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Analyse: Die Wirtschaft der "Festung Russland" – kurzfristig erfolgreich im Corona- und Sanktionsumfeld, langfristig mehr Stagnation und Sanktionen | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die Wirtschaft der "Festung Russland" – kurzfristig erfolgreich im Corona- und Sanktionsumfeld, langfristig mehr Stagnation und Sanktionen

Gunter Deuber

/ 10 Minuten zu lesen

Russland konnte die Covid-19-Krise wirtschaftlich gut abfedern, u.a. durch eine expansive Fiskalpolitik. Doch die Realeinkommen und das Wirtschaftswachstum stagnieren.

Die staatszentrierte, international sanktionierte russische Wirtschaft stagniert de facto seit Jahren, bisherige staatliche Investitionsprogramme haben keine wachstumsfördernde Wirkung entfaltet. (© picture-alliance, Bildagentur-online/Masci-AGF)

Zusammenfassung

In den Jahren 2020 und 2021 konnte Russland "taktische" wirtschaftspolitische Erfolge verbuchen. Gesamtwirtschaftlich wurde die COVID-19-Krise gut abgefedert, nicht zuletzt durch eine erstmal sehr expansive Fiskalpolitik. Zudem wurde die jüngste Verschärfung der US-Sanktionen an den Finanzmärkten gut verdaut; die "Festung Russland" war gut vorbereitet. Solche taktischen Erfolge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass wichtige Gründe für die (Einkommens-)Stagnation der letzten Jahre auch das Wirtschaftswachstum in den kommenden Jahren dämpfen werden.

Geringe Komplexität, Exporte und Fiskalpolitik als Krisendämpfer

Gesamtwirtschaftlich ist Russland gut durch das Jahr 2020 gekommen und auch zufriedenstellend ins Jahr 2021 gestartet. Mit einem Rückgang von 3 % ist das Bruttoinlandsprodukt 2020 weniger stark eingebrochen als die Weltwirtschaft und nur etwa halb so stark wie in Westeuropa. Bemerkenswert ist dieses Ergebnis im Lichte einer opportunistischen Zusammenarbeit mit der OPEC im Jahr 2020. Die heimische Ölproduktion wurde im Rahmen des OPEC-plus-Abkommens gedrosselt. Die Ölproduktion fiel im Jahresvergleich um 8,5 % im Jahr 2020, was das BIP-Wachstum um 1,0 Prozentpunkt senkte. In der Summe ist der geringe Wirtschaftseinbruch vor allem auf Wirtschaftsstrukturen, wirtschaftspolitische Reaktionen und ein besser als erwartetes globales Umfeld zurückzuführen. Die relativ geringe Komplexität der russischen Wirtschaft mit einem geringen Anteil an Dienstleistungen, die empfindlich auf Covid-19-Restriktionen reagieren, hat einen tieferen Wirtschaftseinbruch verhindert. Zudem ist Russlands Wirtschaft eher moderat international integriert; der Außenhandel liegt seit etwa einer Dekade mehr oder weniger konstant bei 50 % des BIP. In Westeuropa liegt man hier eher bei 90 % des BIP, in den USA oder China liegt der Außenhandelsanteil bei 20 bzw. 30 % des BIP. Außerdem stützten die sich schnell erholenden Rohstoffexporte die Wirtschaft, während die Importe drastisch zurückgingen. Gewisse Einbußen im Öl- und Gasexport konnten durch steigende Gold und Weizenlieferungen kompensiert werden. Zudem trugen die Nettoexporte deutlich zum Zuwachs an Wirtschafsleistung bei. Da die Exporte im Jahr 2020 nur um − 5,1 % im Jahresvergleich zurückgingen und die Importe zugleich um − 13,7 % einbrachen, trugen die Nettoexporte mit + 1,4 Prozentpunkten zum BIP-Wachstum bei. Für 2021 scheint sich kurzfristig eine ansehnliche Wirtschaftserholung nach der Pandemie abzuzeichnen, mit einem BIP-Wachstum um 2 – 3 %. Einige sehr zuversichtliche Prognostiker erwarten gar BIP-Wachstumsraten im Umfeld von 5 % in 2021/2022, ein Szenario, das angesichts der prognostizierten Zunahme der Importe sowie der chronischen strukturellen Schwächen und Engpässe eher fraglich erscheint. Nach 2021 wird sich das Wirtschaftswachstum wahrscheinlich wieder näher am Potenzialwachstum um 1,5 bis 2 % einpendeln.

