Demokratiebewegung und Ausreisestrom drängten die DDR-Führung im Herbst 89 in die Defensive. Ab Mitte Oktober überschlugen sich die Ereignisse. Die "Macht der Straße" setzte sich durch - ohne Gewalt. Zum Fall der Mauer trug allerdings auch eine geschichtsträchtige Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989 bei.
Jubel bricht aus, als sich der rot-weiße Schlagbaum wie ein Schleusentor öffnet. Hunderte Menschen überrennen den Berliner Grenzübergang an der Bornholmer Straße. Es gibt kein Halten mehr. "28 Jahre", schreit jemand aus der Menge in Richtung Fernsehkameras. So lange teilte die Mauer Berlin, Deutschland und die Welt. Doch diese Herbstnacht des 9. November 1989 besiegelt das Ende des Eisernen Vorhangs und des Externer Link: Kalten Kriegs.
Das Fundament der SED-Herrschaft bröckelt bereits seit Monaten. Am 9. November kommt das Zentralkomitee (ZK) der SED zusammen. Es ist der zweite von drei Sitzungstagen. Dabei ist auch die hohe Westverschuldung Thema. Es fallen klare Worte: Die DDR habe seit Jahren über ihre Verhältnisse gelebt und sich etwas vorgemacht. Auch wegen der seit Wochen anhaltenden Massendemonstrationen in Leipzig und Ost-Berlin steht der SED-Machtapparat unter starkem Druck. Dazu kommen die vielen Menschen, die der DDR den Rücken kehren. Nach dem Massenexodus über Ungarn reisen DDR-Bürger nun auch über die Tschechoslowakei in die BRD.
Hektisch ausgearbeitete neue Reiseregelungen
Aus diesem Grund feilen am Vormittag des 9. November Vertreter der Ministerien des Innern und der Staatssicherheit an einer neuen Reiseregelung. Neben eines Absatzes für die ständige Ausreise einigen sie sich dabei auch auf einen Abschnitt für Privatreisen.
Damit soll verhindert werden, dass alle Reisewilligen den Status von Ausreisenden erhalten. "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschafts- verhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt," so der entsprechende Passus. Reisen und Ausreisen sollen auch weiterhin beantragt werden. Daher rechnet die Staatssicherheit mit einem Ansturm auf die Genehmigungsbehörden.
Am Nachmittag trägt der neue Generalsekretär Egon Krenz auf der ZK-Tagung dieses Reise-Papier vor. Nicht alle ZK-Mitglieder sind anwesend, auch Günter Schabowski fehlt. Das SED-Politbüro-Mitglied bereitet eine Pressekonferenz vor, in der er die internationalen Medien über den Sitzungstag des ZK informieren will. Als Krenz auf der ZK-Sitzung die neue Reiseregelung vorgelesen hat, kommen aus dem Forum nur wenige Anmerkungen. Offensichtlich ist den Teilnehmern die Tragweite des Dokuments nicht sofort bewusst. Vielleicht blicken sie auch nur auf die Überschrift, in der nur etwas von "ständiger Ausreise" steht und nichts von "Privatreisen". In Kraft treten soll die Bestimmung erst am 10. November. Damit bleibe genug Zeit, die zuständigen Grenzbehörden rechtzeitig zu informieren - so der Plan. Doch die Ereignisse am Abend des 9. November verlaufen nicht nach Plan.
Um 18 Uhr beginnt Schabowski mit seiner Pressekonferenz. Es dauert etwa eine Stunde bis er die neue Reiseregelung anspricht. Vor laufenden Kameras liest er das Exemplar des Ministerratsbeschlusses vor, das Krenz ihm im Vorbeigehen ausgehändigt hat. Auf Nachfrage erklärt Schabowski, dass die Regelung nach seiner Kenntnis "sofort, unverzüglich" in Kraft trete. Es dauert nur wenige Minuten bis die Neuigkeit über die Ticker läuft. Die Eilmeldung der Nachrichtenagentur AP trägt die Überschrift: "DDR öffnet Grenzen". Mit der gleichen Schlagzeile beginnt um 20 Uhr auch die Tagesschau.
