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Die Erstürmung der Stasi-Zentrale

Nicholas Brautlecht

/ 4 Minuten zu lesen

Am 15. Januar 1990 besetzten DDR-Bürger die Zentrale der Staatssicherheit in Berlin. Sie wollten damit die Vernichtung der Geheimdienstakten stoppen, die bald nach dem Mauerfall begonnen hatte.

Stürmung der Stasi-Zentrale in Berlin, zwei Monate nach dem Mauerfall. (© AP)

"Mit Fantasie und ohne Gewalt." So lautete der Aufruf der Bürgerbewegung "Neues Forum" zur Kundgebung vor den Toren der Stasi-Zentrale am 15. Januar 1990. Tausende Demonstranten waren dem Aufruf gefolgt und verlangten die Abschaffung des DDR-Geheimdienstes. Sie wollten die Tore des Gebäudes in der Normannenstraße symbolisch vermauern und damit die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit besiegeln.

Doch die Stimmung der DDR-Bürger, die sich gegen 17 Uhr vor den Toren des Hauptquartiers versammelt hatten, war aufgeheizt. Als die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley zur Ruhe mahnte, wurde sie ausgepfiffen. "Stasi raus" und "Korrupter SED-Adel an den Pranger!" skandierten die Demonstranten. Zugleich forderten sie Einlass in die seit vier Jahrzehnten gesicherte Stasi-Zentrale. Tatsächlich öffnete sich plötzlich der Eingang. Etwa 2.000 Demonstranten strömten in den Hof und die Gänge des Hauptquartiers. Die meisten gelangten in den Versorgungstrakt und stießen auf eine Fülle von West-Delikatessen – für DDR-Zeiten unvorstellbarer Luxus – was ihre Wut noch steigerte. Scheiben klirrten und Papiere, Stühle und Tische wurden aus den Fenstern geworfen. Es kam zu tumultartigen Szenen.

Bereits im Dezember hatten DDR-Bürger in Städten wie Erfurt und Leipzig Stasi-Niederlassungen besetzt. Sie wollten damit die Aktenvernichtung stoppen, die die Stasi nach dem Mauerfall am 9. November 1989 begonnen hatte, um ihre Taten zu verschleiern und Inoffizielle Mitarbeiter (IM) vor der Enttarnung zu schützen. Ungeachtet dieser Protestaktionen setzte die Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg ihre Arbeit unvermindert fort. Das stieß auf großen Unmut bei der Opposition – ebenso die Pläne des DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow, die Stasi durch eine Umwandlung in einen Verfassungsschutz und einen Nachrichtendienst in die neue Zeit zu retten.

Ebenfalls am 15. Januar 1990, nur wenige Stunden vor der Erstürmung der Stasi-Zentrale, war der "Zentrale Runde Tisch" in Ost-Berlin zusammen gekommen: Die Sitzung des Gremiums aus Oppositionellen und Regierungsvertretern, die landesweit im Rundfunk übertragen wurde. Ein Mitarbeiter des Ministerrats berichtete erstmals öffentlich über das Ausmaß der Geheimdienstaktivitäten. Die Zahlen übertrafen alle Befürchtungen: rund 85.000 hauptamtliche und 109.000 Inoffizielle Mitarbeiter seien Ende der achtziger Jahre im Einsatz gewesen. Die Behörde der Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen (BStU) geht heute davon aus, dass noch weitaus mehr Menschen für die Stasi arbeiteten: 1989 waren es rund 91.000 hauptamtliche und 174.000 IMs. Was auf der Sitzung des Runden Tisches außerdem deutlich wurde: Die Bewaffnung des DDR-Geheimdienstes glich der einer geheimen Bürgerkriegsarmee. Knapp 125.000 Pistolen, 77.000 Maschinengewehre und zahlreiche weitere Waffen waren im Stasi-Besitz. Diese Zahlen stärkten den Unmut der Opposition über die schleppende Auflösung des Geheimdienstes – und ihren Willen, eine sofortige Schließung der Berliner Stasi-Zentrale zu bewirken.

Die Nachricht über die Ereignisse in Berlin-Lichtenberg erreichte den Runden Tisch am frühen Abend. Die Teilnehmer brachen die Gespräche ab und fuhren gemeinsam mit Ministerpräsident Modrow in die Normannenstraße. Es gelang ihnen, die dortige Lage zu entspannen, in dem sie die Demonstranten zu Ruhe und Besonnenheit aufriefen. Letztendlich entstand an diesem Abend zwar erheblicher Sachschaden, doch zu Opfern kam es nicht.

Wer das Tor zur Stasi-Zentrale geöffnet hat, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Die Publizistin Anne Worst geht davon aus, dass die Demonstranten damals Teil einer Inszenierung durch die Stasi geworden sind. In ihrem Buch "Das Ende eines Geheimdienstes. Oder: Wie lebendig ist die Stasi?" zitiert sie Zeitzeugen mit den Worten, dass sich die Stahltore damals nicht durch den Druck der Massen geöffnet hätten, sondern von innen "freiwillig" entriegelt worden seien. Zudem stellt sie Vermutungen an, dass verdeckte Stasi-Männer die Demonstranten gezielt in den Versorgungstrakt und weg von den Akten gelenkt hätten. Das Chaos und die Gewalt gegen Sachen in der bis dato friedlichen Revolution sollten der DDR-Regierung Argumente liefern, den Sicherheitsapparat doch mit einem Verfassungsschutz auszustatten. Andere Historiker gehen davon aus, dass im Gebäude Anwesende die Tore öffneten, weil sie fürchteten, in der drangvollen Enge würden Menschen zu Schaden kommen.

Eine Woche nach den historischen Ereignissen sprach sich der Runde Tisch für die Einrichtung einer "Gedenk- und Forschungsstelle zum DDR-Stalinismus" in der Normannenstraße aus. Am 7. November 1990 nahm das "Stasi-Museum" seinen regulären Betrieb auf. Heute besichtigen jährlich rund 80.000 Besucher die Ausstellung, in der auch das Arbeitszimmer des letzten Stasi-Chefs Erich Mielke zu sehen ist. Das papierene Erbe und die hinterbliebenen Tonbänder und Filme des DDR-Geheimdienstes verwahrt die Behörde der Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen (BStU) auf.

Dass die Aufarbeitung der SED-Diktatur ein wichtiges gesellschaftliches Anliegen bleibt, ist auch der Verdienst der Oppositionellen und Bürgerrechtler von damals. Sie retteten durch die Besetzung der Stasi-Verwaltungen rund 16.000 Säcke mit zerrissenen Dokumenten vor der endgültigen Vernichtung. Seit 1995 setzen BStU-Mitarbeiter die Einzelteile der Akten mühsam wieder zusammen.

Fussnoten

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Nicholas Brautlecht lebt als freier Journalist in Berlin und ist Mitglied des Netzwerks für Osteuropa-Berichterstattung "n-ost". Seine Schwerpunkte sind Außenpolitik, Kultur sowie Gesellschaft und Soziales. Er schreibt unter anderem für die Berliner Zeitung, Frankfurter Rundschau, Reuters und Spiegelonline. Sein Text über die Mauer am 9. November 1989 erschien 2009, er wurde 2018 von Holger Kulick ergänzt.