Neben den skizzierten strukturellen Faktoren war vor allem eine bemerkenswerte Wende in der Fiskalpolitik erkennbar. Nach anfänglichem Zögern wurden im Jahr 2020 proaktive fiskalische Gegenmaßnahmen gesetzt, was in einem föderalen Haushaltsdefizit von 4,5 % des BIP resultierte. Zum ersten Mal reagierte die Regierung auf eine Krise, indem sie die Staatsausgaben erhöhte und vorübergehend die Fiskal-Ölpreisregel aussetzte. Zu Beginn der Krise wurde zuerst noch ein zögerliches Sozialausgabenpaket von 2,1 Billionen Rubel (knapp über 30 Milliarden Euro) bzw. knapp über 2 % des BIP angekündigt. Im Juni folgte dann eine substanzielle Aufstockung der fiskalpolitischen Antwort im Rahmen des "Nationalen Plans zur wirtschaftlichen Erholung". Mit diesem Programm will die Regierung die Wirtschaft nachhaltig unterstützen, nachdem der COVID-19-Schock abgeklungen ist. Es läuft über 18 Monate, kostet 6,4 Billionen Rubel (ca. 90 – 100 Mrd. Euro) und besteht aus über 500 Einzelmaßnahmen und Programmen. Alles zusammengenommen sind damit Summen von 7 – 9 % des BIP zur Krisenbewältigung mobilisiert worden. Neben Einmalzahlungen und Maßnahmen zur Einkommensstützung überschneiden sich einige der Maßnahmen im Erholungsplan mit den bereits angekündigten "Nationalen Projekten".

Auch im internationalen Maßstab ist die fiskalpolitische COVID-19-Krisenantwort Russlands durchaus beachtlich, aber sie war alternativlos. Im Lichte der enttäuschenden Einkommensentwicklung der letzten Jahre musste sich der Kreml in dieser Krise seiner sozialpolitischen Verantwortung stellen. Das Einkommensniveau in Russland stagniert seit 2010 de facto etwa in Relation zum Einkommen in Westeuropa und beträgt (zu Kaufkraftparitäten) ca. 60 % des Einkommensniveaus in der EU. Seit 2010 hat das zweitärmste EU-Land, Rumänien, zu Russlands Einkommensniveau aufgeschlossen bzw. es überholt! Eine weitere Austeritätspolitik hätte nach der Einkommenstagnation der letzten Jahre aller Voraussicht die Systemunzufriedenheit in Russland in der COVID-Krise deutlich zu Tage gebracht. Zumal die Real-Einkommensrückgänge sich auf breiter Basis vollziehen und nicht nur ärmere Bevölkerungsschichten bzw. die Bevölkerung in den Regionen betreffen. Neben der skizzierten Einkommensentwicklung im Land wäre eine Austeritätspolitik aber auch aus internationaler Perspektive der heimischen Bevölkerung kaum vermittelbar gewesen.

Interessanterweise setzt die Regierung neben sozialer Unterstützung bzw. der Stabilisierung der Einkommensentwicklung und Sicherung der Beschäftigung auch auf eine Liberalisierung und Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt. Auch sollen kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) von Steuererleichterungen, Zuschüssen und Subventionen profitieren. Außerdem gibt es im "Nationalen Plan zur wirtschaftlichen Erholung" einen Abschnitt zu Investitionen, digitaler Wirtschaft und Importsubstitution, der weitgehend die Ziele der Nationalen Projekte wiederholt. Große Investitionsprojekte bleiben damit ein wichtiger Teil des Konjunktur- und Entwicklungsplans. Sobald die Auswirkungen von Covid-19 abklingen, bleibt das Herzstück des Strukturreformprogramms der Regierung das ca. 25 Billionen Rubel schwere Programm der "Nationalen Projekte", das die wichtigsten Entwicklungsziele für den Zeitraum 2019 – 2024 in den Bereichen Soziales, Wirtschaft und Umwelt umfasst. Allerdings werden die Zielsetzungen für 2024 eher erst bis 2030 als umsetzbar erachtet. Damit wird deutlich, dass das staatsgesteuerte Programm der "Nationalen Projekte" eher im Zeitverzug ist und die COVID-Krise eher als guter Anlass dient, die Implementierung zu strecken. Insofern wurde nun taktisch gegengesteuert, es wurde auf kurzfristige Ausgabenprogramme und Unterstützung auf der mikroökonomischen Ebene gesetzt, da substanzielle staatliche Infrastrukturprogramme bis dato weniger gut wirken.

