Mechanismen in tyrannischer Weise missbraucht würden, bedarf es doch stets der wachsamen Beobachtung aller in diese Richtung weisender Entwicklungen. Gerade dem – entgegen rechtsstaatlichen Grundsätzen ausnahmsweise auch im Geheimen agierenden Verfassungsschutz – muss dabei besondere Aufmerksamkeit zukommen, denn bereits strukturell sind geheim handelnde Behörden die größte potenzielle Gefahr für einen staatlichen Machtmissbrauch.

Es soll daher noch einmal auf das obige Beispiel des bundesverfassungsgerichtlichen Urteils zum Antiterrordateigesetz verwiesen werden. Das Gesetz sollte es dem Verfassungsschutz und den Polizeibehörden ermöglichen, zur Abwehr terroristischer Gefahren (auch für den Rechtsstaat) eine Vielzahl von Daten der Mitglieder terroristischer Vereinigungen, aber auch von deren (mitunter unbescholtenen, weil unwissentlichen) "Unterstützerinnen und Unterstützern" zu sammeln. Letztlich scheiterte die Legislative mit diesem Vorhaben aber – zumindest hinsichtlich der Daten der "Unterstützerinnen und Unterstützer" – am rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Der Versuch einer zu weit gehenden Vertiefung der rechtsstaatlichen Verteidigungsmittel fand hier also seinerseits eine Grenze in den rechtsstaatlichen Ansprüchen der Bundesrepublik Deutschland an sich selbst. Diese Balance zwischen Verteidigung und Achtung des Rechtsstaats belegt sehr deutlich, dass sich die (wehrhafte) Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland in einem guten Zustand befindet.

QuellentextDie Arbeit des Verfassungsschutzes

(© picture-alliance, dieKLEINERT|Markus Grolik)

[…] Als 2016 die Reform des bayerischen Verfassungsschutzes beschlossen wurde, versuchte der zuständige Innenminister, deren Tragweite zu konturieren. Im Dienste von Freiheit und Sicherheit gehe das Gesetz "bis an die Grenzen" des Rechtsstaats, sagte Joachim Herrmann. Tatsächlich geht es weit darüber hinaus. Das hat nun der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in einer Grundsatzentscheidung zur deutschen Sicherheitsarchitektur klargestellt. Deutlicher hätten die Richter den Verfassungsschutz dabei kaum in seine Grenzen weisen können. Sie verwarfen zahlreiche Regelungen als verfassungswidrig, unter anderem die Wohnraumüberwachung und Onlinedurchsuchung. Die bayerischen Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung sind sogar nichtig, also auch durch eine Neufassung nicht zu retten. […]

Kern der Entscheidung ist die Abgrenzung zwischen Polizei und Verfassungsschutz. Der Inlandsnachrichtendienst ist mit seinem Bundesamt und den Landesämtern für das Vorfeld von Gefahren zuständig. Er sammelt Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen. Aufgabe der Polizei ist es, konkrete Straftaten zu verhindern und aufzuklären. Dazu hat sie operative Befugnisse, kann etwa Menschen festnehmen. Der im Verborgenen agierende Nachrichtendienst darf dagegen keinen Zwang ausüben. So sieht es das Trennungsgebot vor.

Was noch "Vorfeld" ist und was konkrete Gefahr, ist nicht immer einfach auszumachen. Definiert ist der Begriff nicht. Aus historischen Gründen wird er recht weit gefasst, in der Aufgabe des Verfassungsschutzes kommt schließlich das Konzept der "streitbaren Demokratie" zum Tragen. Nach den Erfahrungen im Nationalsozialismus wollte der Staat rechtzeitig gegen Verfassungsfeinde vorgehen können. Das Vorfeld kann deshalb auch intellektuelle Aktivitäten umfassen. Auf die Gefahr, die darin steckt, dass der Staat schon Haltungen in den Blick nimmt, haben Kritiker stets hingewiesen. […]

Infolge der Aufgabentrennung gelten für polizeiliches und nachrichtendienstliches Handeln auch unterschiedliche Anforderungen. Eine Verfassungsschutzbehörde muss grundsätzlich nicht warten, bis eine konkrete Gefahr im polizeilichen Sinne besteht; es reicht ein "hinreichender verfassungsschutzspezifischer Aufklärungsbedarf". Je schwerer der Eingriff ist, desto dringender muss das Beobachtungsbedürfnis sein. Wenn der geheim agierende Verfassungsschutz Maßnahmen ergreift, die zu einer weitgehenden Erfassung der Persönlichkeit führen können, gelten sogar dieselben Verhältnismäßigkeitsanforderungen wie für die Polizei.