Daraufhin eilen Tausende Berliner aus Ost und West zu den Grenzübergängen. Wegen der verfrühten Bekanntgabe der neuen Reiseregelung fehlen den Grenzsoldaten klare Anweisungen.
Auch am Grenzübergang Bornholmer Straße versuchen die Beamten zunächst, die Menschen auf den Morgen zu vertrösten. Doch als die Menge größer und lauter wird, lassen sie einige gegen Vorlage des Ausweises passieren. Wenig später zeigt sich, dass die Grenzer dem Ansturm schlicht nicht gewachsen sind. Zudem werden die "Tor auf, Tor auf"-Rufe immer lauter. Eine halbe Stunde vor Mitternacht entscheiden die Beamten die Kontrollen einzustellen und die Grenze zu öffnen. Jubel bricht los und Tausende Menschen rennen über die Brücke nach West-Berlin. Dort werden sie begeistert begrüßt. An anderen Stellen klettern Menschen auf und über die Mauer, beispielsweise am Brandenburger Tor, wo sich vor allem Westberliner versammeln.
Die Bonner Republik wird von den Ereignissen weitgehend überrascht. Zwar forderte Bundeskanzler Helmut Kohl die DDR-Führung am Vortag noch zu grundlegenden Reformen auf. Doch am 9. November ist er zu Besuch in Polen und im Bundestag herrscht Routine. Die Parlamentarier debattieren über die Förderung des Vereinswesens, als im Plenum Gerüchte die Runde machen, "etwas" sei passiert in Berlin. Gegen 20.20 Uhr wird die Sitzung unterbrochen und die Abgeordneten informiert. Nach einer Regierungserklärung und einer kurzen Debatte erheben sich die anwesenden Parlamentarier und singen die Nationalhymne.
In Berlin stehen, wie der Historiker Hans-Hermann Hertle in seinem Buch "Chronik des Mauerfalls" schreibt, zwei Minuten nach Mitternacht alle Grenzübergänge zwischen den beiden Stadthälften offen, aber auch vor den Übergängen an der innerdeutschen Grenze stauen sich inzwischen Trabbi-Kolonnen, um die Grenzen zu passieren. Zu diesem Zeitpunkt lassen sich viele Berliner auch nicht mehr davon abbringen, die Mauer am Brandenburger Tor zu besteigen. Sektkorken knallen, es wird gejubelt, Grenzer legen ihre bisher übliche, "verordnete" Strenge ab. In der Nacht vom 9. auf den 10. November spazieren Berliner aus Ost und West schließlich wieder durch das Brandenburger Tor. Dort wird zeitweise sogar getanzt. Das Symbol für die Teilung der Stadt wird zum Symbol des Zusammenwachsens und im Dezember 1989 offiziell passierbar.
In den Folgetagen reist der Strom westreisender DDR-Bürger nicht ab, weder in Berlin noch an der innerdeutschen Grenze. Eilig werden zahlreiche neue Übergänge geschaffen. Und zahlreiche Menschen beginnen damit, sich als Souvenirs kleine Brocken aus dem Beton der Berliner Mauer herauszuschlagen. Niemand hindert sie daran - 28 Jahre nach ihrem Bau am 13. August 1961 ist die Mauer obsolet geworden.
Heute erinnern nur noch wenige erhalten gebliebene Mauerreste an ihre Existenz, die umfangreichsten an der Externer Link: Gedenkstätte Berliner Mauer entlang der Bernauer Straße. Dort wird alljährlich am 13. August und 9. November ihrer Opfer gedacht.
Nicholas Brautlecht lebt als freier Journalist in Berlin und ist Mitglied des Netzwerks für Osteuropa-Berichterstattung "n-ost". Seine Schwerpunkte sind Außenpolitik, Kultur sowie Gesellschaft und Soziales. Er schreibt unter anderem für die Berliner Zeitung, Frankfurter Rundschau, Reuters und Spiegelonline. Sein Text über die Mauer am 9. November 1989 erschien 2009, er wurde 2018 von Holger Kulick ergänzt.
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