Taktische fiskalische Neuausrichtung, aber die "Festung-Russland"-Strategie nicht zu den Akten gelegt

Eine gewisse fiskalische Unterstützung wird es auch in den kommenden Jahren geben – besonders auch im Jahr 2021. Der Nationale Wohlstandsfonds (NWF) wird aufgrund vorübergehender Änderungen der Fiskalregeln nicht wieder aufgefüllt; eine Wiederauffüllung könnte frühestens im Jahr 2022 wieder aufgenommen werden. Die liquiden Mittel des NWF sollen mit dem Fokus auf Infrastrukturprojekte investiert werden, da ihre Summe den Schwellenwert von 7 % des BIP überschreiten. Daher werden weiterhin politisch gewollte Wachstumsimpulse gesetzt. Das ist eine Änderung im Vergleich zur Vorkrisen-Stagnationsphase. Zudem wurden mit dem zuvor skizzierten Aufbauplan im Kontext des Wahlkalenders 2021 Erhöhungen der Sozialausgaben und Einmalzahlungen angesetzt. Allerdings betonte der russische Finanzminister jedoch umgehend, dass diese Unterstützungsmaßnahmen keine zusätzliche und substanzielle Schuldenemission und Finanzierung erfordern. Insofern wird auch hier deutlich, dass man die mögliche Limitation durch internationale Sanktionen nicht ausreizen will. Langfristig ist keine weitere Erhöhung der Staatsschuldenquote zu erwarten.

Hier ist zu betonen, dass die lange erwartete Verschärfung der internationalen Sanktionen gegen Russland in den letzten Wochen, insbesondere die US-Finanzsanktionen, gut verkraftet wurden. Die Auswirkungen auf die Finanzmärkte und den Rubel blieben überschaubar, was mit der "Festung-Russland"-Strategie, die seit 2014 verfolgt wird, zu tun hat. Man hat sich auf eine Verschärfung der Sanktionen in vielen Dimensionen vorbereitet. Die Auslandsschulden wurden getilgt, die Devisenreserven sind weiter gestiegen und übersteigen die Auslandsschulden in absoluten Zahlen. Die Positionen westlicher ausländischer Banken gegenüber Russland stagnieren seit Jahren, was Kapitalflussrisiken ebenfalls reduziert. In begrenztem Ausmaß hat der russische Staat in den letzten Jahren und auch zuletzt noch Geld an den internationalen Finanzmärkten aufgenommen, aber dies dann in Euro und nicht US-Dollar. Alles in allem ist Russland damit weniger abhängig vom internationalen Finanzmarkt und in gewissem Maße auch vom US-Dollar und internationalen Zahlungsstrukturen. Zudem neigt die Russische Zentralbank im Zweifel eher zu einer restriktiven Geldpolitik, um Abwärtsrisiken für den Rubel zu begrenzen. Außerdem ist der russische Bankensektor nach der Restrukturierung der letzten Jahre in einer soliden Verfassung. Staatsanleihen machen nur 7 % der Gesamtaktiva aus, verglichen mit 15 – 20 % in anderen Märkten. Daher könnten die lokalen Banken die sanktionierten Staatsanleihen gut absorbieren – falls nötig.

Vor der jüngsten Sanktionsverschärfung hatten sich am Finanzmarkt die Spekulationen etwas verselbständigt, teils auch unter internationalen Investoren. Insofern handelte der Rubel zeitweise 10 – 15 % unter seinem Niveau, was an sich durch Fundamentaldaten gerechtfertigt wäre. Angesichts dieser "Sanktionsblase" erholte sich der Rubel nach der Sanktionsrunde im April sogar erkennbar.