Diesen Anforderungen entspricht das bayerische Gesetz in großen Teilen nicht. So sind die bisherigen Regeln zur Wohnraumüberwachung mangels strenger Voraussetzungen verfassungswidrig. Artikel 13 Grundgesetz erlaubt eine solche Maßnahme nur zur Abwehr "dringender Gefahren", wie das Verfassungsgericht in Erinnerung ruft. Eine entsprechende Begrenzung fehlt bislang im bayerischen Gesetz. Auch die Regelungen, die den privaten Kernbereich schützen sollen, halten die Richter für unzureichend. Der Verfassungsschutz dürfe hier außerdem nur subsidiär einschreiten, wenn polizeiliche Hilfe nicht rechtzeitig zu bekommen sei. Auch dazu schweigt das Gesetz.

Die Verfassungsrichter haben auch die Befugnisse zur Onlinedurchsuchung verworfen. In der jetzigen Form verstoßen sie gegen das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, eine Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Nur zur Abwehr einer "mindestens konkretisierten" Gefahr im polizeilichen Sinne wäre die Maßnahme erlaubt. Und auch hierbei ist der private Kernbereich zu schützen und der Verfassungsschutz nur subsidiär zuständig. Die Regelungen zur Ortung von Handys sind ebenfalls verfassungswidrig. In ihrer bisherigen Form ermöglichen sie es dem Verfassungsschutz, umfängliche Bewegungsprofile zu erstellen. Auch hierfür fordern die Richter eine "verfassungsschutzspezifische Eingriffsschwelle". Außerdem brauche es wegen des potentiell schweren Eingriffs eine unabhängige Kontrolle vorab. Auch der Einsatz von verdeckten Mitarbeitern des Verfassungsschutzes und von V-Leuten entspricht den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen nicht. Gleiches gilt für die Observation von Menschen außerhalb ihrer Wohnungen; sie verstößt gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Die Richter vermissen auch hier präzise und strenge Eingriffsschwellen, ebenso eine unabhängige Vorabkontrolle. […]

Den Klägern ging es in Karlsruhe auch um den Informationsaustausch zwischen Verfassungsschutz und anderen Sicherheitsbehörden. […] Dieses "informationelle Trennungsgebot" hoben die Verfassungsrichter schon 2013 hervor, als sie über die sogenannte Antiterrordatei entschieden. Auch […] [diesmal] betonten sie das diesem Gebot entsprechende Kriterium der "hypothetischen Neuerhebung". Entscheidend ist demnach, ob der Empfänger von Informationen auch zur deren Erhebung befugt wäre. Geteilt werden dürfen sie insofern nur unter strengen Voraussetzungen. Strafverfolger etwa dürfen nur bedient werden, wenn es um schwere Taten geht. "Zwecke der öffentlichen Sicherheit", wie es bislang im Gesetz heißt, genügen nicht.

[…] Doch nicht nur die Bayern, sondern auch die anderen Bundesländer und der Bund werden sich ihre eigenen Gesetze genau anschauen müssen. Die Anforderungen, die Karlsruhe für die Arbeit der Verfassungsschützer aufgestellt hat, gelten auch für sie. Das Bundesverfassungsgericht hat abermals klargestellt, dass zum Schutz der inneren Sicherheit tiefgreifende Grundrechtseingriffe erlaubt sind – sofern sie strenge Voraussetzungen erfüllen. […]

Helene Bubrowksi / Marlene Grunert, "Operation am Herzen der Verfassung", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. April 2022; © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

Prof. Dr. Till Patrik Holterhus, MLE., LL.M. (Yale), geb. 1983, seit 2022 Vertreter des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Verwaltungsrecht an der Leuphana Universität Lüneburg.

Seine Forschungsschwerpunkte sind: Öffentliches Recht (in seinen in- ternationalen Bezügen), Europa- und Völkerrecht, Rechtsstaatstheorie

Seine Anschrift lautet:
Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Verwal- tungsrecht
Fakultät Staatswissenschaft
Leuphana Universität Lüneburg
Universitätsallee 1
21335 Lüneburg

Danksagung: Der Autor dankt Sven Siebrecht für seine wertvolle Mitarbeit.