Ausblick auf die Sanktionspolitik: Auf Dauer ausgelegt, in Zukunft mehr

Die jüngste Verschärfung der Sanktionen durch die USA war gut telegrafiert. Am wichtigsten für die Finanzmärkte ist, dass die Maßnahmen zwar den Kauf von Rubel-denominierten Staatsanleihen auf dem Primärmärkt (also direkt vom Staat) verbieten, aber dies "nur" für US-Finanzinstitute. Zuvor war es (seit 2019) für US-Banken sanktioniert, Russlands Staatsanleihen in Fremdwährung auf dem Primärmarkt zu kaufen. Allerdings hat dies den internationalen Handel dieser Wertpapiere am Sekundärmarkt (also von Investoren untereinander) nicht drastisch beeinflusst. Die nun vollzogene vollständige Sanktionierung von allen russischen Staatsanleihen für US-Banken auf dem Primärmarkt ist ein starkes politisches Signal, die praktische Relevanz ist begrenzt. Die lokalen Staatsbanken haben genügend Kapazität, die Emission von Staatsanleihen zu absorbieren. Und solange die sanktionierten Wertpapiere von US-Banken an den Sekundärmärkten gehandelt werden können, sind die Sanktionsauswirkungen begrenzt. Außerdem sind die Sanktionsmaßnahmen im Bereich der Staatsanleihen auf US-Finanzinstitute beschränkt, was die Auswirkungen auf US-Investoren (also Nicht-Banken wie Pensionsfonds etc.) oder auch Nicht-US-Banken in Summe geringhält. Bislang wird hier keine Extraterritorialität angestrebt. Insofern ist es nicht überraschend, dass auch die Russische Zentralbank, trotz harscher diplomatischer Reaktionen auf die US-Finanzmarktsanktionen, klar Stellung bezog. Die Gouverneurin der Russischen Zentralbank Elvira Nabiullina brachte die geringe unmittelbare Auswirkung der Verschärfung der Sanktionen auf die Realwirtschaft und die Finanzmärkte klar zu Sprache – auch wenn die Notenbank wegen der Sanktionen eine vorsichtige Zinspolitik verfolgt.

Bislang haben die USA von weitreichenden Maßnahmen, wie z. B. dem Verbot des Sekundärmarkthandels oder dem Ausschluss russischer Unternehmen aus dem internationalen SWIFT-Zahlungssystem oder von US-Dollar-Zahlungen, abgesehen. Schon die Primärmarktsanktionen als Teil des jüngsten Sanktionspakets waren sogar etwas überraschend. Dieser Schritt war vor allem mit der Dringlichkeit begründet, ein klares Signal nach der geopolitischen Eskalation, ausgelöst durch Russlands groß angelegte Manöver an der Grenze zur Ukraine, zu senden. Allerdings ist das Risiko einer Ausweitung der Sanktionen bei Staatsanleihen damit nun gestiegen, da dies dann der nächste weitere Schritt ist. Auch wenn die US-Sanktionen bisher moderat waren, ist eine weitere, graduelle und erkennbare Verschärfung im Sinne der zuvor skizzierten Optionen nicht auszuschließen. Aus US-Perspektive sind die derzeitigen maßvollen Sanktionen, kombiniert mit dem Bemühen im Dialog zu bleiben, darauf ausgerichtet eine Eskalation zu vermeiden. Es sieht jedoch nicht so aus, als ob dieser Ansatz in Russland gut verstanden wird. Hinzu kommt, dass es in den USA erheblichen politischen Druck in Richtung einer stärkeren Sanktionierung gibt. Die jüngsten Schritte werden nur als "erster Schritt" in die richtige Richtung gesehen; einige Beobachter stellen klar, dass die Sanktionen offenbar zu leicht waren. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass Sanktionen gegen Russland auf den internationalen Märkten durch die USA ein (indirektes) politisches Signal in Richtung China sind.

Insgesamt bleibt das Risiko für weitere westliche und vor allem US-Sanktionen hoch, es besteht keine Aussicht auf eine Lockerung. Wir befinden uns derzeit im siebten Jahr der umfassenden westlichen Finanzsanktionen gegen Russland, mit Verschärfungen vor allem in den Jahren 2019 und 2021. Die Empirie von "erfolgreichen" westlichen Sanktionsregimen, d. h. solchen, bei denen eine Verhaltensänderung der sanktionierten Partei erkennbar war, deutet auf eine Dauer von sieben bis zehn Jahren hin. Ansonsten dauern Sanktionen meist viel länger, manchmal über Jahrzehnte an. Im Falle Russlands ist zu erwarten, dass die westlichen Sanktionen mindestens bis weit in die 2020er Jahre, möglicherweise bis in die 2030er Jahre bestehen werden. Dieses Szenario impliziert, dass es mehr Risiken für eine ad-hoc und moderate Eskalation gibt als Möglichkeiten zur Deeskalation. Daher wird die wirtschaftspolitische "Festung-Russland"-Strategie wahrscheinlich fortgesetzt werden, obwohl sie für Wachstum und Wohlstand nicht förderlich ist. Hinzu kommt, dass in Russland ein bekanntes "Sanktionsparadoxon" am Werk zu sein scheint: Die Regierung, das Militär und der Sicherheitsapparat werden gestärkt, da diese Kreise den Sanktionen besser standhalten können als private Unternehmen. Damit dominieren dann aber auch Bestandswahrungsinteressen die Wirtschaftspolitik; der Appetit auf umfassende Strukturreformen ist gering.

Wir sehen begründet durch zahlreiche Faktoren erstmal ein teil-stabiles Gleichgewicht in den amerikanisch-russischen Beziehungen voraus. Derzeit sehen wir ein ausdrückliches Bekenntnis zu Rüstungskontrollgesprächen; der Kreml bleibt offen für eine Zusammenarbeit auf diesem Gebiet. Hier hat der Kreml erreicht, was er will: Die USA sprechen mit Russland auf Augenhöhe. Solange Russland seine geopolitischen Karten gut ausspielt und der Kreml seinen makrofinanziellen Spielraum richtig einschätzt – wie er es normalerweise tut – erwarten wir nicht, dass die USA komplett erdrückende Sanktionen verhängen werden. Aber wohldosierte geopolitische Provokationen oder Überraschungen sowie harte Maßnahmen zur Eindämmung der Opposition sind aber immer möglich, und damit weitere gesichtswahrende, aber eher kosmetische westliche Sanktionen. Für solche Szenarien ist Russland aber gut vorbereitet und kann zugleich die chronische Wachstumsschwäche auf das westliche Sanktionsumfeld schieben.

Taktische Fiskalpolitik ändert nichts am Stagnationsausblick

Wie skizziert konnte Russland einige kurzfristige "taktische" wirtschaftspolitische Erfolge verbuchen. Vor allem wurde die Fiskalpolitik kurzfristig deutlich expansiver gestaltet. Dies sollte jedoch nicht von den schwierigen mittelfristigen Aussichten ablenken. Die staatszentrierte, international zunehmend wenig integrierte und sanktionierte russische Wirtschaft stagniert de facto seit Jahren, bisherige staatliche Investitionsprogramme haben keine wachstumsfördernde Wirkung entfaltet. Substanzielle Strukturreformen sind mit dem "Nationalen Plan zur wirtschaftlichen Erholung" nicht verbunden, auch wenn hier nicht nur auf Großunternehmen und staatliche Investitionsprogramme gesetzt wird. Die Realeinkommen stagnieren oder sinken seit 2014, auch wenn 2021 eine leichte Trendwende eintreten könnte. Allerdings gibt es auch schon wieder Risiken für dieses Szenario. Aktuell sehen wir einen deutlichen Anstieg der (Lebensmittel-)Inflation. Nun muss die Zentralbank schon wieder Gegenmaßnahmen ergreifen, um den Inflationsdruck zu begrenzen und den Rubel weiter abzusichern. Letzteres ist auch Teil der "Festung-Russland"-Strategie, die in der Summe kein wachstumsfreundliches Umfeld bedeutet. Die "Festung-Russland"-Strategie schafft auch nicht unbedingt Vertrauen bei ausländischen Wirtschaftsakteuren. Vielmehr ist eine Stagnation des ausländischen Engagements in der russischen Wirtschaft zu beobachten, während sich die russischen Lieferketten zunehmend nach innen richten.

Fussnoten

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Gunter Deuber ist Chefökonom bei der auf Osteuropa und Russland spezialisierten "Raiffeisen Bank International AG" (RBI AG) in Wien, eine der größten Auslandsbanken in Russland. Gunter Deuber wurde 2019 für das IVLP-Programm (International Visitor Leadership Program) des US-Außenministeriums nominiert und hatte die Möglichkeit, politische Entscheidungsträger und Regulierungsbehörden in den USA persönlich zu treffen. Der vorliegende Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Autors und nicht notwendigerweise die Ansicht der RBI AG wieder.